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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Begegnungen

Der Kritiker Michael Braun im Gespräch über Werke der bildenden Kunst
Hamburg

Seit Jahrtausenden wird über Wechselwirkung und Berührungspunkte von Dichtung und Malerei diskutiert. So wird dem griechischen Dichter Simonides von Keos das Zitat „poema pictura loquens, pictura poema silens“ (das Gedicht ist ein sprechendes Bild, das Bild ein schweigendes Gedicht) zugeschrieben. Horaz hat dies vor rund 2000 Jahren in seiner Ars poetica verdichtet zu „ut pictura poiesis“ (wie ein Bild [sei/ist] die Dichtung), jener These, die den Ausgangspunkt vieler Gespräche nicht nur unter Kunstschaffenden bildete. Doch was bedeutet dieser Satz heute? Was macht die Faszination aus, die Gemälde, Skulpturen, Videoinstallationen auf heutige SchriftstellerInnen ausüben, sie anregen, sich damit auseinanderzusetzen, ihnen in und mit ihren Texten zu begegnen?

Der Literaturkritiker Michael Braun hat vier Dichter und eine Dichterin, die sich mit Werken der bildenden Kunst beschäftigen, mit dieser „fast magischen Formel für das poetische Nachdenken über Kunst“ konfrontiert, hat sie nach ihren Zugängen befragt und diese anhand konkreter Textbeispiele ausgeführt. Die daraus entstandenen Gespräche wurden bereits in diversen Medien publiziert und werden nun in diesem Buch gesammelt zum Nach- oder Erstlesen präsentiert.

Vorangestellt hat Braun seinen Essay „Ut pictura poiesis. Was die Bilder erzählen“, in dem er, Horaz zitierend, auf eine wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Künste hinweist:

„Eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst; dieses liebt das Dunkel, dies will bei Licht beschaut sein; ... dies hat einmal gefallen, doch dieses wird, noch zehnmal betrachtet, gefallen.“

Ziel seines Buchs, so Braun, sei es, nicht nur die Korrespondenzverhältnisse zwischen Poesie und Bildender Kunst zu dekodieren, sondern auch die biographisch-ästhetischen Urszenen der AutorInnen auszuleuchten und damit direkt ins Zentrum der dichterischen Werke zu führen.

Ich muss immer von einem Text oder von einer Idee, von einem Projekt am Nacken gepackt werden

sagt Klaus Merz über seinen Zugang zur Bildnerischen Kunst. Man müsse zuhören, was einem die Bilder erzählen – und diese Erzählung dann mit den Geschichten und Eindrücken verbinden, die man in sich selbst habe. Durch diesen Prozess entwickle sich dann etwas Neues. Für ihn seien Bilder immer wichtig gewesen. Wenn er sich manchmal „sehr fremd und befremdet vorkomme in der heutigen Welt“, winke ihm „Rettung“, wenn er Werke der bildenden Kunst betrachte, etwa einen Veronese oder Bellini, in deren Werken nicht der Heiligenzirkus zelebriert, sondern die menschliche Kreatur ins Zentrum gestellt werde. Die Beschäftigung mit bildender Kunst sei eine Art Denk- und Sehschule für den Menschen und Bilder für ihn oft von ganz elementarer Natur.

Ich glaube, dass in den gelungenen Bildern immer eine Ahnung vom Ganzen und von Ganzheit drinsteckt. Durch ihre Betrachtung schauen wir tiefer in Dinge – und eben in uns.

Drei Texte werden vorgestellt und die Bezüge zu den Bildern der KünstlerInnen angerissen, zuletzt der Bezug zu Heinz Egger, der etliche Buchcover von Klaus Merz gestaltet und manche seiner Bücher illustrierte. Merz spricht von „paraphrasieren“, also dem umgekehrten Weg, dass nämlich Egger zu seinen bereits vorhandenen Texten „bildnerische Zu-Sätze in Form und Farbe – oder auch nur Schwarzweiß“ kreiere.

Anders der analytische Zugang von Nico Bleutge, der sich statt auf Horaz lieber auf Lessing bezieht. Ein Werk der bildenden Kunst sei etwas, das uns auf einmal, augenblicksartig entgegentrete und sich der Zeit entgegenstemme, wohingegen Sprache immer mit einem Nacheinander in der Zeit zu tun habe, weil sie Sätze aufbauen müsse, die abliefen und dadurch der Zeit unterworfen seien. Doch, so Bleutge, um ein Werk der bildenden Kunst genau zu betrachten, müsse man auch diese Gesamtkomposition in ihre Einzelteile zerlegen, sei einem zeitlichen Ablauf unterworfen, da man nur nacheinander anschauen, mal dies, mal jenes kleine Moment in den Blick nehmen könne. Der große Reiz bei seinen Betrachtungen sei immer die Frage: Wie könne er sich in einer Art „Übersetzungsprozess“ anregen lassen für das eigene Schreiben.

Welche Momente sind es, die mein Gedicht anreichern können, wie kann mir dieser Übersetzungsprozess vielleicht neue Formmöglichkeiten für das Gedicht geben? ...

... ich habe versucht, mich sehr nah heranzutasten über die Wahrnehmung und über die Art, wie Wahrnehmung mir in der Sprache immer schon begegnet, mit welcher Sprache und mit welcher Art von Sätzen; mit welcher Metaphorik vielleicht auch. Dann versuche ich, diesen Prozess nachzuvollziehen, ...

Genaue Wahrnehmung als Basis für den eigenen Schaffensprozess, dem Dichten, um zwei künstlerische Energien miteinander in Beziehung zu setzen, ein Prozess, der mal mehr, mal weniger vom eigenen Erinnerungs-Echoraum gespeist wird. An drei Gedichten werden solche „Urszenen“ beleuchtet und die mannigfachen Bezüge zu den bildnerischen Arbeiten, von denen die Texte ihren Ausgang nahmen.

„Poesie am Rande des Nervenzusammenbruchs“ hat Braun das Gespräch mit Gerhard Falkner übertitelt. Anhand des Gedichtsbands „Ignatien“ werden zunächst die Textkorrespondenzen mit Rilkes Duineser Elegien sowie anderer Einflüsse, etwa von Nietzsche oder Ginsberg beleuchtet. Falkner bekennt seine große Affinität zur Homöopathie, die auch in der von ihm bewunderten Sprachmacht von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, wurzelt. Falkner habe versucht, mit den Ignatien eine eigene poetische Form zu etablieren. Wichtig sei ihm, das „manische Sprechen“ als Treibmittel für seine Gedichte einzusetzen, das als Gegenpol zur Melancholie Teil des Erscheinungsbildes der bipolaren Störung sei.

Es geht mir mit oder in den Ignatien um eine grundsätzliche Revision der allgemein verbreiteten Gleichsetzung von Melancholie und Depression. Das ist völliger Unsinn.

Die Melancholie besitze eine enorme dichterische Kraft, während die Depression nur kahl, tot, uninspiriert und zerstörend sei. Die klinische Depression habe mit Möglichkeiten der Kunst überhaupt nichts zu tun, sondern bestehe in der völligen Unfähigkeit zum Ausdruck.

Michael Braun schreibt über den Schriftsteller in seinem einleitenden Text:

Gerhard Falkner radikalisiert die Frage nach der Möglichkeit von Kunst und Poesie, indem er die Bilder und Zeichen unserer digitalen Gegenwart mit einer Gedichtsprache konfrontiert, die selbst von den kalten Terminologien des Internet-Zeitalters zehrt.

Das Wort „zehrt“ kann ich im zugehörigen Gespräch nicht nur nicht nachvollziehen, sondern verstehe die Sätze Falkners im gegenteiligen Sinn. Falkner beschäftigt das Verhältnis zwischen poetischer (animierter) Sprache und „geführter“ (instrumentalisierter) Sprache. Doch er beklagt die Kluft zwischen den Sprechweisen, die immer größer werde, bezeichnet die Kommunikation über die sozialen Medien und die neuen technologischen Möglichkeiten als „Massenbetäubungsmittel“. Sein manisches Sprechen sei diesen „superkurzen Einsatz- und Bereitschaftssprachen“ entgegengesetzt, sei ein hymnisches Sprechen, das zu den „inzwischen verabreichten Sprachen, mit denen wir kontrolliert werden“ kontrastiert werde.

Für den Band Ignatien hätten sich überraschende Korrespondenzen zwischen Falkners Gedichten und den Bildern von Yves Netzhammer ergeben, einem Künstler, in dessen Videoarbeiten es eine starke Bildmächtigkeit gebe, die mit Falkners angestrebter Sprachmächtigkeit korreliere. Zudem arbeite dieser mit der Verbindung von exaktem, technischem und formalem Kalkül mit der surrealistischen Bildmetapher, die von ihm im Text ganz ähnlich aufgebaut werde. Grundmotive seien „Schönheit und Entsetzen“. Das eine sei das Manische und das andere das Melancholische. Als Beispiele werden Gedichte aus dem Band Ignatien angeführt.

Als vierter kommt der Lyriker Marcus Roloff zu Wort. Für ihn steht die Erschütterung am Anfang seiner Bild-Text-Arbeiten:

Vom Schauder zum Text. Wenn man nicht wirklich erschüttert ist, ist es auch schwer, ein Gedicht, überhaupt einen Text zu schreiben ...

Für ihn sei klar, dass dieser Zugang zum Werk nicht verstellt sein sollte von Zusatzwissen. Zuerst ginge es darum: Was sehe ich? Sehe ich überhaupt etwas? Was ist dieses Etwas? Was ist es, das man nicht sieht, aber das womöglich andere sehen? In seinen Texten ginge es grundsätzlich ambivalent zu, nie einsinnig, es gebe immer Brechungen. Er übersetze, was er sehe und bringe es auf seine Größe, teilweise noch ein bisschen darüber hinaus. Eine zentrale Kategorie seiner Dichtung sei der Prozess der Wahrnehmung:

Voraussetzung: das reine, nackte, von allem unbeeinflusste Subjekt, das dasteht und was zu sehen versucht. Das ist die Situation und sie ist so unheimlich grundsätzlich ...

Die Wahrnehmung beschäftigt sich mit sich selbst. Was dann als Realgehalt aufgerufen wird, das sind leichte Verzerrungen. Es geht mir nicht darum, ein Bild erschöpfend zu betrachten, sondern um Überblendungen.

Nie gehe es darum, ein Bild oder Bildnis zu beschreiben, sondern zu zitieren in diesem Wahrnehmungsflow, in dem man sich befinde. Das seien Reste einer realen Hängung. Er habe oft auf der Grundlage erinnerter Bilder geschrieben. Es gehe viel um Erschütterungen und Verstörungen. Für ihn sei schön, dass es Kunst gebe, dass man sich an etwas Vorliegendem abarbeiten könne, reagiere auf etwas, sich nichts im klassischen Sinne ausdenke und quasi so ins Blaue dichte. Gleichzeitig sei es wichtig, eine Versprachlichung dessen zu erreichen, wie und was man sehe. Oder eben nicht sehe. Und das könnte der Reiz eines Gedichts sein. Auch hier dienen drei Gedichte als Ausgangspunkt seiner Ausführungen.

Als letzte kommt Silke Scheuermann zu Wort, die auch selbst „ganz ohne professionellen Anspruch“ zeichnet, wenn es mit dem Schreiben nirgends weitergeht. Sowohl in ihren Romanen als auch in ihren Gedichten finden sich mannigfaltige Bezüge zur bildenden Kunst. In ihrem Gedichtband „Skizze vom Gras“ ist ein Kapitel „Zweite Schöpfung“ betitelt. Alle Kunst sei seit jeher unsere zweite Schöpfung, so Scheuermann.

Als die Schöpfung des Menschen, als Parallel-Aktion zur Naturschöpfung, als das Geniale, was der Mensch hinbekommt.

Es sei die Erfahrung von Transzendenz, die sie habe, wenn sie vor manchen Kunstwerken stehe, eine Art von Überwältigtsein, von Gefallen, und von der schöpferischen Ordnung der Welt. Für sie sei die These von Horaz „Ut pictura poiesis“ ein schön formuliertes Ziel.

Aber das Problem ist ja, dass ich mich als Autor auf dieses abstrakte sprachliche Zeichensystem verlassen muss, da ist also erst einmal eine Distanz zu den inneren Bildern zu überbrücken, eine Übersetzungsleistung zu tun. Ich denke, dass das Bild da immer vorneweg ist. Gleichwohl ist das Gedicht von allen Literaturgattungen am nächsten dran an der Bildenden Kunst ... Gedichte sind weitaus haltbarer als Romane, über die Jahrhunderte hinweg.

Sie sehe Parallelen zwischen Gedichten und surrealistischen Bildern: Die Zusammenfassung von Zeit, und die Möglichkeit, durch mehrere Strophen, Zeiten, Wochen zu fließen, ohne ganz rational zu sein. Anhand von zwei Gedichten wird die Korrespondenz zwischen beiden Kunstgattungen vor- und in die Intentionen der Dichterin eingeführt.

Diese unterschiedlichen Standpunkte und Zugangsweisen von fünf LyrikerInnen sind interessant, manchmal erhellend zu lesen. Der Gesprächscharakter hat Charme, es wird vieles angerissen, doch manchmal hätte ich mir mehr Tiefe, eine intensivere, punktgenauere Auseinandersetzung gewünscht. Im Anhang ist ein Teil der zu den Gedichten korrespondierenden Bilder abgedruckt, leider nicht alle, vielleicht aus urheberrechtlichen Gründen, was ich als Mangel empfinde, nicht nur hier, sondern oft, wenn ich Gedichte zu Werken der bildenden Kunst lese, ohne dieses Werk zu kennen oder nicht wenigstens ein Abbild zur Verfügung zu haben – es fehlt ein wesentlicher Teil der Korrespondenz!

Michael Brauns subjektive Auswahl seiner GesprächspartnerInnen ist zu respektieren, doch ich finde es bedauerlich, dass für ein Buch mit dem Untertitel „Poesie und Bildende Kunst“ neben vier Männern nur eine Frau als Gesprächspartnerin auserkoren wurde, bedauerlich vor allem deshalb, weil es im Jahr 2016 immer noch notwendig ist, auf die gängige Nicht- oder Minderbeachtung von Frauen aufmerksam zu machen. „Wir sehen nicht, was wir sehen“, heißt es an einer Stelle im Buch. Angesichts vieler, durchaus auch bekannterer Lyrikerinnen, die mit und zu Kunstwerken gearbeitet haben und arbeiten, ist und bleibt diese spezielle Sehschwäche, die Frauen nicht und nicht entsprechend wahrzunehmen gewillt ist, ein Ärgernis.

Michael Braun · Nico Bleutge · Gerhard Falkner · Klaus Merz · Silke Scheuermann · Marcus Roloff
Die Zweite Schöpfung
Poesie und Bildende Kunst
Wunderhorn
2016 · 88 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-88423-522-5

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