Wortbunt im Plural der Dinge taumelnd
Gegen einen raffenden, summierenden, womöglich interpretierenden Titel scheint sich das Buch ein wenig zu sträuben, deshalb beläßt es José F.A. Oliver klugerweise gleich bei einer additiven Reihung, in der sich die Vielgestalt und die kaleidoskopisch ineinander geleitende Sinnlichkeit & Sinnenhaftigkeit der Wahrnehmungen und Empfindungen spiegeln, die seine Notate aus Istanbul durchweg charakterisieren. Diesen Wahrnehmungen aus der Stadt am Bosporus entspricht die Form, ein Nebeneinander von Gedicht, Brief, Prosa, Photographie, die sich manchmal berühren, überschneiden, ansonsten aber eher gegenseitig erhellen als redundant wiederholen.
Nun sind die Texte des Buches allesamt Gelegenheitstexte im besten Wortsinn, nämlich entstanden anläßlich eines Gastaufenthalts bei der Kulturakademie Tarabya. José Oliver geht nicht mit groß auftrumpfender Entdecker- und Erklärergeste durch die Stadt, überläßt sich vielmehr dem Treiben und der Wirkung der Umgebung, hingegeben der Vielzahl der Eindrücke, genau registrierend, meist auf unmittelbares Urteil verzichtend. Das Verstehen des Fremdartigen, des Disparaten, das Verständnis für ein Land, in dem einiges durchaus europäisch anmutet, anderes wiederum ganz und gar nicht, ist Olivers dichterischer Zugang — einer, der allemal die luzidesten Früchte trägt. Istanbul als Stadt, in der Modernes und Traditionelles nebeneinander existiert, wie auf diesem Schnappschuß:
die kellner räumen die tischdecken ab
am kai sitzt ein liebespaar
aus kopftuch & kopftuch
in einem boot auf deck
schläft satt ein windmatrose
im schatten einer verstümmelten pappel
liegt schwer eine schwangere hündin, sie bellt nicht
daneben zerfallen villen wie träume
ein radfahrer schwimmt durch die luft
José F.A. Oliver fängt diese „abendstimmung“ mit einer Reihung disparater Eindrücke ein, doch was an der Oberfläche hauchzarte Idylle scheint, knistert gehörig bei näherem Hinsehen —: ein Liebespaar aus Kopftüchern, zerfallende Villen wie (ebenfalls zerfallende?) Träume. In atemlosem Stakkato werfen sich auch alle nachfolgenden Gedichte kopfüber ins Getümmel, schichten preziose Worte auf- und nebeneinander, so wie sich Geschichte & Gegenwart ständig überlappen, ergänzend und widersprüchlich.
Auf Urteile und Wertung wird, wie bereits erwähnt, weitgehend verzichtet, und wenn sie unvermeidlich sind, wie in den „4 Briefen“, dann immer behutsam und umsichtig — José Oliver kann auch scharf kritisieren, verliert dabei aber nie das Mitgefühl („weil die Macht so mächtig und der Staat so staatsabstrakt nicht hinterfragt, nur prügelt“). Solche Zurückhaltung ist allemal zu bewundern angesichts aktueller politischer Entwicklungen, an denen ein ebenso imbezil sich gebärdender wie gefährlicher Präsident nicht schuldlos ist, doch genau das macht Olivers Texte so menschlich und damit so wertvoll. Der Dichter erhebt sich nicht über die Dinge, er ist selbst mittendrin, läßt durch die oft nur angerissene, korrigierte Gestalt der Gedichte das Unvollkommene, Im-(wohin?) -Werden-Begriffene der Kultur mittels Worten spürbar werden:
keinenicht eine straße ein platz ein denkmalsortgemach benannt nach
denen
die einst gewesen & warenund& sind als futter gedacht & erplant
vorbei
gegangen, indes
kranzt weithin verall
gemeinert der ort des unbe
kannten soldaten
Das Potential der Worte ist immer rückgebunden an die Dinge der Welt, und dadurch wird am Ende die Sprache selbst sinnlich wie das, was sie darstellt. Deshalb nimmt Olivers multimediales, multiperspektivisches Panorama aus Istanbul nicht nur wegen seiner bewußt subjektiven Sichtweise gefangen, sondern auch auf Grund der enormen sprachlichen Präzision und Invention. Das schöne Buch ist ein dichterisches Itinerar der in ihrer verblüffenden Besonderheit letzten Endes wesentlich gewordenen Einzelheiten. Nicht die großen Worte, die Reibeflächen irgendwelcher Phrasen & Parolen bieten einen Einblick — nein, scheinbar Nebensächliches, etwa ein Koffer voll vergilbter Photos oder die Devotionalien verschiedener Konfessionen friedlich nebeneinander aufgehängt, sensibilisieren uns für die „nahwunden“. José F.A. Olivers Gedichte & Notate sind damit vor allem eines: Augenblicksmitschriften einer „Poetik des Entzifferns“, kulturelle Botschafter auf höchstem Niveau.
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