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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Die heimliche Seite der Welt

Hamburg

Beim Lesen der Erzählungen von Ulrike Schäfer fiel mir der Satz eines befreundeten Autors ein, der meinte, ein Schriftsteller sei für die von ihm erfundenen Personen verantwortlich. Denn in allen Geschichten Ulrike Schäfers spürt man die Empathie mit der sie ihre „Helden“ beschreibt. Wir begegnen verschiedenen Menschen, deren Alltag aus den Fugen geraten ist, die mit Krankheiten, Sehnsüchten oder mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen haben. Wie in der titelgebenden Geschichte des Erzähldebüts Nachts, weit von hier, die Angst vor dem Verirren als einzige Konstante das Leben der Protagonistin bestimmt, so suchen Menschen in anderen Geschichten ebenfalls nach einem inneren und äußeren Kompass.

Da gibt es beispielsweise Charly mit seinen windschiefen Sätzen, der als Diabetiker viel zu viel Süßigkeiten isst und den die Ich-Erzählerin erst als Freund erkennt, als es zu spät ist. Manchmal fügen sich Ereignisse unerwartet zusammen. In der Geschichte Reparaturen sieht eine Lehrerin alles von ihrer privaten heimlichen Seite der Welt und ist deshalb der Meinung, ihre Klasse 6b habe nur deshalb das Klassenzimmer verwüstet, damit der Vater eines Schülers es renovieren kann und dadurch neuen Lebensmut erhält. Ähnlich verhält es sich in der Geschichte Stück Land. Ein arbeitsloser Mann muss den Garten seiner kranken Vermieterin pflegen, wodurch er seine Mutlosigkeit verliert und wieder einen Job annimmt. Als er in der Wohnung der alten Frau in einer Schublade eine Geburtsmarke findet, denkt er das erste Mal über sie nach.

Er fragte sich, welche Schichten hinter Frau Hollers vordergründigem Leben lagerten, hinter ihrem Gartenleben und dem Beige-Tapeten-Leben, ob die Plakette ein Kind getragen hatte in einem früheren oder einem anderen Leben, in einem Leben, in dem es Alben mit Baby- und Kinderfotos gegeben hatte, Vatermutterkind und Frau Holler mit Säugling im Arm, jung und erschrocken.

Mehreren Erzählungen stellt sie zusammenfassende Abschnitte voran, in denen durch Unausgesprochenes zwischen den Zeilen Spannung erzeugt wird.

Jede Nacht träumt er vom Fluss. Taucht ein und gleitet in die Tiefe. Kälte verspürt er nicht, nur dieses Gleiten. Dunkelheit umschließt ihn. Dann unten, die Hand, beinahe leuchtend. Er greift nach ihr. Jede Nacht. Schweißnass erwacht er.

Und ein paar Zeilen weiter heißt es:

Sie weiß nicht, dass er das falsche Kind gerettet hat.

Erst am Ende der Erzählung erfährt der Leser, dass das richtige Kind seine ertrunkene Tochter gewesen wäre.

Ulrike Schäfer gelingt es, mit wenigen Sätzen die Atmosphäre der jeweiligen Geschichte hervorzurufen.

Wie beispielsweise in Nele, der Geschichte von einer Mädchenfreundschaft mit tragischem Ausgang.

Es ist wieder März, und ich weiß noch: derselbe Geruch auf dem Heimweg. Die keimenden Ahornsämlinge, die Streifen Licht und Schatten. Licht und Schatten den Hohlweg entlang. Unsere Finger in der feuchten Erde, dicht an dicht, wir gruben Sämlinge aus, trugen sie nach Haus jeden Frühling, wie zum ersten Mal…‘
Ich kann uns jetzt so sehen, Nele. Ewig hab ich gebraucht, uns wieder so zu sehen, so angstgefüllt bis zum Scheitel mit Anfang.

Auch in der Erzählung Tanzen braucht es nur wenige Sätze, um sich in die Stimmung der Protagonistin hineinzuversetzen.

Ich hasste Roland dafür. Die finnische Hütte war unser Zufluchtsort, und in diesem Sommer hatten wir Zuflucht nötiger, denn je.

Solche Beispiele lassen sich in jeder Geschichte finden. In Inselsommer beschreibt die Ich-Erzählerin einen Sommerurlaub, den sie mit ihrer Großmutter, ihrem im Rollstuhl sitzenden Bruder und dessen Pfleger verbracht hat. Da ist von Muscheln, Bollerwagen, Frühlingsquark, den man dort isst, die Rede. Oder vom Mädchenhaar der Großmutter, das sich nicht bändigen lasst und im Wind tanzt. Diese Erzählung ist gleichzeitig ein schönes Beispiel dafür, wie Ulrike Schäfer einzelne Situationen aus dem Leben ihrer Protagonisten erzählt – hier ein Sommerurlaub – und doch weit über die erzählte Zeit hinausgeht. Auch dieser Erzählung ist ein kurzer Abschnitt vorangestellt, in dem berichtet wird, dass die Eltern langsam und leise mit gesenkten Blicken sprachen. Die Erzählerin erinnert sich an die Pausen. Dann folgt der Satz Wir fuhren also ohne sie, der dem Leser die ganze Familientragödie vor Augen führt. Am Ende der Erzählung besucht die Erzählerin ihren Bruder im Heim. Seine Finger sind steif geworden, aber immer noch kann er in die Richtung deuten, in der er das Meer vermutet.

In Weite Wege ist die Hauptperson ebenfalls ein junger Mann, der in einem Rollstuhl sitzt, und auch hier wird dessen Situation in wenigen Wörtern dargestellt.

Die Straße ist vierspurig, doch das ist keines seiner Wörter. Groß denkt er: Die Straße ist groß.

Hier geht es darum, was es für einen behinderten Menschen bedeutet, wenn ihn eine ihm wichtige (geliebte) Pflegerin verlässt. Während er an sie denkt, fährt er immer tiefer in den mit Schnee und Eis bedeckten Park in der Nähe seines Heims hinein, bis sein Rollstuhl feststeckt und er nicht mehr wenden kann.

Die Geschichten über die Liebe handeln eher von deren zarten Seite. Gelinka zum Beispiel, die Protagonistin der letzten Erzählung in dem Band, entdeckt die Liebe anhand von dreißig Jahre alten Briefen, die sie auf dem Dachboden gefunden hat. Nun war sie plötzlich

ein Mensch, der vor dreißig Jahren Briefe erhielt. Von jemandem. Einem.

Diese Entdeckung wirbelt den Alltag der bisher arbeitssamen, überkorrekten Frau völlig durcheinander, so dass sie sich an der Geradheit des Tages festhalten muss. Nützt aber nichts, sie nimmt Resturlaub und begibt sich mit neuer Frisur auf Reisen. Als sie irgendwo an einem Fluss steht ruft sie

leise ihren Namen und den des andern, gibt sie dem Wind mit, atmet ein und aus und wartet auf etwas, das nicht eintritt. Es bleibt also alles beim Alten, denkt sie verzagt. Und spürt doch, dass es anders ist, fühlt, wie es schlägt: ein ins Ungewisse geöffnetes Herz.

Es sind diese poetischen Sätze, die den Leser auch in den eher traurigen Erzählungen berühren. Und die eingangs angesprochene Empathie, die sich sprachlich niederschlägt.

Ulrike Schäfer
Nachts, weit von hier
Klöpfer & Meyer
2015

Fixpoetry 2016
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