Wildkraut ist kein Unkraut
Die „Stiftung Lyrik Kabinett“ gibt diesen Sammelband heraus. Er bleibt in jedem seiner zwölf Beiträge zentral bei Wulf Kirsten; Beiträge, im Juli 2014 präsentiert an der TH Braunschweig anlässlich des Braunschweiger Kolloquiums zu Wulf Kirsten, die vor allem untermauern, dass Wulf Kirsten nicht Natur-, sondern Landschaftslyriker ist, wobei Landschaft als „historisch gewachsene, kultivierte Natur“ zu begreifen sei. Diese Festlegung liefert Jan Röhnert, der Herausgeber von hier besprochenem Band „Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft“.
Neben dem Vorwort sowie einem Beitrag zu einem zentralen Motiv bei Kirsten zeichnet Röhnert auch für das sehr umfangreiche Interview mit Wulf Kirsten verantwortlich, in dem man sich zwar duzt, sich seiner gegenseitigen Wertschätzung versichert, in welchem Röhnert aber angenehmerweise auch eigene Pointierungen vornimmt, die mild von Wulf Kirstens abweichen können.
Das Besondere an dem Band ist, dass neben dem Gespräch und den Essays zum Werk Wulf Kirstens, zum Auftakt sieben neue Gedichte des Landschaftslyrikers abgedruckt sind. Dabei handelt es sich um die ersten, die nach seinem 80. Geburtstag im Juni 2014 entstanden sind. In ihnen evoziert der Verfasser der „erde um Meißen“ seine Besteigung des Mont Ventoux; Libellenkundler:
„blaues geflügel: odonatologen, vokalreiches wort, / leider nicht von mir erfunden, / vom Duden schlichtweg verschmäht / wie so viele andere auch / …“;
seine Zeit als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim; die Bukowina:
„…tief unten / sah ich den Pruth sich schlangengleich / wenden und winden, flußüberwärts / liegt Sadagura, wo der wunderrabbi residierte, / wie ging sein Leben zu Ende? …“; den eigenen Ertrag: „… wer war denn ich, / der dies erlebt haben soll? wahrlich, / ich hab nichts vollbracht für die dauer, / ich tat keine großen dinge.“;
eine Wanderung um Arnstedt; die Stille:
„… erst so wird / alles wesentliche, was dich umgibt / und dich ausmacht, in dieses unablässige / summen eingewoben und bildet textur, / es fragt sich nur, wer noch wollte / und sollte das überirdische hören, / alle ohren verstöpselt, alle blicke / weltab gerichtet …“
Es sind dies Gedichte, deren Insistieren auf der Benennung von Details die Hoffnung auf Verbleib in einem Dauerhaften beschwören. Sympathisch wirkt, dass der Verfasser immer wieder andere Mitgehende im Lebensrad namentlich heraushebt, besonders solche ohne großen Namen wie etwa der des Dichters Alfred Kittner.
Über fast 60 Seiten erstreckt sich die Wiedergabe eines Gesprächs des Herausgebers mit Wulf Kirsten. Dass beide sich offensichtlich schon länger kennen, sorgt für einen entkrampften Ton, der die informative Ergiebigkeit für den Leser wohl zu steigern vermag. Da Röhnert, der Germanistikprofessor und selber auch Lyriker, Kirsten von der Sache her mitunter ein wenig Paroli bietet, dies und das zuspitzt, erweitert, bleibt die ohnehin nicht überausgeprägte Eitelkeit Kirstens gut erträglich.
Hinsichtlich Kriterien für das gelungene Gedicht hebt Kirsten einen „starken Schluss“ hervor sowie insgesamt dessen „Gleichnis Charakter“. Da Kirsten das erzählende Gedicht - „vielleicht etwas zu stark“, so die Selbsteinsicht - bevorzugt, ist ihm ein „Skelettierer“ wie Reiner Kunze nicht sehr nah, dessen „Gedichtmodell“, wie wir - von der Wortwahl ein wenig unangenehm berührt - erfahren, von Brecht „hergenommen“ sei. (Reiner Kunze, den Kirsten als Vermittler und Übersetzer der tschechischen Lyrik allerdings schätzt.) Ironie im Gedicht sei nicht verkehrt.
Als für ihn prägende Lyrikeinflüsse nennt er in ihrer Innovatoren-Funktion: die Droste, Heine, George, nennt Mandelstam und Celan, mag Benn und Lehmann; findet aber auch solche Gedichte, die für ihn „Grundgedichte“, sind u.a. bei Rafael Alberti, César Vallejo, Antonio Machado, Kavafis, Attila József, Robert Frost, Williams, Ashbery, Mark Strand.
Das Gespräch spart Wulf Kirstens Erleben der DDR und einiger Protagonisten aus der Zeit nicht aus. Hinsichtlich der Literatur meint er u.a. hinweisen zu müssen auf Ironie-Absenz bei Christa Wolff; auf das „Heldensyndrom“ Stefan Hermlins, dem er ansonsten aber keine Vorwürfe macht; auf Volker Brauns „große Begabung“ gepaart mit „erstaunlich viel Mut“. Ein Seitenhieb auf diejenigen Literaten, er selbst sei eben keiner gewesen, die sich politisch grundsätzlich eingerichtet hatten, will Kirsten aber gerade im Zusammenhang mit Volker Braun anbringen, denn dieser „konnte aber immer viel riskieren, weil er immer als Basis seine marxistische Grundlage hatte. Die hat es bei mir nie gegeben. Ich habe mich schon damit beschäftigt, weil ich sehr früh erkannt habe, dass zum Marxismus ein veränderter Menschenschlag gehört, den es nicht gibt, den es noch nie gegeben hat und den es nie geben wird. Es geht nur um Personalquerelen und solche Dinge. Wer mit wem und wer kann mit wem nicht, dieser Kleinkram“.
Prinzipiell habe die Poesie stets strikt unabhängig zu sein:
„Sobald sich Poesie einer Doktrin, egal welcher, ob christlich, ob anthroposophisch, Sektierern, Muslimen oder sonst wem unterordnet, dann ist es um die Poesie geschehen. Sie muss absolut autonom sein.“
Ansonsten sprechen Röhnert und Kirsten naturgemäß ausführlich über Kirstens Erschließen von Landschaft, „das emphatische Gehen“ inklusive des Verweilens, um genauer hinzusehen und zu benennen. (Röhnert, vielleicht einen Tick zu elitär: „Einen Lyriker kann man sich nicht mit Nordic Walking-Stöckchen vorstellen.“); sprechen über seltene Pflanzen; über Vögel; kommen auf die Steine, deren Beseeltheit, wie von Dauthendey zugesprochen, Kirsten aber für „zu weit hergeholt“ hält.
Wo Wanderrouten von beiden begeistert nachgezeichnet werden, mag manch ein Leser vielleicht ein Weiterblättern erwägen. Das heißt nicht, dass wir Bemerkungen wie die folgende, von ihm mit biographischem Bezug präsentiert, nicht als zentral für Kirstens unverwechselbare Lyrik sähen und Bedeutsamkeit – erst recht im Symbolischen – absprächen:
„… und wir haben das Unkraut – das Wildkraut, ich versuche das Wort Unkraut zu vermeiden, aber es ist nicht aus der Welt zu kriegen – da herausgezogen.“
Das lebhafte Gespräch schließt ab mit Kirstens düsterer Einschätzung hinsichtlich Innovationspotential derzeitiger Lyrik, denn es handele sich gerad um eine „heruntergelumperte, bloß abgekupferte Poesie-Sprache“ [JR, WK zitierend], wobei
„mediokre Geister das Maul aufreißen und sie in dieser Oberflächengesellschaft entsprechend hofiert werden.“
Im Band folgt ein knapper Beitrag des vielseitigen Hans Christoph Buch, der seine „Kleine Hommage an Wulf Kirsten“ vor dem Hintergrund einer vierzigjährigen Freundschaft verfasst. Ihre gemeinsamen Berührungspunkte zu DDR-Zeiten und danach skizzierend, scheint Buch an Kirsten besonders lobenswert dessen beharrliches Eintreten für „poetae minores“, „deren Gedichte er gegen zähen Widerstand neu herausgab: Jakob Haringer zum Beispiel oder Max Herrmann-Neiße.“ Kirsten seinerseits hatte Buchs Vermutung nach bei Reich-Ranicki – welcher ihn gleichwohl Kirsten-Gedichte in der „Frankfurter Anthologie“ platzieren ließ - einen schweren Stand und mag Kirstens Gedichte empfunden haben als „zu sperrig und spröde, eigenwillig und manchmal eigenbrötlerisch.“ Buch stellt schließlich Kirstens Beschäftigung als einst Neu-Weimarer mit Buchenwald heraus (s. auch unsere Besprechung vom 28.7.2013 zu “Der gefesselte Wald“).
Dem Abdruck von Kirstens Gedicht „werktätig“ aus seinem 1987er Gedichtband „die erde bei Meißen“ lässt eben jener Hans Christoph Buch seine Interpretation „Poetische Archäologie“ folgen. Den kritischen Umgang Kirstens mit dem seinerzeit oft unhinterfragten Begriff „werktätig“ aufgreifend, hebt Buch Kirstens gelungenen Kunstgriff hervor, im Gedicht „eine vorindustrielle Epoche [heraufzubeschwören], in der Bauern und Handwerker noch in eigener Regie wirtschaften, ohne Vorgabe des Fünfjahresplanes und ohne Genehmigung der Partei.“
In seinem Aufsatz „Wulf Kirsten, der Bibliotheksfreund“ geht Michael Knoche, Direktor der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek, in launigem Ton auf Wulf Kirstens enorme Präsenz ein, eine Gegenwart in Buchtitel (primär und sekundär) und als Person, die dazu geführt hat, dass bei Kirstens Erscheinen „ein Bibliothekar zur Begrüßung aufgeboten wird“.
Knoche schlussfolgert:
„Der Schritt zu einer Kirsten-Philologie ist nicht mehr fern.“
Mit großem philologischen Aplomb untersucht Jan Urbich „Wulf Kirstens Hölderlingedicht „ curriculum vitae‘“, macht so insgesamt auf „Hölderlin-Spuren“ in Wulf Kirstens Lyrik aufmerksam. In diesem Porträtgedicht, das „zurückhaltende Sympathie des lyrischen Ich für den Gescheiterten.“ widerspiegle, falle besondere Betonung auf das Abschlusscouplet mit dem vieldeutigen Bild der Ratte: „Oder sind im verseuchten und verseuchenden Tier eben jene Kritiker Hölderlins gedacht, die sich ob seiner großen Nachwirkung aus dem Staube machen müssen, überstimmt von der Geschichte selbst?“
In seinem kurzen Essay „Wulf Kirsten und Annette von Droste-Hülshoff“ streicht Bernhard Böschenstein heraus, dass beide, Poetin und Poet, „dem Gedicht zuführen, was es in klassischen und romantischen Zeitläuften fernzuhalten pflegte: das Antipoetische.“ Annettes „Mergelgrube“ und „Erzstufe“, Gedichte, denen von Kirsten „Verschwisterung“ zugeschrieben wird, seien beide Beispiele für „Wulf Kirstens Überzeugung, ein Gedicht müsse Mimesis und transzendente Imagination verbinden.“
Paradoxerweise ermögliche der Droste - wie auch Wulf Kirsten - insgesamt erst die Provinzialität „poetischen Aufruhr gegen [ihre] Zwänge, in Gestalt atemberaubender Innovation.“
Pia Elisabeth Leuschner beschäftigt sich ausladend, dabei doch ordnend, mit den christlichen Wurzeln in Kirstens Lyrik, indem sie abschließend eine vielsagende Anekdote anführt:
„Wulf Kirsten erzählte mir, missgünstige Dichterkollegen hätten ihm vorgeworfen, er habe einen 'christlichen Tick'. Wollte er nun auf diese Bezichtigung künftig ernsthaft antworten, könnte er es mit der Frage tun: Ob eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Erbe des Christentums, die zu einer unverbrüchlich gelebten humanitären und dichterischen Ethik führt, sinnvollerweise als Tick bezeichnet werden kann?“
Nancy Hünger, Lyrikerin und Leiterin des Schiller-Gartenhauses Jena in einem, liefert „Unsortierte Gedanken zu Kirstens Helden der kleinen Verhältnisse“, mit denen sie die einzigartige Leistung Kirstens, sein manchen gleichsam privatistisch anmutendes dichterisches Programm [R.S.], lobt:
„Wulf Kirsten betreibt eine eigene, eine subjektive Geschichtsschreibung: durch den Rückgriff auf Vergangenheit, manische Gedächtnisbefragung und Sammelleidenschaft. Was schreibend dem Vergessen abgerungen, aus der Erinnerung geborgen wurde, liegt ver- und bewahrt in einer aufgerauten, widerständigen Sprache, die sich, durch handwerkliche Genauigkeit und akribische Wortarbeit, gegen Sentimentalität und oberflächliche Lesbarkeit verwahrt.“
Mit solchen Leidenschaften ausgestattet, insgesamt seinem „Humanismus“ nämlich, sehe sich Wulf Kirsten „‘dazu verdammt anzuschreiben gegen das schäbige vergessen, das so viele leben einschließt‘ “.
Gleich zwei Essays beschäftigen sich mit französischen Einflüssen auf Kirstens Werk.
Stéphane Michaud bemerkt, dass bei immer schon latentem Bezug auf Französisches dieser Zug ganz offen ab dem Gedichtband „was ich noch sagen wollte“ zutage trete, wobei nach Michaud für Kirsten das provenzalische Hügelland „gleichsam ein Pendant zu einem wesentlichen Pol von Kirstens Dichtung, dem Ettersberg oberhalb Weimars zu bilden [scheint].“
Eben dieser Nähe Kirstens zur Provence widmet sich dann Edoardo Costadura, indem er Kirstens Rezeption der provenzalischen Einbettung bei Marcel Pagnol, Joseph Roth, Jean Giono und deren Inkorporierung ins eigene Werk skizziert. Prägnant fällt dabei Costaduras These aus: „Kirsten [versteht] Natur stets als Geschichte. Der Landschaft sind nicht nur die Erdenzeitalter, sondern auch die Menschenzeitalter eingeschrieben.“
Jan Röhnerts Aufsatz “ Turmfalke und Grasmücke. Kirstens Luft-Raum“ kommt als weit ausholende wissenschaftliche Studie daher, die erst nach gehörigen grundlegenden Betrachtungen der genremäßigen Einbettung (Bezug auf das Alte Testament, antikes Griechenland, Dantes Göttliche Komödie usw.) auf Kirsten zu sprechen kommt in seiner exzessiven Behandlung des Topos:
„Gemessen am Vorkommen der Vogelwelt in einzelnen Gedichten dürfte Wulf Kirsten nach dem quantitativ uneinholbaren Michael Krüger der wichtigste Lyriker der Gegenwart sein.“
Indem er eine Zuordnung zu fünf unterschiedlichen Kategorien vornimmt, hilfreich für „die Literaturgeschichte der Vögel, die ich [Röhnert selber nämlich] als ‚Vogelkunde der Poesie‘ bezeichnet habe“, liefert Röhnert sodann Einzelstudien zu einigen der Gedichte Kirstens,
„in denen die Vögel ihre Schwingen über das imaginäre Zentrum der Bildwelt breiten.“
Den Band schließt der Abdruck einer Rede von Harry Oberländer ab, betitelt „Der Dichter und das fremde Kraut“. (Als langjähriger Mitarbeiter und Leiter des Hessischen Literaturbüros auch berufen, auf Kirstens Jahr als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 1999/2000 einzugehen.)
Indem er die Biografie Kirstens nachzeichnet, führt Oberländer exemplarisch gemeinsame frühe Erfahrungen mit dem Springkraut an, das für den Knaben Wulf, den „faulen Stauner“, solch ein Faszinosum darstellte.
Bewundernd hebt Oberländer hervor „in welche Tiefen der Sprach- und Kulturgeschichte man vordringt, wenn man sich der intensiven Lektüre von Kirsten-Gedichten hingibt.“, lexikalisch nur in Grimms Wörterbuch nämlich noch fündig wird.
Oberländers Kritik an einer wohl tatsächlich zutreffenden Missbewertung erscheint abschließend bedenkenswert:
„Seltsam, dass sich Autoren, die sich in der deutschen Literatur nicht mit dem städtischen Milieu auseinandersetzen, sondern über das Leben auf dem Land schreiben, so gern verdächtigt werden, Nostalgiker oder Idylliker zu sein. Kirsten ist Opfer dieses Vorurteils gewesen wie Peter Kurzeck, der ihm als Stadtschreiber von Bergen nachfolgte.“
Mit „Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft. Gedichte, Gespräche, Lektüren“ legt die Stiftung Lyrik Kabinett einen facettenreichen, sachlich erhellenden Sammelband zu einem unverwechselbaren deutschen Lyriker vor, wie er am Anfang seines neunten Lebensjahrzehnt vor uns steht: Scheinbar randständig, dabei zentral.
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