Sinnliche Einsamkeit
„Unter Kunst verstehen wir alles, was uns entzückt, ohne daß es uns gehört – die Spur unserer Durchreise, das einem anderen Menschen gewährte Lächeln, den Sonnenuntergang, das Gedicht, das objektive Weltall.“
Fernando Pessoa, aus „Das Buch der Unruhe“
Dieses Zitat habe ich der Homepage des Verlegers Klaus Raasch entnommen. Aus Unsicherheit? Nicht unwahrscheinlich. Wenn eine Rezensentin von Anfang an gesteht, dass sie entzückt von einem Buch ist, weckt dieses kleine Adjektiv, so meine vermutlich nicht unberechtigte Befürchtung, den Impuls zum Wegschalten, wird der Kurzschluss „Frau, Gefühlsüberschwang, unobjektiv“ gezogen, die Rezension vielleicht nicht weitergelesen und ich tue damit weder dem Buch noch mir etwas Gutes. Doch es ist genau dieses Adjektiv „entzückt“, das mein Lektüreerlebnis wahrhaftig wiedergibt, ein Eindruck, der weit über das Lesen des Textes „Einübung ins Paradies“ von Ingo Schulze hinausgeht, Lektüre als Gesamteindruck nämlich, als sinnliches Begreifen eines Buchs, das mit dem ersten In-die-Hand-Nehmen begann, sich beim Blättern festigte und auch beim wiederholten Lesen nicht verflüchtigte. Ich habe erstmals keine Leseohren in ein zu rezensierendes Buch gemacht, um es nicht zu (be)schädigen. Und ich habe erst beim dritten Mal Lesen vermocht, Bleistiftmarkierungen zu setzen, als käme jeder kleinste Eingriff einer Entweihung gleich. Worte wie „erstaunlich“ oder vergnüglich“, die mir wiederholt in den Sinn kamen, decken nur einen Teil meiner Wahrheit ab, die mit diesem anderen Wort so viel trefflicher beschrieben ist und das hier noch einmal, zum letzten Mal wiederholt wird: Ja, ich war und bin entzückt!
Da ist zum einen die Erzählung Ingo Schulzes, i.e. ein Gespräch, das eine namenlose Ich-Person mit den Lesenden führt. Der Text wird von Holzschnitten der Leipziger Künstlerinnengruppe augen:falter umspielt und begleitet. Und schließlich als dritten, gleichwertigen Teil die aufwändige Handwerkskunst, die dieses Buch auszeichnet und es als ein aus der Zeit gefallenes für mich unverwechselbar macht.
Der in Dresden geborene, nun in Berlin lebende Autor Ingo Schulze spiegelt in seinem Text aus der Sicht einer Frau Anfang 50 den Berliner Tierpark, taucht ein in die Atmosphäre und die Geschichte jenes Tierparks, die eine ostdeutsche ist. Die Frau spricht mit ihrem Gegenüber, den Lesenden, spricht uns direkt an, plaudert, plappert ununterbrochen, in dem sie jedes Detail der Umgebung während ihrer Spaziergänge berichtet, wie sie erstmals auf den Gedanken kam, hierher zu kommen, dass es sie seither hierher ziehe, nicht wegen der Tiere, sondern um spazieren zu gehen. Sätze, mit denen sie sich Autorität zuspricht („Ich bin Buchhalterin und Zeitungsleserin, ich weiß, wovon ich spreche) stehen neben plötzlich auftauchenden Sentenzen, etwa: „... die Entwertung des Geldes entspricht der Entwertung der Sprache“, die überraschen. Wir erfahren von den Anfängen des Tierparks, der 1954 auf dem Gelände des früheren Schlossparks Friedrichsfelde geplant wurde, ein Gedenkstein für ein Konzentrationslager wird erwähnt. Wir lesen vom langjährigen Direktor „Prof. Dr.Dr. Dathe“, NSDAP-Mitglied von 1932 bis zum Ende des 2. Weltkriegs, der gemeinsam mit der Fernsehmoderatorin Annemarie Brodhagen die Sendung Tierpark-Teletreff verantwortete, die zu einer der beliebtesten der ehemaligen DDR gehörte. Zu lesen ist u.a. auch von Charlotte von Mahlsdorf (Lothar Berfelde) und ihren Verdiensten um die Rettung des Schlosses.
Wenig hingegen erfahren wir vom Leben der Ich-Person abseits des Tierparks. Ein Bruder wird erwähnt, eine Nichte, ein Neffe, je ein gemeinsamer Zoo-, ein Tiergartenbesuch. Allmählich schält sich das Bild einer einsamen Frau aus dem Wortschwall, die ihre Angst vor dem Montag, die Angst vor der Arbeitswoche mit Tiergartenberichten zudeckt. Spricht sie anfangs noch von ihrem nicht vorhandenen Interesse ...
Meine Touren durch den Tierpark zu beschreiben ist unmöglich. Ich kann mir die Namen der Tiere schlecht merken und habe auch wenig Ehrgeiz, sie zu erlernen.
... so taucht sie immer tiefer in die Welt des Tierparks ein, einen Ort, an dem man nicht reden müsse, an dem sie sich auf eine Art und Weise geborgen fühle, „wie ich es sonst in keinem Park, in keiner Landschaft, ja nicht einmal zu Hause bin“. Und wenig später meint sie:
... für Leute wie mich ist es ein idealer Ort, denn hier ist man nie allein und man wird auch nicht als Alleingebliebene behandelt, man ist ja gekommen, um die Tiere zu betrachten. Der Tierpark erzeugt in mir mehr und mehr ein Gefühl der Schwerelosigkeit, des Behütetseins, als gehörte ich dazu.
Die Ich-Erzählerin lernt auf ihren Rundgängen schließlich Pawel und seinen vierjährigen Sohn Leonhard kennen, die meist jedes ihrer Wochenenden im Tierpark verbringen. Sie werden ihr zu einer Art Ersatzfamilie, die das Wissen um die Tiere und viele Besuchserfahrungen teilt. Die Erzählerin vergleicht sich selbst mit Stockenten, die während der Mauser flugunfähig sind und hier Schutz finden. „Ich bin auch so ein Vogel, der freiwillig hierher kommt“, sagt sie, erkennt sich auch im einsamen Wolf wieder. Der Tierpark ist keine Idylle, mitunter geht es rau zu, etwa, wenn ein Hirsch die Rehe vom Futterplatz vertreibt: „Eine Hirschkuh blutete bereits am Auge, das heißt, da war kein Auge mehr.“ Doch mitten unter den Tieren fühlt sie sich nicht mehr einsam, kann hier ihrem vermutlich tristen Büroalltag entfliehen und erkennt das 160 Hektar große Berliner Areal als Ort der Geborgenheit und mit zunehmender Verklärung auch als ein mögliches Paradies:
Und wenn es wärmer wird ... wollen wir hier bleiben ... unter unseresgleichen ... den ganzen Sommer ... Nacht für Nacht ...
Große Worte sind es, die in diesem Buch angesprochen werden: Zugehörigkeit, Behütetsein, Einsamkeit, Paradies. Doch Schulze gelingt es, leichthin und ohne Kitsch eine einsame, kluge Seele berichten zu lassen, die manchmal durch ihre Suada zu nerven, mit ihrem wie beiläufig erzählten Ausnahmealltag im Tierpark aber trotzdem zu berühren vermag. Googelt man den Berliner Tierpark, kann man viele der in Schulzes Text beschriebenen Teile finden, das Bärenschaufenster am Eingang, das Giraffenhaus, diverse Cafés usw., kann das Buch aus reinem Vergnügen lesen, aber auch als Einführung, vielleicht vor einem geplanten Berlinbesuch, bei dem der Besuch des Tierparks auf dem Programm stehen wird.
Illustriert wurde dieses Buch von acht Künstlerinnen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten in und um Leipzig tätig sind und auch als Illustratorinnen und Buchgestalterinnen arbeiten. Als Gruppe „augen:falter“ führen sie gemeinsame künstlerische Projekte, Ausstellungen und Messen durch. Jedes Mitglied hat für dieses Buch einen farbigen und einen schwarz-weißen Holzschnitt beigetragen. Zu sehen sind Szenen aus dem Tierparkalltag, mehr oder weniger verfremdet, zum Teil märchenhaft, die als Kommentar, Ergänzung und Erweiterung des Textes begriffen werden können.
Besonders erwähnenswert ist der Buchumschlag, ein Linolschnitt, der erst beim Abnehmen und Auffalten zu voller Geltung kommt und auch als eindrucksvolles Wandposter Verwendung finden könnte. Er zeigt eine stilisierte, menschenleere Landschaft mit einem Baum, möglicherweise jenem der Erkenntnis, und einer phantasievollen Tierszenerie. Alle Originalgrafiken waren in einer Ausstellung in der Büchergilde/Hamburg von 19.2. bis 16.4.2016 zu sehen, für die es allerdings nun nach Erscheinen der Rezension leider zu spät sein wird.
„Einübung ins Paradies“ ist das 12. Werk der Edition Die Holzschnittbücher. Es besticht durch die Qualität von Papier und Verarbeitung, Ganzleinen mit Prägung, Fadenheftung. Ich bin keine Fachfrau für Buchdruckkunst. Aber ich weiß, dass ich lieber solch ein Buch in der Hand halte, als ein E-Book, das gewiss auch manche Vorzüge hat. Doch hier! Allein das haptische Erleben, der sinnliche Reiz jeder Seite! Da ist nichts kalt, nichts glatt und glänzend, sondern hat Wärme, hat vor allem Struktur, man meint jeden einzelnen Buchstaben unter den Fingern zu spüren, nein, spürt ihn wirklich. Das Buch riecht, wenn man es öffnet, die Seiten sind physisch greifbar und geben bei jedem Umblättern ein leisraues Geräusch von sich.
Gedruckt wurde das Buch übrigens im Museum der Arbeit in Hamburg und es ist geworden, was Klaus Raasch hierzu in seinem Blog schreibt: Eine Hommage an die Zeit des Buchdrucks, der nur noch in wenigen Werkstätten ausgeübt wird. Und es schenkt darüber hinaus ein sinnliches, äußerst kurzweiliges Lesevergnügen.
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