Der Tag ist grau
Es gibt einen Aspekt an diesem Roman, der abschreckt. Dieser Aspekt steckt schon im ersten Satz: „Du bist kein Unschuldslamm, und du weißt, wie das so läuft: Freitag ist Zahltag, und der Tag ist grau und ganz durchgesuppt von einem langsamen, hässlichen Regen.“
Heißt: Das Buch hat noch gar nicht richtig angefangen, da ist die Stimmung bereits auf dem Nullpunkt. Und der Roman wird sich, das tun Romane fast immer, noch steigern. In diesem Fall kann das nur in den Minusbereich gehen.
Das tut es auch. Es wird schlimmer. Und wir kommen auch nicht irgendwann zur Wende oder zur Katharsis oder zum Happy End. Es wird noch schlimmer. Und trotzdem ist dieser kleine Roman ein faszinierendes Buch, fesselnd und sogar schön, auch wenn wir schon ahnen, wie alles ausgehen wird.
So was bekommen nicht viele Autoren zustande. Daniel Woodrell ist einer von den nicht vielen. Seit 2006 sein Roman „Winter’s Bone“ (deutsch: „Winters Knochen“, Verlag Liebeskind) erschienen ist, 2010 von Debra Granik verfilmt, ist Woodrell nicht mehr nur Insidern ein Begriff. „Winter’s Bone“ handelt davon, dass ein Mädchen beweisen muss, dass sein Vater tot ist. Dessen Leiche liegt irgendwo in den gefrorenen Sümpfen. Was tut die junge Dame? Sie findet die Überreste des Vaters, und sie nimmt für den Sheriff die Hände mit. Mit Hilfe einer Kettensäge.
Woodrell ist der „Poet des White Trash“. So hat ihn der Herausgeber Martin Compart genannt. Wohlgemerkt: Nicht der Chronist des White Trash. Der Poet. Auch in der saufenden, herumlungernden, in trostlosen Trailerparks vegetierenden, stinkenden amerikanischen Unterschicht gibt es Poesie.
Das gilt natürlich auch für Sammy, Jamalee, Jason und Bev. Die vier sind das Hauptpersonal von Woodrells Roman „Tomatenrot“, der jetzt – noch mal – auf Deutsch erschienen ist. Seit dem Erfolg von „Winters Knochen“ bringt Liebeskind auch die früheren Werke des Autors neu raus (überragend in dieser Reihe: „Der Tod von Sweet Mister“). „Tomatenrot“, 1998 in Amerika erschienen, ist vor 15 Jahren schon mal bei Rowohlt rausgekommen, jetzt hat Liebeskind für eine Neuübersetzung Peter Torberg verpflichtet; eine weise Entscheidung.
Sammy hat einen Bruch gemacht und ist in dem fraglichen Haus zugedröhnt eingeschlafen, so wird er von Jamalee mit den tomatenroten Haaren und ihrem unendlich schönen Bruder Jason gefunden, die auch einen Bruch gemacht haben, im selben Haus. Zwischen den Dreien entsteht eine seltsame Anziehung, Sammy soll die jüngeren Geschwister beschützen. Jamalee will die Attraktivität ihres Bruders zu Geld machen, mit Hilfe der vielen reichen, zuwendungsbedürftigen älteren Damen der Stadt. Leider ist Jason noch etwas unsicher in Sachen sexuelle Orientierung. Sammy hat solche Probleme nicht; er giert zwar nach Jamalee, lässt sich zwischendurch aber schon mal gern mit Bev ein, Mutter von Jason und Jamalee und Gelegenheitsnutte (man muss das so sage, sie ist keine Prostituierte, sie ist eine Nutte). Sammy ist (wie Bev, wie alle) nicht gefühllos, sondern bedürftig und auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit und einer Familie. Er weiß nur nicht, wie er es anders kriegen kann.
Dann wird der schöne Jüngling Jason eines Tages tot in einem Teich gefunden. Und niemand außer den drei Zurückgebliebenen will aufklären, was da passiert ist. Keiner will irgendwas wissen. Es existiert niemand, an dem man eine Art Schuld festmachen, an dem man einen Zorn auslassen könnte. Alle wollen nur, dass die Angelegenheit beschwiegen wird. Dass nichts passiert ist. Dass Sammy und Jamalee und Bev die Klappe halten. Und das führt dann zum Gegenteil der Katharsis.
Woodrell besitzt die Fähigkeit, ganz in seine Figuren hineinzukriechen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihrer Haut zu fühlen, und wenn er sich dann wieder zurückzieht und sich an den Schreibtisch setzt, um all das aufzuschreiben, dann hat er auch viel von der Verwirrung und dem Schmerz aus den Seelen seiner Protagonisten neben der Tastatur liegen. Nein, die Welt, die Woodrell beschreibt, ist nicht schön, sie ist ungewaschen und voller Grobheiten. Aber wie er sie beschreibt, das ist schön. Und die Zärtlichkeit, mit der der Autor seine Gestalten begleitet, ihren Kampf um eine Winzigkeit Glück, um einen Funken Würde – das ist auch schön.
„Tomatenrot“ hat nicht nur kein Happy End. Es hat überhaupt kein Ende. Die Geschichte hört einfach auf, nach einer Eskalation, von der klar ist, dass das nicht die letzte war. Aber Woodrell muss nicht weitererzählen. Es ist alles Nötige gesagt. Der Tag ist grau und ganz durchgesuppt von einem langsamen, hässlichen Regen.
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Kommentare
Und hier?
Sehr liebevoll beschrieben! Besonders das Bild der Eindrücke neben der Tastatur!
Wer kennt heimische Autoren, die das so gut können wie Woodrell?
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