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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Eine absurde, verrückte, brutale Welt

Nick Caves The Sick Bag Song ist Epos, Roadpoem und traurige Prophezeiung
Hamburg

Ziemlich weit am Anfang von Iain Forsyths und Jane Pollards Film 20.000 Days on Earth sieht man Nick Cave am Schreibtisch sitzen. Das Klackern der Schreibmaschine stottert erst ein wenig, wird dann immer rhythmischer, bis schließlich Caves warme Stimme aus dem off einsetzt. „Ich erschaffe eine Welt. Eine Welt voller Monster, Helden, Guter und Böser. Es ist eine absurde, verrückte, brutale Welt, in der Menschen vor Wut rasen und Gott tatsächlich existiert.“ 2013 war das, als der Australier mit seiner Band The Bad Seeds gerade am Album Push the Sky away arbeitete, das noch im selben Jahr erschien. Im Januar 2014 feierte 20.000 Days on Earth Premiere. 2015 schließlich erschien mit The Sick Bag Song ein Buch, das den Abschluss einer der wohl kreativsten Phasen in Nick Caves Künstlerbiographie bildet. Nun erschien The Sick Bag Song mit dem Untertitel Das Spucktütenlied auf Deutsch.

 

 

Entstanden ist das Buch aus Notizen, die Cave auf der Nordamerika-Tournee der Bad Seeds im Sommer 2014 anfertigte. Aufgeschrieben auf den Kotzbeuteln der Airlines, mit denen die Band unterwegs war. Der Übersetzer Eike Schönfeld wählt die etwas salonfähigere Bezeichnung Spucktüten. Cave hielt darauf Beobachtungen und Erlebnisse des Touralltags, Gedichte, Songtexte, kleine Szenen, Träume und Telefonate fest. Alles nach Datum und jeweiligen Konzertort geordnet und sogar mit Datumsstempel versehen. Die beschrifteten Tüten sind als Faksimiles abgedruckt und bilden sozusagen den gestalterischen Höhepunkt des Buches.

Doch worum geht es in The Sick Bag Song eigentlich? Wer nach den Cave-Romanen And the Ass saw the Angel und The Death of Bunny Munro eine geschlossene Erzählung erwartet, wird möglicherweise enttäuscht. Denn aus den Notaten fügte Cave einen Text zusammen, der sich vom Tourtagebuch bis zum fantastischen Epos aller denkbaren Anleihen bedient, um letztlich eine ganz eigene oder eben gar keine Form anzunehmen. Wie schon im Film 20.000 Days on Earth versucht Cave gar nicht erst, ein homogenes Bild seiner Arbeit abzugeben, da es schlichtweg misslingen muss. In seiner Welt, die sich wohl am ehesten als ein andauernder kreativer Fluss bezeichnen lässt, wechseln sich Fakten und Fiktionen ständig ab, fließen ineinander und bedingen sich gegenseitig. Das Wort ist ebenso heilig wie die Musik, der Gesang, das Schauspiel und das Bild.

So beginnt The Sick Bag Song zunächst mit einer ganz prosaischen Episode aus Caves Jugend, in der ein 12-jähriger Junge von einer Eisenbahnbrücke stürzt. Cave begegnet diesem Jungen am ersten Tourtag in Nashville, Tennessee. Eine schmerzliche Erinnerung zur Unzeit. Für die Tour muss Cave nicht nur physisch stark sein. Er sucht die Distanz, die Draufsicht auf den Mann in der Hotelsuite. „Er bekommt gerade eine Steroidspritze in den Schenkel, die den von Jetlag und Grippe geplagten Sänger in eine Gottheit verwandeln wird.“ Die notgedrungenen Verwandlungen bekommen auf Tournee oft ganz banale Züge. Und haben dennoch Gewicht, werden zum Ballast. Denn die Verwandlungen ereignen sich in dem Bewusstsein eines gewissen Legenden-Status in einem an popkulturellen Mythen nicht gerade armen Land. Zum Beispiel in Milwaukee, Wisconsin:

Sorgfältig rühre ich mir in einer Schale eine Paste an und
            färbe mir die Haare schwarz,
Sodass sie wie ein glatter, tintiger Rabenflügel
Über meiner mehrstöckigen Stirn liegen. Ich beuge mich
            vor und blicke tief
In die verwitterten Kornkreise meiner Augen. Im rechten,
Im blauen, ist eine kleine braune Verfärbung, und das
            Weiß gilbt schon. [...]
Ich baue mein Gesicht um, damit ich nicht mehr aussehe
Wie Kim Jong-un, sondern mehr wie Johnny Cash
Oder sonst jemand. Halt! Moment mal! So geht’s! So!

Das Tourleben macht keinen Spaß mehr. Mit fast 60 Jahren ist es anstrengender denn je. Cave vermisst seine Familie, seine Frau, die nicht ans Telefon geht. Die Band ist zwar ein eingeschworener Haufen, doch es scheint so, als ob hier jeder nur seinen Job erledigen will. Nach den Shows wird jeder für sich zum einsamen Raucher auf den Stufen zum Backstagebereich. Wenn man jeden Tag an einem anderen Ort ist, lohnt es sich nicht, sich an Menschen zu klammern. Aber die Sehnsucht bleibt. In Vancouver trifft Cave ein Mädchen, das er beim Konzert in Louisville, Kentucky kennengelernt haben will. Sie entpuppt sich schließlich als Chimäre. Natürlich, will man fast sagen. Und seltsamerweise passt dieses Wort.

So verbringt Nick Cave, obwohl ständig in der Öffentlichkeit stehend, viel Zeit allein und mit den Monstern und Helden seiner eigenen Welt. Er teilt sein Bett mit einer Drachenlady, verliert mehrfach seinen Kopf und sammelt, was immer er nicht versteht oder zur Lösung dieses rätselhaften (Tour-)Lebens beitragen kann, in einem anschwellenden Kotzbeutel, der irgendwann platzen muss. Und trotzdem wird dieser ausufernde Text von etwas zusammengehalten, das sich geradezu gespenstisch zwischen Autor und Leser aufspannt. Cave, der das Pathos und die alten Mythen zum Glück nie gescheut hat, scheint zu seiner eigenen Kassandra geworden zu sein. Denn wenn The Sick Bag Song so etwas wie einen roten Faden besitzt, dann ist es diese wiederkehrende Geschichte.

Ich erinnere mich an die katastrophalen Ereignisse in der Stadt meiner Jugend. An den Jungen aus unserer Nachbarschaft, der aus Versehen seinen Bruder erschoss. An den Jungen, der nach mehreren Bienenstichen einen tödlichen Allergieschock erlitt. Der alte Mann, den wir auf dem Schulweg tot in einem Graben liegen sahen. Vor allem aber erinnere ich mich daran, wie meine Mutter und mein Vater mir von dem Jungen erzählten, der von der Eisenbahnbrücke in den Tod gesprungen war. Er war auf den Betonsockel des Pfeilers geprallt, der unter Wasser liegt, und bewusstlos geworden. Er ertrank. Ein paar Tage später fand man ihn in den Ästen des halb gefällten Baums. Vor allem daran erinnere ich mich.

Kurz nach der Fertigstellung des Buches stürzte im Juli 2015 Caves Sohn Arthur von einer Steilküste in Südengland in den Tod. Seit dem Unfall ist Cave natürlich aus der Öffentlichkeit verschwunden. Fast so wie die Figur, die er im letzten Album, letzten Film, letzten Buch annahm. Ein universeller Künstler, der die drohende Katastrophe nicht verhindern kann. Es ist eine absurde, verrückte, brutale Welt.

Nick Cave
The Sick Bag Song
Das Spucktütenlied
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Kiepenheuer & Witsch
2016 · 288 Seiten · 24,99 Euro
ISBN:
978-3-462-04862-9

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