Kugeln, Blasen, Löcher: Die Tippgemeinschaft 2016
Pünktlich zur Leipziger Buchmesse ist die jüngste Anthologie der traditionsreichsten unter den Schreibschulen hierzulande erschienen. Wie in jedem Jahr seit 2003 hat sich auch diesmal eine Gruppe von Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig zusammengefunden, um Texte ihrer KommilitonInnen sowie von jüngeren DLL-AbsolventInnen in einem neuen Band zu versammeln. Auf satten 427 Textseiten dominiert vor allem Kurzprosa, aber auch Lyrik und Dramatik kommen zum Zug. Die 44 Beiträge des DLL-Nachwuchsbandes wurden von den HerausgeberInnen in sechs Abschnitten zu je sieben bis acht Texten zusammengefasst. Diese Abschnitte folgen keinen thematischen Vorgaben; vielmehr eröffnet sich dem Leser jedes Mal eine bunte Mischung an Genres und Themen. Ein solcher Abschnitt lässt sich locker in ein bis zwei Stunden lesen und erweist sich dabei maximal abwechslungsreich.
Die visuelle Gestaltung der Textsammlung entstand in Kooperation mit Studierenden der Köln International School of Design. Unter den dort erarbeiteten Entwürfen wählte das Redaktionsteam letztendlich den Vorschlag von Vivian Wu aus. Beim Durchblättern fällt gleich die reduzierte, klare Formensprache ins Auge, die Übersicht schafft und dabei trotzdem genug Spielraum zum freien Assoziieren lässt. So neigt man mit Bezug auf den augenzwinkernden Namen der DLL-Anthologie unweigerlich dazu, die mal kleineren, mal größeren schwarzen Kreiselemente als Lottokugeln zu lesen.
Das Prinzip des Zufalls, den die „Lottoziehung“ der diesjährigen Tippgemeinschaft also auch in ihrem Design evoziert, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in einem so breiten und bunten Textkompendium thematische ebenso wie motivische Spuren von Serialität einschleichen. In der Tat mag man sich über die Hartnäckigkeit wundern, mit der einem manche Figuren, Szenarien oder Topoi immer wieder in den Texten der NachwuchsautorInnen begegnen.
Ödipaler Ballast und die Schatten der Kindheit
So müsste mindestens jede dritte Kugel in dieser Lottoziehung das Antlitz der Eltern zieren. Mit frappierender Regelmäßigkeit treten Vater- und Mutterfiguren in den 44 Textbeiträgen auf. Die Beziehung zu den Eltern, das ödipale Dreieck mit all seinen psychischen Untiefen scheint wie ein Menetekel über vielen Geschichten und Figuren zu schweben. Mal ist es die Hypothek eines zu früh verstorbenen Vaters, mal ein diffuses Familiengeheimnis, mal sind es überforderte Mütter, mal Väter, die prügeln, stalken oder Kreditkarten verschenken – Eltern, so der überwältigende Eindruck aus diesen Texten, prägen das Leben ihrer Kinder weit über den sozialen Status hinaus. Dabei wird schnell ein empfindliches Maß an Distanz überschritten. Etwa wenn sie die eigenen Kinder zum Entwurf von „Lebensplänen“ anhalten (Antje Kersten, „Narben im Hirn“) oder sich gar, wie in André Pattens Kurzgeschichte „Paul“ Gestaltungshoheit über das Liebensleben des eigenen Nachwuchses anmaßen, indem sie zum Beispiel Jahresabos für Online-Datingdienste zum Geburtstag verschenken. Eine ähnlich bizarre Intimität hat etwa das Verhältnis der Erzählerin in Sibylla Hirschhäusers Geschichte „Nero“ zu ihrem Vater angenommen. Dieser Vater macht sich einen Jux daraus, die Affären seiner Tochter zu googlen und aufgrund seiner Rechercheergebnisse entsprechende Empfehlungen per SMS auszusprechen. Ob als spendable Finanziers, als penetrante Helikoptereltern oder als rücksichtslose Despoten – Väter und Mütter scheinen die heimlichen Strippenzieher im Hintergrund und Hinterkopf der meisten Figuren in diesen Texten zu sein. Es sind Geschichten, die in einer Realität spielen, weit weg von jeder wütenden Auflehnung gegen „die Alten“ im Stile der 68er. Dass sich die Beziehungen zwischen den Generationen aber auch und vor allem in jener „bleiernen Zeit“ nach den großen Revolten kompliziert und vielgestaltig ausnehmen, davon handeln diese Geschichten.
Mag diese Ära objektiv betrachtet auch noch so bleiern sein, so bleibt sie doch die Zeit des eigenen Heranwachsens und damit immer auch eine ganz besondere, die es zu verarbeiten und aus der es zu schöpfen gilt. Auch dies tun die jungen AutorInnen der Tippgemeinschaft oft und gerne. So sind es immer wieder vertraute Szenen einer deutschen Kindheit und Jugend in den 90ern. Ein Coming-of-Age zwischen Curt Cobain, Simpsons, Lernparties und Sonnenfinsternis. Verschlafene Erinnerungen an endlose Sommer: Heiße Ferientage am See oder im Garten, Müßiggang, erste Drogenerfahrungen und das Erwachen des Begehrens. So sehr diese Visitationen der eigenen oder einer imaginierten Jugendzeit ihre persönliche Berechtigung haben mögen, schaffen sie es doch selten eine allgemeine Relevanz zu entwickeln, ja den Leser wirklich zu berühren. Als gelungene Ausnahmen sind hier etwa die aus bloßen Satzfetzen komponierten Gedichte von Janin Wölke hervorzuheben, in denen das volle Spektrum einer Jugend auf Berliner „Platte“ in starken Bildern aufblitzt. Die mit „Storage Rooms“ betitelten und vertikal gedruckten Gedichtzeilen formen dabei selbst auf- und absteigende Panoramen, in denen sich Hochhaussiedlungen ebenso wie jene imaginären Räume widerspiegeln, in denen wir unsere Erinnerungsfetzen einlagern. Ebenso eindrucksvoll gelingt es Johannes Hein in seiner kurzen Erzählung „1997“, in nur wenigen Szenen ein komplexes Beziehungsgeflecht unter drei Jugendlichen zwischen grundloser Gewalt und unbeholfener Zärtlichkeit aufzuspannen. Erst durch einen Anruf „fast zehn Jahre später“ wird ein schmerzlicher Erinnerungsprozess angestoßen, sind sie plötzlich wieder da, jene
Bilder, die sie mir aufgezwungen hat, einen blanken Punkt noch wunder scheuernd, bis ich mir den Rotz aus meinem Kopf press’ und es wieder neunzehnhundertsiebenundneunzig ist.
(S. 359)
Es waldet schon wieder
Mit Abstand am häufigsten aber müsste man in der DLL-Lottotrommel auf Tannenzapfen stoßen, so oft wie der Leser auf 427 Seiten in den Wald entführt wird. Man braucht hier nicht auf die tiefe Verwurzelung des Waldes im kollektiven deutschen Gedächtnis hinzuweisen. Von Tacitus über Grimms Märchen bis hin zum zeitgenössischen Heimatkrimi – der Wald warf schon immer lange Schatten auf die deutsche Kulturlandschaft. Erstaunlich bleibt aber, dass junge Kreative (die Literaten sind hier nicht allein!) den Wald gerade in den letzten Jahren wieder als den Sehnsuchtsort schlechthin heraufimaginiert haben. Die Tippgemeinschaft 2016 legt davon lebendiges Zeugnis ab. So steigt man gleich mit dem ersten Text ins „Gehölz“, folgt bald Kindern in ihr Versteck „tief im Wald“, geht mit seltsam animalisch anmutenden Menschen in einem Waldsee baden, beobachtet mit zwei verträumten Jungs die Sterne über den Baumwipfeln, besucht Partys im Wald, wird dort Zeuge eines nächtlichen Überfalls und sieht zu, wie die Protagonistin aus Alexander Kappes Geschichte auf einer Selbstfindungsreise nach Polen zu guter Letzt einfach im „Dunkel des Nadelwaldes“ verschwindet. (182)
Kurzum: Wie in so vielen zeitgenössischen Romanen, Theaterstücken und Gedichtbänden, „waldet“ es auch in dieser Anthologie gewaltig. Bleibt allein die Frage nach dem Gehalt dieses Topos. Ist es eine nostalgische Sehnsucht nach einem Ort, der immer weniger Teil unserer gelebten Realität ist? Ein bloßes Relikt, da sich unser globales Leben immer stärker urbanisiert und die Natur wo nicht zurückgedrängt, geradewegs zerstört wird? Keine Frage: Im Wald liegt politischer Sprengstoff vergraben. Aber der wird hier viel zu selten freigelegt, geschweige denn gezündet. Man erahnt ihn etwa in den atmosphärisch starken Gedichten von Andra Schwarz, die von brisanten Verstrickungen zwischen Mensch und Vegetation, Natur und Kultur künden. Konsequenter dagegen geht es im Text von Alexandra Riedel zu: Das kleine Lindenwäldchen, in dem der Großvater der Erzählerin ehedem noch Brennholz schlug und Füchse jagte, wird nunmehr gerodet, um für die Ausdehnung des nahen Braunkohlereviers Platz zu machen. Die Industrie rückt bedrohlich nahe an die bäuerliche Welt heran, deren Menschen und Gebäude einem unaufhaltsamen Verfall entgegensehen.
Viel ist nicht mehr übrig von der Landschaft. (...) Auch die Kirchenglocken läuten nicht mehr. Das Uhrwerk ist defekt, repariert wird nichts.
(Seite 242)
Topologien der Exklusion: Von Grenzen und Blasen
Oder ist der Wald am Ende doch nur ein weiterer Fluchtpunkt, ein scheinbar sicherer Rückzugsort, weit weg von den soziopolitischen Verwerfungen der Welt „da draußen“? Denn das Motiv der Abkapselung, der zunehmenden Abschottung von der Welt, auch das ist ein Wiederkehrendes in den Texten der DLL-Jahresanthologie. In den Geschichten von Maren Pelny und Ronya Othmann sind es kauzige Einzelgänger, deren fragile Ichs sich mehr oder minder schleichend ins Selbstexil verkriechen. Andere Texte handeln dagegen von körperlichen Gebrechen, die den schrittweisen Rückzug aus der Welt erzwingen. Auf besonders ergreifende Weise gelingt dies den Geschichten von Antje Kersten („Narben im Hirn“) und Maja-Maria Becker („Substanz“). Sprachlich präzise und in starken Szenen zeichnen sie den Leidens- und Abkapselungsweg zweier schwerkranker Frauen (ALS, Hirntumor) von der Außenwelt, ihren Mitmenschen und am Ende vom eigenen Körper nach.
Um Grenzen und Rückzugsräume ganz anderer Natur geht es etwa in den vielen Geschichten, die ihre Figuren räumlich bzw. geografisch genauer verorten und dabei oft subtile soziale Grenzziehungen aufscheinen lassen. Da wohnt man schon mal in Stadtteilen mit der geringsten Ausländerquote, lebt in bester Lage, wo es so ruhig ist, dass eine Horde Betrunkener schon eine kleine Sensation darstellt. Noch deutlicher manifestieren sich diese Grenzen, wo es auf Reisen geht. Da ist die Literaturstipendiatin, die sich in New York vom Gequassel eines Mannes auf offener Straße belästigt fühlt und ihn allein deshalb kurzerhand für einen Obdachlosen hält, bevor sie sich ihm räumlich wie akustisch einfach entzieht:
Da hatte ich genug. Während er bei Rot den Fußgängerstreifen überquerte, blieb ich einfach stehen. Dann bog ich in die Querstraße ab und setzte die Kopfhörer auf.
(Seite 38)
Da ist der junge Backpacker, der ohne Probleme mit Papas Kreditkarte durch Europa reist und schließlich sogar mit der Fähre von Gibraltar aus übersetzt – eine Passage, die für hunderte Afrikaner tagtäglich zum existenziellen Höllentrip wird. Und da sind abermals junge Wohlstandstouristen in Saskia Warzechas Geschichte „Glas“, die wie hinter Sicherheitsglas durch Marseille wandeln und sich dabei für ihre Privilegien und am Ende sogar für ihr Mitleid schämen: „Aufs Mittelmeer können wir nicht schauen, ohne uns zu schämen.“ (120)
Dass Abkapselung auch den Literaturbetrieb und im speziellen sogar Schreibschulen betrifft, wird schlagartig in dem kurzen Text „Ich, LH“ von Lara Hampe deutlich, der als eine Art literarisches Testament daherkommt. Dass sie darin ihre Habseligkeiten, ob materiell, virtuell oder körperlich samt und sonders an ihre KommilitonInnen und DozentInnen vom Literaturinstitut vererbt, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Die Schreibschule erscheint als selbstreferenzieller Kosmos, der sich in der Ausforschung und Zirkulation privatester Mythen und Fetischobjekte untereinander ergeht. Für den Außenstehenden bleibt dieses Testament ebenso kryptisch wie skurril. What’s in the DLL, stays in the DLL?
Um zwei junge Kreative in selbstreferenziellen Blasen geht es auch in Simon Kalus’ Beitrag „Keta in Zeiten des Krieges“: Da ist der Erzähler, der sich über seinen exzessiven Ketamin-Konsum sowie seine ebenso obsessive Versenkung in Clubnächten maximal weit in sich und sein (sprachlich stark ausformuliertes!) Drogendelirium zurückgezogen hat, um endlich Inspiration für seine halbgaren musikalischen Basteleien zu finden. Und da ist Nadine, seine Freundin, die sich in ihrem durchstrukturierten Alltag aus Fernstudium und Kochen eingerichtet hat und mit „Social-Media-Gutmenschen-Dings“ glaubt, die Welt verbessern zu können. Rücksichtslos wird die Blasiertheit und Doppelmoral dieser studiert-kreativen Blasenbewohner freigelegt. Der Blick hinaus in die Welt wird kurzerhand wegdiskusiviert, politisches Engagement verkommt zu banalen Facebook-Posts oder der Lektüre kulturkritischer Bestseller – ein Akt, der selbst schon zur affektierten Pose erstarrt scheint: Jiska etwa, die in Marko Milovanovics Kurzgeschichte „Übers Meer“ damals noch bei den G8-Protesten in Genua dabei war, begnügt sich heute mit der Lektüre von „No Logo von Naomi Klein, über das die halbe Welt sprach.“ (324) Oder Paul, der träge Politikstudent in André Pattens gleichnamiger Story, der beim Parkspaziergang einen Band von Byung-Chul Han mit sich herumträgt, „den er lesen möchte, aber nicht liest.“ (319)
Expeditionen und Experimente am Rand
Doch die Tippgemeinschaft 2016 versammelt durchaus genügend Texte, die es wagen, die Seiten zu wechseln, die sich einer hegemonen Subjektposition verweigern und die sich dahin begeben, wohin sich gerade junge Literaten zuletzt so selten hingewagt haben: raus in die Welt, in Milieus und Mentalitäten jenseits der eigenen Blase. Und so kann man in den schwarzen Kreisen zwischen den Texten gut und gerne auch Gucklöcher erkennen, durch die man als Außenstehender nicht nur einen Blick in die Schreibstuben des DLL erhascht, sondern durch die die AutorInnen selbst aus ihren „Werkstätten der bürgerlichen Sensibilität“ (Ina Hartwig in ihrem Vorwort, 11) weit hinaus in die Welt zu schauen vermögen.
Da gilt es beispielsweise migrantische Erfahrungswelten zu entdecken. So folgen wir in Özlem Özgül Dündars Geschichte einem jungen Deutschtürken auf seiner nächtlichen Odyssee. Zerrissen zwischen den Gepflogenheiten und Geheimnissen der fremden Heimat seiner Eltern und jener heimischen Fremde in Deutschland, die ihm die Tannenbäume vor seinem Fenster beständig ins Bewusstsein rufen, scheint er jegliche Orientierung verloren zu haben. Auf eine Irrfahrt begibt sich auch Zofia, die Protagonistin aus Alexander Kappes Story „Im Dunklen Nadelwald“, die sich zwar selbst als Polin bezeichnet, jedoch kein Wort Polnisch spricht. Ihre Reise in die Heimat ihrer Eltern und Verwandten wird dabei als bisweilen surrealer Bewusstseinsstrom ausbuchstabiert, in dem diffuse Erinnerungsfetzen an die eigene Kindheit und den toten Vater ebenso wie deprimierende Alltagserfahrungen aufblitzen. Kappe ist das überzeugende Protokoll einer komplizierten Identitätsfindung zwischen Polen und Deutschland, Gestern und Heute, Wahn und Wirklichkeit gelungen. In Kathrin Jiras „Behandlungen“ tritt neben die migrantische eine dezidiert weibliche Perspektive. Abgesehen von den Behandlungen, die die junge Zahnärztin Olly selber an ihren Patienten durchführt, geht es hier vielmehr um die dreiste Behandlung, die sie sich von ihren männlichen Mitmenschen gefallen lassen muss. Schonungslos fokussiert der Text die Penetranz männlicher Annäherungsversuche, die oft mit einer plumpen Reduktion der Protagonistin auf eine ethnische und weibliche Identität einhergehen.
Als spannend gestaltet sich auch der Einblick in einzelne soziale Milieus abseits bildungsbürgerlicher Sphären. Ebenso komisch wie ernüchternd lesen sich etwa die Szenen aus den „Lehr- und Herrenjahren“ von Domenico Müllensiefens Erzählerfigur in einer abgestumpften kleinbürgerlichen Welt zwischen Handwerksbetrieb und Schützenverein („Leichenstrasse“). Kaum weniger authentisch gelingen die Schilderungen der gewieften Klau-Kids bei Bettina Wilpert („Das Kartenhaus“) oder der Plattenbau-Jugend in den Gedichten von Janin Wölke („Storage Rooms“). Als besonders außergewöhnlich ist hier auch Nadja Wiesers dramatischer Text „Im Gras“ hervorzuheben. Was sich zunächst als seltsam postapokalyptisches Szenario mit Cyberpunk-Anleihen ausnimmt, entpuppt sich nach und nach als ein durchaus humorvoller Insiderbericht vom äußersten Rand unserer Wegwerf- und Konsumgesellschaft. Mit einem sicheren Gespür für Komik und Milieu entwirft Wieser vier putzige Charaktere mit je eigenem Slang. Diese finden sich zu einer Bande von Flaschensammlern zusammen, um im tristen Faserland zwischen Park und Supermarkt über die Runden zu kommen.
Überhaupt vermögen gerade die dramatischen Texte in dieser Anthologie sowohl inhaltlich wie formal-stilistisch zu überzeugen. Neben Nadja Wieser sind hier vor allem die Beiträge von Yade Yasemin Önder und Cathrin A. Stadler zu nennen. Ersterer entwirft das beklemmende Szenario einer Stadt aus durchnässten Kartonhäusern und setzt ganz nebenbei in seiner zweiten Szene, die Milieustudie und Abenteuer zugleich ist, einen der narrativen Glanzpunkte im Band. Zweiterer spürt dagegen mit viel Mut zum grausamen Detail den perversen Mechanismen von Sensationslust und Entsetzen beim Abbilden menschlichen Elends nach. Die Wucht und Experimentierfreude dieses wahrhaft postdramatischen Entwurfs von Theatertext, wie er in diesen Beiträgen aufscheint, hat mit dem DLL-Absolventen Wolfram Lotz unterdessen längst die Bühnen deutschsprachiger Stadttheater erobert.
Verglichen damit scheinen die Prosatexte in dieser Textauslese weniger zu formal-narrativen Experimenten aufgelegt. Abgesehen von einer Reihe surreal-absurder Erzählungen wie etwa von Julian Walther, Jonathan Böhm, Johanna Maxl oder Paul Watermann, sucht man in dieser Tippgemeinschaft weitgehend vergeblich nach Spuren der literarischen Postmoderne. Eine unterhaltsame Ausnahme bildet Marcus Klugmanns Beitrag „Eine Gekürzte Fassung“. Klugmann betreibt hier ein gekonntes Spiel mit den Erzählebenen, lässt den Erzählstrang nach der Hälfte vollständig fallen und gibt stattdessen ein Gespräch über schrecklich alltägliche Beziehungsverwirrungen wieder.
So erweist sich die Tippgemeinschaft bei allem Hang zu bestimmten motivischen Dauerbrennern (Eltern, Wälder und soziale Blasen) eben doch als eine Lottoziehung mit Überraschungen und einer ganzen Reihe spannender Entdeckungen. Gerade da, wo die Texte gewohnte Bahnen verlassen, neue Milieus jenseits der eigenen „Blase“ erforschen und / oder den Mut zum formalen Experiment haben, schwingt sich dieser Werkstattbericht aus dem DLL zu seinen aufregendsten Momenten auf. Doch auch abgesehen von aller Fluktuationen in Qualität und Innovationskraft liegt die eigentliche Stärke dieser Textsammlung in der Stärke einer jeden Tippgemeinschaft – ganz gleich ob im Lotto oder in der Literatur – begründet: in ihrer Vielfalt.
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