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Kritik

Wie der Kommentar seines eigenen Werkes

Michel Houellebecqs Lyrik in einer neuen Gesamtausgabe
Hamburg

Die Kanonisierung der Werke Michel Houellebecqs hat begonnen. Vor allem in Frankreich, wo im Januar diesen Jahres der erste Band einer entsprechenden Werkausgabe erschien. Das Vorwort dazu hat der Autor selbst verfasst. Sicher ist sicher. Aber auch in Deutschland scheint man darauf bedacht zu sein, vergriffene bzw. auf verschiedene Verlage verteilte Bücher des Franzosen endlich unter einen  Hut zu bringen. In einheitlichem Design, versteht sich. Allerspätestens mit den Reaktionen auf seinen letzten Roman Unterwerfung (2015) hat nun jeder, den es interessiert, verstanden: Houellebecq hat sich fest in die europäische Literaturgeschichte eingeschrieben. Dass der Verlag Dumont die deutschsprachigen Leser in kurzer Folge mit Neuausgaben seiner Romane und sogar seiner Essays und Gedichte versorgt, scheint also folgerichtig. (Und lässt auf eine Neuausgabe von Houellebecqs Essay über H.P. Lovecraft hoffen.)

Der nun erschienene Band Gesammelte Gedichte fasst die vier Lyrik-Einzeltitel Der Sinn des Kampfes (1996), Suche nach Glück (1997), Wiedergeburt (1999) und Gestalt des letzten Ufers (2013) zusammen.1 Nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, es gibt weder ein Vor- noch ein Nachwort, geschweige denn einen angehängten Kommentar zur Entstehung der Texte oder ähnliche editorische Zugaben. Eine eventuell angebrachte Neuübersetzung der Texte fand ebenfalls nicht statt. Angebracht wäre sie wohl deswegen, da Hinrich Schmidt-Henkel, der den Löwenanteil der Gedichte übersetzt hat, uns auf Deutsch gewissermaßen einen anderen lyrischen Houellebecq lesen lässt, als er im französischen Original vorliegt. Denn Houellebecq reimt vom ersten bis zum letzten Gedicht fast durchgehend und auf Teufel komm raus, was mitunter sehr bemüht wirkt. Überhaupt ist auffällig, dass Houellebecq sich hinsichtlich Reim, Metrum und Form recht klassisch und meist geradezu puristisch verhält. Neben vereinzelten Sonetten bevorzugt er vor allem Gedichte von drei bis vier Strophen à vier Verse, jambisch oder trochäisch, ab und zu mal ein Alexandriner.2

Im Deutschen bleiben davon vor allem freie Verse übrig, die einen Sinn in diesen Formalien kaum mehr erkennen lassen. Interessant ist hingegen, dass die Übersetzungen dadurch einen wesentlich lakonischeren, beiläufigeren und abgekämpfteren Tonfall bekommen als in der harmonisierenden, französischen Sprachmelodie. Und dieser Tonfall steht den Inhalten der Texte wiederum sehr gut. Vor allem die ersten drei Gedichtbände, die ab Mitte der 1990er rasch hintereinander erschienen, stehen in engem Zusammenhang mit den ersten drei Romanen Ausweitung der Kampfzone (1994), Elementarteilchen (1998) und Plattform (2001). Es scheint fast so als habe man es hier mit einer Art Doppeltrilogie zu tun. Das heißt, es dreht sich auch im lyrischen Werk Houellebecqs vieles um den Kampf des Einzelnen in der Gesellschaft mitzuhalten, um die Suche nach attraktiven Sexpartnern und einem Karriereweg, der das eigene Leben als geglückt erscheinen lässt; kurz: um die Suche nach Glück.

Wer Houellebecqs Romane kennt und seinen einzelgängerischen Protagonisten in die anonymen Büros, die Diskotheken und Swingerclubs gefolgt ist, weiß, auf welche Settings und Sujets er sich auch in dessen Lyrik einstellen kann. Kurz zusammengefasst mit dieser Strophe:

Les gents sont coincés dans leurs peaux,

Ils font danser leurs molécules

Le samedi ils se font beaux,

Puis ils se retrouvent et s'enculent.

Die Leute sitzen in ihre Haut festgekeilt,

Sie lassen ihre Moleküle tanzen

Samstags machen sie sich hübsch,

Dann tun sie sich zusammen und ficken.

Die angesprochene Nähe der frühen Gedichte zu Houellebecqs Romanen lässt sich hier auch am Wort „Moleküle“ ablesen. Tatsächlich findet man eine ganze Reihe von Motiven und Ideen, die sich sehr leicht etwa dem Entstehungsprozess von Elementarteilchen zuordnen lassen. Von Nekrosen ist die Rede, von Tumoren im Uterus und Zellforschung. Auch die Reflexion der irischen Küste als äußerste Grenze der westlichen Welt spielt eine wiederkehrende Rolle. Sogar der Name Annabelle, einer Figur des Erfolgsromans, taucht mehrfach auf.

Diese Parallelstellen lassen einige Vermutungen über die lyrischen Arbeiten Houellebecqs zu, die trotz ihrer Form meist den Charakter von bekenntnishaften oder reflektierenden Notizen haben. Das führt zu dem Eindruck, dass die eigentliche (auch sprachliche) Verdichtung bei Houellebecq in seinen Romanen stattfindet, während seine Gedichtbände ausufernde und ziemlich redundante Sammlungen von Gedanken, Skizzen und kurz notierten Eindrücken sind.

Interessant ist allerdings, dass in den ersten drei Gedichtbänden thematische Schwerpunkte gesetzt bzw. die Sammlungen nach eben diesen zusammengefasst wurden. Geht es in den Gedichten aus Der Sinn des Kampfes vorrangig um die Hürden des Einzelnen im Zusammenleben mit seinen Artgenossen, sind es in Suche nach Glück vor allem ganzheitliche Überlegungen zur Sterblichkeit des Menschen und seiner Rolle im „Naturganzen“, die etwas mythologisches, fast metaphysisches bekommen.

La conscience exacte du soi

Disparaît dans la solitude.

Elle vient vers nous, l'infinitude …

Nous serins dieux, nous serons rois.

Das genaue Bewusstsein seiner selbst

Verschwindet in der Einsamkeit.

Sie kommt auf uns zu, die Unendlichkeit …

Götter werden wir sein, und Könige.

Im dritten Band Wiedergeburt überwiegen schließlich Gedichte, die auf Reisen spielen, das Unterwegssein reflektieren, implizit und explizit vom Tourismus handeln. Es lässt sich also auch eine Nähe zum Roman Plattform ablesen.

Im jüngsten Band Gestalt des letzten Ufers, der mit großem zeitlichen Abstand zu den vorherigen Bänden erschien, variiert Houellebecq das Thema, dass in all seinen Gedichten immer am deutlichsten mitschwingt: den Tod. Erstmals fasst er in dieser Sammlung Texte zu Zyklen und betitelten Kapiteln zusammen. Fast scheint es so, als wolle er begrenzen, was unaufhaltbar zu zerfließen droht, zerfließen wird.

Il n'y a plus vraiment de parcours prévisible,

Il se passe des choses totalement indicibles.

Es gibt keinen wirklich vorhersehbaren

Lebenslauf mehr,

Es ereignen sich die unsagbarsten Dinge.

Angesichts dieser einfachen, resignierenden Erkenntnis scheint Houellebecq ein wenig das Interesse an Einzelschicksalen, auch seinem eigenen, verloren zu haben. Zwar dokumentiert er mit Gestalt des letzten Ufers weiterhin, wie auch mit allen anderen Bänden zuvor, seinen eigenen und für die Öffentlichkeit allzu gut erkennbaren körperlichen Verfall, es überwiegen jedoch die Gedichte, in denen er von der Gesamtheit der „Menschenwesen“ („êtres humains“) spricht; ein Ausdruck übrigens, der sich konsequent durch das gesamte Werk Houellebecqs zieht. Der Fokus verschiebt sich von der Frage „Wie leben?“ zur Frage „Wie geht es zu Ende?“. So kommt Houellebecq vor allem gegen Ende des Bandes zu kosmologischen, metaphysischen und mitunter sogar geologischen Motiven, die er, so scheint es, sogar mit einem poetologischen Vierzeiler kommentiert.

Il faudrait traverser un univers lyrique

Comme on traverse un corps qu'on a beaucoup

aimé

Il faudrait réveiller les puissances opprimées

La soif d'éternité, douteuse et pathétique.

Man müsste ein lyrisches Universum

durchmessen

Wie man einen Körper durchmisst, den man sehr

geliebt

Man müsste die unterdrückten Mächte wecken

Den Durst nach Ewigkeit, den fragwürdigen,

pathetischen

Schließlich endet das alles in der apokalyptischen Fantasie.

Un instant large, hostile, où tout s'agite et

bouge;

Sur les balcons du ciel se tord une nuit rouge,

Soutien-gorge du vide, lingerie du néant

Où sont les corps en vie qui s'agitaient dedans?

 

Ils sont partis vaquer dans des prairies

malsaines

Dans des trous remplis d'eau, encerclés de

fougères

Et la nuit est tombée, doucement, sur la plaine

Le ciel ne se souvient, ni la nuit, ni l'hiver.

Ein gedehnter, feindlicher Moment, in dem alles

sich regt und fuchtelt;

Auf den Balkonen des Himmels windet sich rote

Nacht,

Büstenhalter der Leere, Unterwäsche des Nichts

Wo sind die lebenden Körper, die sich darin

regten?

 

Sie sind fort und wallen in ungesunden Gefilden

In von Farnen umstandenen Wasserlöchern

Und die Nacht ist sacht über die Ebene

gekommen

Der Himmel erinnert sich weder nachts noch

winters.

Natürlich lassen sich all die angesprochenen Themen und Motive, die Settings und das Personal in allen Teilen des lyrischen Werks von Houellebecq nachweisen. Die grobe Einteilung nach thematischen Fokussen der jeweiligen Bände ist ein Behelf, im relativ redundanten Lamento Houellebecqs über Konkurrenz, unbefriedigte Triebe, Tod und Verfall eine Orientierung zu bekommen. Die Brillanz, die Houellebecq in seinen Romanen an den Tag legt, muss in seinen Gedichten gesucht werden und lässt sich leider nur punktuell herausschälen. Seine Lyrik ist aufschlussreich in Bezug auf sein Prosawerk, ist vielmehr Werkzeug als Werk. Es lässt sich also über die fehlende Kommentierung dieser Gesamtausgabe hinwegsehen, wenn man die Gesammelten Gedichte als Kommentar zu den Romanen versteht.

 

  • 1. Die Jahresangaben der Gedichtbände und Romane beziehen sich auf das Erscheinen der französischen Originalausgaben.
  • 2. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Prosagedichten, die teilweise stark in der Tradition von Baudelaire stehen und mitunter Manifestcharakter besitzen, wie z.B. und vor allem der für Houellebecq programmatische Text Letztes Bollwerk gegen den Liberalismus. Siehe dazu: Bernard Maris – Michel Houellebecq, Ökonom. DuMont: Köln, 2015.
Michel Houellebecq
GESAMMELTE GEDICHTE
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Gedichte aus „Gestalt des letzten Ufers“ teilweise von Stephan Kleiner
Dumont
2016 · 726 Seiten · 14,99 Euro
ISBN:
978-3-8321-6355-6

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