Beyond the teacup
Den Namen Meret Oppenheim muss man gegebenenfalls googeln. Eines der ersten Bilder, die einem der Algorithmus dann serviert, setzt einen aber rasch auf den richtigen Erinnerungspfad: Das war doch die Künstlerin mit der Pelztasse und dem Frühstück-auf-Frauenkörper? Von der wir uns so halbwegs erinnern können, sie sei die eine - die einzige? - Surrealistin deutscher Zunge gewesen; Zeit Lebens (dh. bis 1985) zwischen Bern und Paris hin und her ... Was wir von dieser Meret Oppenheim da also in Händen halten, ist ein edition-suhrkamp-Büchlein im ansprechenden Schutzumschlag, mit einem komplizierten, aber vertrauenerweckend verrückten Titel - "Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich" verdankt sich übrigens dem Namen des für den Schutzumschlag verwendeten Ölgemäldes Oppenheims - und folgender editorischen Notiz oben auf der Impressumsseite:
Erstveröffentlichung der gesammelten Gedichte 1984 in der edition suhrkamp (Band 1232). Diese erweiterte Ausgabe folgt, neu durchgesehen, der 2002 im Hauptprogramm des Suhrkamp Verlags erschienenen.
Wieder so ein Buch, bei dem es in der Rezension nicht um Gefallen oder Nichtgefallen, um Kanonisierungstauglichkeit, um den Impuls-auf-die-Diskurse und so weiter gehen wird können... Alles dieses ist schon entschieden, schon (sagen wir: mit pelzigem Gedeck) abgefrühstückt.
Wir könnten uns statt dessen ja mit der Frage befassen, was zu der Neuauflage geführt hat - war der Band im Hauptprogramm vergriffen? Hatte, was nicht der schlechteste Grund wäre, jemand bei Suhrkamp einfach Lust, sich mal wieder ausgiebig mit Oppenheim zu befassen? Im Zusammenhang mit Fragen dieser Art - die sub specie aeternitatis ja eigentlich egal sein sollten - gibt es allerdings einen Minuspunkte zu monieren: Die Zusammenschau des umfangreichen Nachworts der Herausgeberin Christine Meyer-Thoss ("Innerhalb des Rätsels"), der informativen Bemerkungen "Zu dieser Ausgabe" und der biographisch-rezeptionsgeschichtlichen Notizen über Meret Oppenheim selbt mit der zitierten Notiz im Impressum verwirrt den Leser, der es genau wissen will, mehr, als sie Klarheit stiften würde. Unklar bleibt nämlich: Ist "diese Ausgabe", um die es auf Seite 197 ff geht, die von 2002 oder von 2015? (Die "Biographie" überschriebene Übersicht ist jedenfalls um Ereignisse in den Jahren 2006, 2007 und 2013 erweitert worden.)
Statt sich in jener Sorte Datierungsfragen zu verlieren, die aufzuwerfen ohnehin fast nur Fachgermanisten einfallen wird, kann man das ganze Büchlein genauso gut als "exotischen" Fremdkörper umstaunen: als Literatur, wie sie derzeit eher nicht geschrieben (und wenn, dann ganz sicher nicht im Großverlag gedruckt) wird; als Literatur mit extra-vielen Tangenten zur Welt der bildenden Kunst; als Hyrbrid von Publikumsliteratur, Ausstellungskatalogtext und Werkstattgespräch... Wenn wir "Husch, husch ..." solchermaßen exotistisch rezipieren, dann wird zumindest meine Aufmerksamkeit besonders vom ersten Abschnitt des Bandes gefesselt: von den Gedichten Oppenheims, nebst ein paar schwarzweiss-Abdrucken von Gemälden bzw. Grafiken. Warum? - Ich bin - und ich vermute, dass das nicht bloß Individualhabitus ist, sondern auf meinen Leib sich schreibender "Zeitgeist" (horribile dictu!) - gewohnt, mir die Geschichte der Literatur im Allgemeinen und der Lyrik im Speziellen so zu erzählen, dass die "Gegenwart" im allerweitesten Sinn um 1960 rum anfängt, für den deutschen Sprachraum mit genau 1975, mit "Westwärts I & II".
Wenn ich jedoch Meret Oppenheims Gedichte lese, drängt sich auf mehreren Ebenen der Eindruck auf, das, was ich als "Gegenwart" bezeichne, habe schon vor dem großen Krieg begonnen. Das macht ein eigenartiges Gefühl ...
Sommer
Der Löwe stützt seine Nase auf den Tischrand
Zu seiner Rechten und zu seiner Linken
Schweben zwei Nymphen
Die ihm mit weißen Federn die Wangen kitzeln
In seine Augen sind Käfige eingebaut
In den Käfigen lachen die Hexen
Mit ihren Fasanenaugen
Mit ihren Pfauenwimpern
Mit ihren weißen Haaren
Mit ihren steinernen Brüsten
Der Löwe lacht
Und sein goldenes Gebiß leuchtet
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
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