Kritik

Übersetzen und verzweifeln in der Banlieue

Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha
Hamburg

INTERNATIONALER LITERATURPREIS 2016 für Shumona Sinha & Lena Müller

Vorsicht, Verbrennungsgefahr! Schlägt man dieses Buch auf, verhält es sich wie ein technisch nicht ganz ausgereifter Handwärmer: Es entwickelt umstandslos eine Hitze, die nicht lange auszuhalten ist. Zwei, drei Kapitel, und das Gehirn fängt an zu glühen. Die reaktiven Zutaten sind Hass und Wut und Verzweiflung, Begehren, Scham, Einsamkeit, Schadenfreude und ab und zu die Sehnsucht nach Erlösung, nach Sinn. Es ist ein Buch, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, weil es von all diesen Gefühlen viel zu viel hat. Doch es funktioniert, vielleicht, weil es um ein sehr emotionales Thema geht: Die Asyldebatte.

Wer in Frankreich ein besseres Leben sucht, muss lügen. Er (und das ist hier die korrekte Geschlechtsangabe, weil die Antragsteller zum überwiegenden Teil Männer sind) muss sich eine Story zurechtlegen, die ihn als Angehörigen einer verfolgten politischen Partei, Volksgruppe oder Religion ausweist. Oft genug besitzen die „Männer mit der lehmfarbenen Haut“, die in einem gesichtslosen Hochhaus irgendwo in einer Pariser Banlieue bei der Asylbehörde vorsprechen, nicht die Bildung und nicht die Phantasie, sich eigene Leidensgeschichten auszudenken. Diese Geschichten werden ihnen von ihren Schleppern für Bares verkauft, und die Ich-Erzählerin dieses schmalen Bandes hat die Aufgabe, sie ins Französische zu übersetzen. Sie hat selbst eine „schokoladenfarbene“ Haut, die sie nach Feierabend gern über die weiße Haut eingeborener Franzosen „schürft“. Nur während ihrer sexuellen Exzesse vermag sie die Aggressivität ihrer Klienten zu vergessen, ihre Weinerlichkeit, ihr Gestammel, ihre Frauenverachtung und ihre Unterwürfigkeit. Ihr Körper gewährt ihr kurz Herrschaft über das andere Geschlecht, von dem sie sich sonst von früh bis spät anwinseln, belügen, verlachen lassen muss. Kein Wunder, dass sie, die selber zugewandert ist, sich nach und nach in die blauäugige Beamtin verliebt, mit der sie zusammenarbeitet:

Eines Tages spürte ich ihren Blick in meinem Nacken, wie ein blaues Licht, einen zögerlichen Sonnenaufgang, dieser Blick war die Freude selbst, die mich in ein blaues Leuchten hüllte und mich begleitete.

Die wirkliche, erfüllte Liebe zu dieser Marianne, zu Frankreich selbst, ist für Zuwanderer, auch wenn sie es in den Staatsdienst geschafft haben, aber völlig unmöglich. Selbst wenn sie nicht mehr in den Zweizimmerwohnungen, die sich bis zu fünfzig Menschen teilen, hausen müssen, weicht die Verlassenheit nicht von ihnen. Nach und nach verlieren sie die Bindungen an die Heimat, ohne neue zu gewinnen. Sie lösen Eheverträge mit gefälschten Dokumenten auf, um die zurückgebliebene Familie nicht mehr unterstützen zu müssen und tun alles dafür, ein Kind mit einer Französin oder einem Franzosen zu zeugen, weil sie wissen, dass nur dieses Kind sie dauerhaft „beschützen“ kann. Sie werden zu verschlagenen Lügnern und Speichelleckern, weil ein Asylrecht aus dem letzten Jahrhundert von ihnen verlangt, sich als politisch Verfolgte auszugeben.

Am Ende (oder eigentlich zu Beginn des Buches), als die Erzählerin es Leid ist, als „Mülltonne“ missbraucht zu werden, zieht sie einem Mann ihrer Hautfarbe in der Metro eine Flasche über den Kopf, selbstverständlich eine Weinflasche, denn wir sind ja in Frankreich. So landet sie auf dem Polizeirevier, wo ihr ein Kommissar den Grund für ihre gewalttätige Anwandlung zu entlocken hofft. Ohne diese Rahmenhandlung wäre "Erschlagt die Armen" wohl nicht als Roman zu verkaufen. Der fragende Kommissar ist den allermeisten Kapiteln wie nachträglich angeklebt, als Tribut an eine Form, die der Text trotzdem nicht zu füllen vermag. Es handelt sich nicht um einen Roman, sondern um ein Pamphlet der Verachtung und der Verzweiflung, eine Anklageschrift gegen das das eigene moralische Elend und einen Appell für ein Asylrecht, das den Menschen nicht dazu zwingt, sich selbst zu verleugnen. Ungeheuerlich, wie maßlos oft Shumona Sinha Bild neben Bild setzt, wie sie eine sprachliche Energie freisetzt, die nicht nur das Hirn des Lesenden aufheizt, sondern ihm auch noch Finger und Augenbrauen versengt. Da ist nichts Geregeltes, Überdachtes, da gibt es nur diese Kettenreaktion der Wörter, die zu einer übergroßen, in der gegenwärtigen Literatur völlig unüblichen Hitze führt. Und diese Hitze tut gut, sehr gut, weil sie so anders ist als die kalte Arroganz oder die affektierte Gutherzigkeit, mit der den Armutsmigranten sonst so oft begegnet wird.

Gäbe es nicht Michail Schischkin, so könnte man Sinhas Buch als eine Ausnahme betrachten, als den Erlebnisbericht einer überreizten bis überdrehten jungen Frau, die drei Jahre lang bei der französischen Asylbehörde gearbeitet hat. Ihre Übersetzerkarriere endete erst, als "Erschlagt die Armen!" erschien und sie sofort gefeuert wurde. Auch der gebürtige Russe Michail Schischkin hat in einem derartigen Amt sein Brot verdient, allerdings nicht in Frankreich, sondern in der Schweiz. Ganz wie Sinha nimmt er konkrete Situationen aus der Asylbehörde als Anlass für sein großes Werk "Venushaar". In diesem Buch leidet einer der Protagonisten ganz genauso an der Unmöglichkeit, eine adäquate Übersetzung für Geschichten zu finden, die allein schon deswegen lächerlich klingen, weil sie von vornherein auf ein anderes, meist völlig unbekanntes Werte- und Kultursystem zugeschnitten worden sind. Anders als Sinha nutzt Schischkin aber die freiwerdende Energie zu einer großen erzählerischen Reflexion über Krieg, Flucht und Vertreibung, und das auf höchstem formalem Niveau.

Sinha hat gewiss nichts Ähnliches vorgehabt, wäre aber doch gut beraten gewesen, zumindest ein wenig erzählerische Ökonomie walten zu lassen. Neben der bereits erwähnten schlampigen Montage der Rahmenhandlung wäre es wohl ratsam gewesen, ab und zu Kapitel einzufügen, die dem Leserhirn ein wenig Abkühlung erlaubten. So nämlich teilt sich das Paris, in dem die Ich-Erzählerin lebt, lediglich als ein großer Hexenkessel mit, in dem

Leute … wie ein Haufen schmutziger Lumpen

brodeln. Zudem hätte sorgfältigere Metaphernarbeit dringend not getan. Wie soll zum Beispiel eine

Nacht, die zusammenbricht wie Sandbänke

aussehen? Wie haben wir uns Regen vorzustellen, der

über die Scheibe läuft wie Katzenhaare?

Derartige sprachliche Unschärfen sind so häufig, dass sie nicht der insgesamt sehr gelungenen Übersetzung von Lena Müller angelastet werden können.

Wahrscheinlich ist es Sinha gar nicht anders möglich, als in Bildern und immer weiteren Bildern zu denken, vielleicht sind es die Bilder an sich, die sie überhaupt erst zur Mitteilung befähigen.

Das Leben ist ein Monolog. Auch wenn man glaubt, ins Gespräch zu kommen, ist es nur das zufällige Zusammentreffen von zwei Monologen, die, vielleicht ein wenig verwundert, voreinander zum Stehen kommen

..., beginnt ein Kapitel, ein anders fängt mit -

Das Leben ist ein öffentliches Schwimmbad. Schmutzig und voller Eindringlinge

- an. Es ist der Zündfunke dieser Bilder, der Sinhas Phantasie in Brand setzt, der ihre Verzweiflung und ihre Wut zu einer sprachlichen Hitze steigert, die selbst noch dem Leser die Augenbrauen versengt.

Baudelaire, aus dessen Feder der Titel dieses Buches stammt, wäre stolz auf diese Französin bengalischer Herkunft gewesen, die 2013 ihr drittes Prosawerk vorgelegt hat. Ob es sich dabei um einen Roman handelt, darüber wird man im deutschen Sprachraum diskutieren können, sobald auch "Calcutta" übersetzt worden ist.

 

 

Shumona Sinha
Erschlagt die Armen!
Übersetzung:
Lena Müller
Edition Nautilus
2015 · 128 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-89401-820-7

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