Die Menschenzeit
Bereits 2013 startete das auf zwei Jahre angelegte, kooperative Anthropozän-Projekt zur kulturellen „Grundlagenforschung mit den Mitteln der Kunst und der Wissenschaft“ in Berlin. Es wurde vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegeben und finanziert „ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten, wohl wissend, dass das Ergebnis politisch relevant sein würde.“ So der Abgeordnete Rüdiger Kruse (CDU), dessen kurzer Beitrag den Sammelband "Das Anthropozän – Zum Stand der Dinge" beschließt. Das Buch ist so etwas wie der Abschlussbericht des Projektes und gleichzeitig eine Einladung, den Anthropozändiskurs von hier aus weiterzuführen.
Der Begriff des Anthropozäns wurde im Jahr 2000 bei einer wissenschaftlichen Tagung vom niederländischen Meteorologen und Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen vorgeschlagen. Seiner Ansicht nach ist der Einfluss des Menschen auf die Erde so enorm, dass man längst von einem neuen Erdzeitalter sprechen muss. Damit hätte das Anthropozän das Holozän abgelöst.
Bis heute ist das Anthropozän als Begriff oder erdgeschichtliche Kategorie nicht endgültig definiert, geschweige denn anerkannt. Der Diskurs, den Crutzens These nach sich zog, ist noch immer in vollem Gange und wird sich, bedenkt man seine immer größer werdende Reichweite, in den kommenden Jahren noch intensivieren. Er wird sich intensivieren müssen, möchte man sagen, wenn man bedenkt, welche fundamentalen, welche im Wortsinne globalen Fragestellungen und Probleme allein schon die Einführung des Begriffs nach sich zieht. Die Spannweite reicht von bekannten Problemen wie dem Klimawandel oder der Welternährung über die sich verändernde chemische Zusammensetzung der Erdatmosphäre bis hin zu biologischen, psychologischen und philosophischen Neubewertungen des Menschen an sich.
Da wirkt es erst einmal seltsam, dass einer der ersten Beiträge des Bandes, ein Essay der Politikwissenschaftlerin Jane Bennett, sich mit Kafkas Figur des Odradek auseinandersetzt. Doch Bennett interpretiert die kleine, aufrecht stehende Zwirnspule, dieses kleine Mischwesen aus menschlichen, technischen und animalischen Komponenten, als Sinnbild für die Prozesshaftigkeit, Offenheit und letztlich Unvorhersehbarkeit der Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten. Somit führt Odradek als paradoxes Wesen zu einer ebenfalls paradoxen Grunderkenntnis für den Anthropozändiskurs: wenn wir die Probleme des Anthropozäns nachhaltig lösen wollen, müssen wir uns vom Anthropozentrismus verabschieden. Dementsprechend zeigt etwa Anne Peters, Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, die Möglichkeiten eines globalen Tierrechts auf. Ein solcher „animal turn“ könnte ein weiterer Baustein für eine Neubewertung der Mensch-Natur-Beziehung im Anthropozän darstellen.
In juristischen Dimensionen denkt auch der Völkerrechtsanwalt Davor Vidas, der auf ein neues Seevölkerrecht drängt, um unkontrollierte Inbesitznahme und Ausbeutung der Meere und des Meeresbodens – drei Viertel der Erdoberfläche – zu verhindern. Solche Überlegungen gehen über Konflikte wie den um die Spradley-Inseln hinaus. Doch zeigt gerade dieser Fall, das der Wettlauf um die Bodenschätze der Ozeane im vollen Gange ist, nachdem der Mensch erkannt hat, dass die Ressourcen an Land kontinuierlich schrumpfen.
Die Liste der Ausbeutungsphänomene auf der Erde ließe sich, auch anhand dieses Buches, noch fortsetzten. Doch die Diskussionen rund um das Anthropozän erschöpfen sich nicht in Fragen eines besseren Naturschutzes. Sie führen überhaupt zuerst einmal in der Geschichte zurück und fragen, wie es zu dieser Entzweiung zwischen Mensch und Natur kommen konnte. Dabei wird immer wieder auf ein Ereignis verwiesen, dass der Geologe Jan Zalasiewicz als möglichen Beginn des Anthropozäns benennt: die Industrialisierung. Die in dieser Zeit etablierten ökonomischen Strukturen, die auf schnelles Wachstum der Wirtschaft ausgerichtet waren, bildeten die Grundlage für die „große Beschleunigung“ nach dem Zweiten Weltkrieg (ein weiterer möglicher Zeitpunkt, der den Start ins Menschenzeitalter markieren könnte). So oder so geht mit dieser Betrachtungsweise die grundlegende Erkenntnis einher,
dass dem dominanten sozio-ökonomischen Konzept, das heute als neoliberaler Kapitalismus bekannt ist, immer schon die Einbeziehung der nicht-menschengemachten Leistungen der Natur fehlte.
(Jan Willmroth)
In weiteren, logisch aufeinanderfolgenden Essays setzt sich der Sammelband mit dem ganzen Spektrum von Indikatoren für eine globale menschengemachte Zeitenwende auseinander. Das ist auch ganz wörtlich zu verstehen, wenn etwa der Technik- und Wissenschaftshistoriker Benjamin Steininger darauf hinweist:
Über Pipelines ist Menschengeschichte mit der Erdgeschichte kurzgeschlossen: Was wir ökonomisches Wachstums nennen, ist tatsächlich kaum etwas anderes, als das Abschmelzen von Jahrmillionen alten, energetischen Konten.
Was aus uns wird, wenn diese Konten einmal leer sein werden? Man könnte meinen, die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän sei nichts weiter als eine Fortführung säkularisierter Apokalyptik. Das stimmt aber nicht. Ein funktionierendes Bewusstsein für den globalen und vor allem global zusammenhängenden Einfluss des Menschen auf den Planeten führt in Wirklichkeit zur Überwindung des apokalyptischen Denkens, dessen Mittelpunkt der Mensch ist. Es stößt den Menschen zwangsläufig aus dem Zentrum und ordnet ihn den natürlichen Prozessen eines Planeten unter, der mit und im Zweifelsfall auch wunderbar ohne ihn weiterbestehen wird. Die Frage ist also, wie viel Zeit wir uns noch geben wollen.
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