Der weibliche Faust ...
Verzweifelt nag ich an der miederwarmen Naht,
die mit der Welt mein Herz so fest verbindet
und mir notwendiglich die Haut durchlöchert hat.
Welt kühlt beständig mich, Herz pumpt unbändig,
die Sprache meiner Grenze macht mich lächerlich: erkenntlich.
Es beginnt mit einer Vorrede, die einem Rundumschlag gleicht. Gewettert wird hier, das Universum zusammengekehrt und wieder fortgeblasen; vom Leder wird gezogen, gegen vieles, das es
vorzieht, unsystematisch rumzuschaben,
am Firnis der Welt, und sich mit einem Pathos zu kleiden,
das einer Ranzschicht täuschend ähnlich sieht,
und sich am menschlichen Einklange zu weiden,
an Allgemeinplätzen wo alles niet-
und nagelfest ist, wie man sagt, gediegen.
(und man kommt hier nicht umhin zu ahnen, dass auch das eigene Genre, die Lyrik, gemeint ist), einige Lanzen werden an Spiegeln gerbrochen, es wird ausschweifend gelitten und bravourös verurteilt, Begriffe werden eingekeilt zwischen zwei Zeilen – ja, der Anfang hat es in sich, man fühlt sich wie auf rauer lyrischer See, aber da ist auch viel Erlebnis und viel blitzende Erkenntnis. Leierorgelnd schnippt jeder Satz eine Münze in den Strudel des Hirns und lässt sie obenauf tanzen.
Es spricht die Protagonistin der ganzen Odyssee: Eine Fernsehmoderatorin, ausgesetzt auf einer (nicht wirklich einsamen) Insel – was brachte sie dahin? Unzucht mit Minderjährigen und mangelndes Interesse, so viel lässt sich vage destillieren aus den ersten zwei Kapiteln von Anne Cottens furiosum kuriosum und Versepos „Verbannt!“ Was weiterhin mit ihr geschieht, ist eine ebensolche Farce, zwischen Traum, Satire und digital innovations aufgespannt.
Insgesamt hat das Epos 19 Kapitel mit 401 Strophen – deren durchgängige Reime sind halbvoll mit byroneskem Fetisch, werden halb wie Gerapptes durchgewunken. Der Handlungsbogen bauscht sich unter Alice im Wunderland-Flair, Gargantua und Pantagruel, technokratischer Sprenkelung sowie Exkursen in die Metaphysik und anderswohin (nebst jeder Menge Anarchieaufdrehen). Ein Teil der Requisiten sind: Ein Riesenpenis, Ziegen, das Internet, ein Konversationslexikon, Zy-presse und Na-presse, Seemüll, Neo-Opern, Redakteure und ein Wonnekind (brave, lesende Cobras nicht zu vergessen) – einige davon sind auch Akteure. Sie alle werden durch den Gehirnflashfleischwolf von Cottens Sprache gekurbelt.
Dem allen zuliebe wird der folgende Sang recht lang.
Und wie es sich für einen Stripteaser gehört,
zieh ich für den Anfang recht viele Klamotten an.[…]
Hören sie also die entsetzliche Ballade
vom sibirischen Unglück eines ganz modernen,
delirösen, inadäquaten Herrn Marquis de Sade
in Frauengestalt. Und man kann außerdem viel lernen.
Ich bin baff, muss ich an dieser Stelle bekennen. Baff und gleichzeitig gemartert. Zermartert. Schon lange hat mir ein Buch schon nicht mehr so den Rest gegeben – im Positiven, wie auch im Zuviel-des-Guten – erst Recht keine Lyrik. Ich würde jetzt gerne, über Jahre hinweg, eine Arbeit darüber schreiben, was an diesem Buch, an vielen einzelnen Zeilen, so verdammt gut ist, was fast schon physisch guttut und was an anderer (oder derselben!) Stelle zum Haareraufen ist, einfach nichts hinterlässt in mir, außer einer höhnischen Schneise voll selbstgefälligem Schrott. Wobei: Das Wohlbefinden überwiegt.
So waren meine Fieberträume. Ich als Kind,
ein riesengroßer Reifen, rollend über einen Faden,
der feiner ist als alles. Ganz klar, wer gewinnt.
Auf einer endlosen, gebügelten Leintuchgeraden.
Tja, wo im Folgenden ansetzen? "Absurd" trifft es ungemein gut, wenn man die Handlung einfach nur bewerten will, aber was abgeht auf der Insel (und mehr noch: worauf es anspielt), hat sich mir regelmäßig entzogen, dann wieder erhellt, aber ich sehe davon ab, hier irgendwas nachzuerzählen. Um die Story geht es für mich eh nicht, und eine Nacherzählung würde all das vernachlässigen, was in dem Epos selbst an Brüchen, Ungenauigkeiten, Ausdeutungen im Raum liegt.
Was mich wirklich begeistert hat an „Verbannt!“ ist zweierlei: Zum einen schlicht das Repertoire an Sprache, das einfach beeindruckend ist (womit nicht nur ein hoher Anteil an intelligenten abstrakten Begrifflichkeiten gemeint ist, sondern auch ein hohes Maß an lebendigen, epiphanischen Worten, oft Neologismen). Wie diese Sprache sich dann aber formt zu einem Erkenntnisinstrument, auf dem Ann Cotten stundenlang jammt und improvisiert, das ist Fulminanz. Und reicht weit über das hinaus, was ich in letzter Zeit in Sachen intelligenter Literatur gelesen habe – eine Verbindung von Aussage und Eindrücklichkeit, die in den besten Fällen die Ebene einer guten Shakespearestelle erreicht.
Du weißt, dass du zu wenig ahnst.
Wissen ist Erfrischung nur für den casual Verwender.
So wie dein guter Freund mit seinem kargen Wanst
gibt es dir nie mehr Küsse als du tragen kannst.
Denn eigentlich wird wesentlich sein, einen einzigen
Kuss zu verfolgen, wohin er dich immer bringt.
Dort seiend, weißt du, du erlebst nur einen winzigen
Teil alles anderen – doch der Teil singt.
Dass Ann Cotten viele dieser Behauptungen zuzufliegen scheinen, machte es manchmal allerdings schwer, die Strophen zu ertragen, in denen nicht eine tiefere Idee verhandelt wird, sondern bloß die Handlung weitegetrieben werden muss. Eigentlich wartet man dann, trotz einiger unterhaltsamer Stellen, immer auf den Moment, wenn sich das Geflecht der Reime wieder zu einem präzisen Blick verdichtet und verengt. Dann muss noch nicht mal „neu“ sein, was sie sagt – allein dadurch, dass es in einer lyrischen Wendung daherkommt, wird es sichtbarer, mittelbarer und hämmert sich in die Wahrnehmung, statt nur mal kurz hineingehängt werden. Der Reim wird zu einem Schläger, mit dem die sonst ruhenden Sätze direkt auf den Leser geschlagen werden.
Behauptungen werden heute industriell gefertigt
aus einem kleinen Kanon an Begründungen,
die schon im internationalen Schlagabtausch bewährt sich.
Misstrauen herrscht gegen Erfindungen,
die zu viel ändern – Optimierung bestehender Windungen,
nicht mehr, nicht weniger, wird als Verbesserung erkannt.
Viele dieser Strophen könnte ich mir einzeln vornehmen und eine Rezension darüber schreiben; Ann Cottens Sprache hat eine Kristallstruktur, die hin und wieder so geschliffen ist, dass jede Idee darin gebrochen und in alle möglichen Winkel kaleidoskophaft gespiegelt wird. Für einen Moment ist es dann, als könnten einem einige wenige Zeilen den Kosmos einer ganzen Themennatur erklären.
Das kann auch auffallend kryptisch und an der Grenze zur Willkür sein. Aber die Eindringlichkeit, mit der jede Rundung der Strophen vonstattengeht, gibt den Motiven genug Gestalt, dass man sich darauf einlässt, selbst wenn es so zugeht:
Es ist
Kellnern und Putzleuten der ganzen Welt bekannt
das Tischtuch als Erneuerung eines perfekten Augenblicks,
dessen Reproduktion dem Begehren entstammt,
das Leben einzufrieren, um es besser, wie auf Samt-
kissen, zu empfinden. Annäherungen an den Thron
finden sich weltweit im kleinbürgerlichen Zimmer.
Ob Sandboden, ob Eis es ist, was man durch Sitzen schon-
en möchte, ändert nichts. Fehlt auch der Po: Der Thron ist immer.
Cotten hantiert aber nicht nur mit Bravour und Weisheit, sondern auch mit Albernheit und Schludrigkeit. Das macht mitunter großen Spaß und man kann immer noch die pure Handwerklichkeit in Kombination mit dem funkenschlagenden Wortschatz bewundern. Man liest sich in die krudesten Behauptungen hinein, als würde man sich an etwas Wonniges erinnern.
Pallas Athene kämpft, aber sie weiß im Grunde doch, dass
Menschen in Weisheit nur mehr vegetieren. „Lass
die Götter immer ihre Formen wechseln“, riet einst einer,
den wirklich niemand mehr kennt, „und die Welt ist feiner.“
Nicht ist echt. Was nicht Lüge ist, wird Kitsch sein.
Und wenn man sich nicht auskennt, darf man ne lustige Bitsch sein.
Was immer wieder Reden hält, ist der Verdruss – ein großes Thema der Postmoderne, ebenso wie die Geschlechterrollen. Beides fehlt in Ann Cottens Epos nicht – wobei die Rollen vertauscht sind: der Verdruss wird akademisch, der Geschlechterclinch ganz unakademisch abgezogen.
In des Verdrusses Mittelpunkt steht das eigene Ich der Protagonistin, aber im Ganzen auch der Mensch an sich (natürlich). Der wird vielen verschiedenen Sondierungen unterworfen, woraus einerseits eine Halde voll von Vorwürfen generiert werden kann:
Ihr habt es, wo alles erreichbar schien, vergessen,
wie sehr das, was es ist, längst in eurem Ermessenbegraben ist, während ihr nach noch mehr vorausbestimmtem
Material die Hände recktet,
um es anzumalen, euch anzueignen, zu gebrauchen, flimmernd
vor Gier, Nichtigkeit mit Geistmanöver anzuzünden,
euch flammend lecktet
verachtend euch, voll Sehnsucht, euch zu wissen.
wie auch andererseits poetische Aussichten von geradezu lichter Anmut:
Kein andres Tier träumt so beharrlich von Ökonomie.
Optimierung ist seine Haarschleife im Weltall.
Die andern Lebensformen fließen so dahin,
der Mensch schreibt alles noch auf einen Zettel
und rechnet vor sich hin den ganzen Bettel.
Doch sehen immer wieder Informatiker und Spinner
dies eh wieder als das alte Naturspektakel.
Wie Fische schwimmen, Aale zielen, wackeln Dackel,
rechnet der Mensch, und die Schönheit ist der Gewinner.
Das Zeitgeschehen, von Cotten fast nur metaphorisiert, kann sich nur ganz selten einen direkten Platz in ihren Ausführungen sichern. Ihre Kritik und ihr Auffinden, Ermitteln und Verdichten zielt mehr auf das Existenzielle, auf das Grundlegende. Doch auch Sätze des Kalibers „Der Gegenwart ins Gästebuch geschrieben“, kommen vor –
Globalisierte Marktwirtschaft hat sie komplett verdorben,
sie fühlen sich von allem entweder bedroht oder umworben
– und öffnen als schmale Klinken die Türen zu größeren Zusammenhängen. Die werden aber bald wieder außer Acht gelassen und vom Hin und Her der Inselstory überwuchert. Das Buch wäre wohl auch zu sehr Manifest geworden, und vielleicht ist es gut, dass diese Erleuchtungen nur eingestreut werden, mit der Haupthandlung durch den bissigen Grundton synthetisch verbunden, und nicht den Kernpunkt des Buches ausmachen.
Was mich allerdings dann doch stört, ist der permanente Versuch, sich nicht zu ernst zu nehmen, was auf die Dauer zur bloßen Attitüde verkommt. Zu einer Abgeklärtheit, die mitunter nervig wird und auch, bei aller Liebe für die Postmoderne, nicht nötig gewesen wäre. Diese Haltung, die an wenigen Stellen sogar wie eine Angst des Textes vor seinen eigenen Möglichkeiten wirkt, finde ich fast enttäuschend, wenn man bedenkt, was ihm mit seiner Form und seinem Mäandern alles gelingt. Vielleicht liegt das an der Balance, in der Cotten ihren Text halten musste, um ab und an zu den Stellen zu gelangen, die ich so genial finde; um das Herausragende in dem Wust von Banalität und Genialität aufzugreifen. Der Rest ist eben Spaß!, und was wär denn daran so schlimm, lieber Rezensent?
Es muss also mindestens alle Jahrzehnte ein neues
Kollektivphänomen die besten Denkergirls und –boys
mit Umdenk-Anreizen vom Selbstmord abhalten. Sie achten
zwar immer auf das Falsche, doch gerade das
macht ja das Lustige am Denkdrama aus – ein Pass
und alle laufen in die falsche Richtung noch;
sie ändern sich – da wird der Ball zum Loch.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.