Ein Roman mit Biss
Eine Besprechung zu schreiben, bedeutet nicht zuletzt Brücken zu schlagen, vom Buch zu seinen potenziellen Lesern. Während Valeria Luiselli einen unterhaltsamen, klugen und satirischen Roman aus dem Auftrag, Brücken zwischen der Welt der Kunst und ihren Konsumenten zu schlagen, gemacht hat, beiße ich mir schon seit geraumer Zeit die Zähne an meinem Versuch des Brückenschlagens aus. Das liegt in keiner Weise an dem Buch und dem Lesegenuss, den es verschafft, sondern an eben dieser Vielzahl von Brücken, die Luiselli in ihren Erzählungen versiert schlägt. Dabei ist ihr Roman selbst nicht zuletzt eine Allegorie auf die Macht des Geschichten Erzählens.
Auf den ersten Blick ist „Die Geschichte meiner Zähne“ eine Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende. Eine chronologisch erzählte Lebensgeschichte von einem Mann mit schlechten Zähnen und gutem Verkaufstalent. Der Protagonist Sánchez, auch Carretera genannt, ist hässlich, aber dafür hat ihn die Natur mit einem starken Charakter ausgestattet, so dass er aus jeder Lage, in die er gerät, das Beste zu machen versteht. Damit verkörpert Sánchez den Leitgedanken dieses Romans. Kunst ist nicht zuletzt die Fähigkeit nichtssagenden, bedeutungslosen Dingen, Wert zu verleihen.
Luiselli lässt Sánchez selbst von seiner beruflichen Karriere vom Wachmann über den Betriebströster zum „weltbesten Auktionator“ erzählen, von seiner amourösen Laufbahn und der Geburt eines Sohnes.
Dabei erzählt Sánchez nicht zuletzt fortwährend von seinem einzigartigen Talent, Geschichten zu erzählen. Nicht zuletzt wertsteigernde Geschichten über sich selbst. Er ist der „weltbeste“ Auktionator, weil er nicht nur Gegenstände, sondern ihre Geschichte versteigert.
Valeria Luisellis „Roman“, so könnte man sagen, basiert im Wesentlichen auf der „allegorischen Methode nach Sánchez“.
„Allegorische Auktionen waren laut Carretera „postkapitalistische Versteigerungen für radikales Recyling, welches die Welt vor ihrem Schicksal als Mülleimer der Geschichte bewahren könnte.“
Spätestens jetzt muss von den besonderen Entstehungsbedingungen des Buches erzählt werden.
Sowohl die Saftfabrik in der Carretera laut Roman viele Jahre lang als Wachmann gearbeitet hat, existiert wirklich, sie fungierte als Sponsor für das Projekt, als auch die Kunstgalerie, für die Luiselli einen Katalogtext schreiben sollte, und deren Kurator im Roman „Ratzinger“, Carreteras Sohn ist. Im Epilog schreibt Luiselli: „Ich wollte nicht nur über die Fabrik und die Arbeiter schreiben, sondern vor allem für sie.“ Und da Luiselli das durchaus ernst meinte, schrieb sie ihr Buch in wöchentlichen Fortsetzungen, die die Arbeiter nicht nur lesen, sondern auch kommentieren konnten.
Diese Lesungen, einschließlich der Gespräche und der Kritik, wurden aufgezeichnet und Luiselli bezog das so Gehörte in die weitere Arbeit ein. So dass viele Geschichten des Buches ihren Ursprung in den von den Arbeitern erzählten Anekdoten haben.
Das im Zusammenhang mit Augustinus fallende Zitat: „eine Reihe sammelbarer confessiones, deren größter Zauber darin liegt, dass sie beim Lesen in den Besitz des Lesers übergehen“, hat Luiselli nicht nur wörtlich genommen, sondern radikalisiert, indem sie die Arbeiter, als diejenigen über die sie schreiben sollte, in den Schreibprozess einbezogen hat.
Im Roman wird die Auftragnehmerin, Valeria Luiselli, über ihre Figur Sánchez zur Auftraggeberin. Im vorletzten Kapitel trifft Sánchez auf einen jungen Mann, der sich auf der Suche nach „relingos“1 befindet, und dabei Carretera trifft. Dieser Beto Bálser, dessen Suche treffend mit den Leerstellen in Sánchez Mund korrespondiert, wird abschließend die Geschichte von Carreteras inzwischen verlorenen Zähne, etwas modifiziert, als Biograph erzählen.
Sowohl vom Katalogtext für die Sammlung in die Geschichte selbst, als auch innerhalb der Geschichten, Luiselli errichtet Brücken, wohin man blickt. Ein Dickicht, ein Labyrinth von Brücken. So dass letztendlich, im vorletzten Buch, die Geschichte des vorliegenden Romans erzählt wird: „In jener Zeit schrieb ich an der Biografie seiner Zähne, ging dabei von Carreteras oralen Geschichten aus, die er mir morgens erzählte [...]“
Respektlos mischt Luiselli in „Die Geschichte meiner Zähne“ alles mit jedem, Katholizismus mit Kapitalismus, Zähne berühmter Menschen mit Reliquien. Parabolisch, übertreibend ist das ganze Buch, in dem Valeria Luiselli schamlos Namen, Ideen und Sätze anderer Schriftsteller „recycled“ wie sie selbst das nennt.
So wie Sánchez in einer der Schlüsselszenen des Buches derart berauscht von der Dynamik der Auktion ist, dass er sich selbst versteigert, betreibt Luiselli rauschhaft ein Recycling von Namen und Ideen. Sie selbst nennt ihr Buch „kollektiver Roman-Essay“. Eine Umsetzung der Idee nach der Kunst funktioniert: Nicht das Objekt an sich stellt den Wert dar, sondern die Geschichte, die es entweder selbst erzählt, oder die über das Objekt erzählt werden kann.
- 1. Dabei handelt es sich um eine besondere Art von „Leerstelle“ im urbanen Raum, Luiselli hat darüber in ihrem Essayband „Falsche Papiere“ geschrieben, ein Auszug aus diesen Essays findet sich wortgetreu in „Die Geschichte meiner Zähne“.
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