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Kritik

Fluchten

entwürfe 81
Hamburg

Die Zeitschrift „entwürfe“ erscheint in ihrer derzeitigen Form seit 1995 und hat ihren Sitz in Zürich. Das Heft hat ein DINA5-Format und ist gegliedert in die Abschnitte thema, bild, kolumne, diskussion, außerdem und redaktion. Die Ausgabe 81 zum Thema „Fluchten“ erschien im Mai 2016.

 

I – Erzählen oder Berichten?

Der Krisenort war früher Ort. Sie haben die Krise weder importiert noch initialisiert. Sie, die Geflüchteten, mussten bloß ihr Land verlassen.

Merle Müller-Knapp schreibt über einen Unort, der gleichzeitig der wichtigste Ort ist, das eigentliche Symbol für die derzeitige Krise. Obgleich an anderen Orten, in Berlin und Paris und Brüssel, entschieden wird, was mit den Menschen an diesem Ort geschieht (der für die Geflüchteten kein Ort ist, sondern das Warten auf einen anderen Ort). An anderen Orten herrscht Krieg und von dort kommen sie hierher, an diesen Ort, wo sie gesammelt und bewertet werden. Trotz aller Achtung für die Thematik, den Versuch und die zurückhaltende Beschreibung: Der Text erscheint zu knapp und zu dürftig. Auch der abgeklärte Ja-ich-bin-betroffen-Ton, der vermutlich eine Aura von Stilsicherheit und objektivem Blick gewährleisten oder beweisen soll, wirkt letztlich zu dünn für das Thema; zu dünn als Sprache, die versucht, sich zu gerade diesem Thema zu äußern.

Peter Punckhaus dagegen erzählt in „Mare meum“ eine ganz eigene Geschichte, die nur in zwei unaufgeregten Momenten (und bei der Reflektion ihrer Bewegung) eine Dimension zum Thema Flucht hin öffnet. Seine Protagonistin, eine Abiturientin namens Julia M., will ganz allein mit einem Kajak von Italien nach Alexandria reisen. In kurzen Abschnitten werden ihre Reisestationen beschrieben, lebendige Details und kurze Gespräche fließen ein, allerhand Begegnungen werden skizziert. Auch wenn der Text zunächst keine Spur von Engagement aufzuweisen scheint, ist er bei genauerer Betrachtung eine viel bessere Auseinandersetzung, weil er zum Einen die Enge des europäischen Sichtfelds nachzeichnet und zum Anderen den Finger auf die Wohlstands- und Freiheitskonturen unserer westlichen Gesellschaft legt. Er versucht also nicht, wie der erste Text, irgendwelches Leid in Worte zu fassen (womit wenig getan ist), sondern hinterfragt die Werte und das Verhalten unserer Gesellschaft, was meiner Ansicht nach ein viel wichtigerer Beitrag ist. Von daher: sehr lesenswert.

Dann: Andreas Thamm, „In der Zwischenzeit“.

Man ist oft so nahe dran, sich zu demontieren.

-- schöner Satz, und überhaupt: Der Text geht gut los, mit einem Hauch Ungewöhnlichkeit und viel Gewöhnlichem, das sich darum herum gruppiert. Was zunächst wirkt wie eine Reflektion über den Raum Internet und über Twitter, aus einer gelangweilten Position heraus, hätte sich aufgrund des mysteriösen, stets angesprochenen Du schnell in einen Grund zum Augenrollen verwandeln können: noch so ein diffuses Werk, in dem das Schreiben sich an seiner Fähigkeit hochzieht, immer irgendwas ins Auge fassen zu können, statt echte Entfaltungsmöglichkeit zu suchen. Ich bemühe mich, dass Texte bei mir nicht zu schnell unter den Klischeestempel kommen, und so darf ich miterleben, wie die Geschichte einen entscheidenden Schritt -- vom Internet-Stuff weg und hin zum Schmerz -- vollzieht: zum Schönen, zum Argen, zum Eiter. Und von da an entfaltet der Text eine nicht wirklich aufgedeckte, aber dennoch existenzielle Wucht, und seine fragmentarische Geschichte erzählt von den Dingen, denen man nicht entkommen kann, auch nicht mit aller Sehnsucht, allen Medien und Aufrufen der Welt.

 

II – „Ohne Vertrauen kann man nicht leben, ohne Misstrauen nicht überleben“?

Karsten Redmanns „In weiter Ferne“ ist mir von Anfang an mit seinen vielen unnötigen Schilderungen auf die Nerven gegangen. Viele unwichtige Bewegungsabläufe werden beschrieben, viele Adjektive gestreut. Da hangelt sich jemand an seinem eigenen Schreiben entlang, um ja nicht auf unsicheres Terrain zu gelangen. Eine Methode, mit der sich nahezu jede Prosa selbst sabotiert. Ich mache es mir sicherlich etwas einfach, wenn ich nur Samuel Butlers ewige Leier vom Auslassen, das wichtiger ist als das Beschreiben, erwähne, aber bei diesem Text ist das Nichteinhalten dieser Grundsatzregel leider die hervorstechende Eigenschaft.

Nach ein paar gelungenen Gedichten von Eva Roth setzt Rainer Wedlers Geschichte um einen alten Mann und ein junges Mädchen ein. Russlanddeutsche ist sie, was an sich schon ein interessantes Thema ist, aber nur am Rande Verwendung findet. Denn sie ist auch noch eine der Schülerinnen des Protagonisten. Seine Vorsicht und gleichzeitig sein Versuch, sie irgendwie zu erreichen, ihr nah zu sein, werden zum Brennpunkt der Geschichte. Es ist sicher nicht gerade die hohe Kunst und auch nicht sehr neu, was in „Bodner stößt die Schaukel an“ passiert, aber trotzdem hält einen die Schilderung der Ereignisse für die wenigen Seiten gut bei der Stange.

Bei der Erzählung von Maike Frie ist man zunächst verwirrt: Warum heißt der Mann, der sich hier in tiefster Nacht in die Gräulichkeit eines Meeres wirft, um zu fliehen, Johannes? Warum schiebt ein Mann namens Walter Wache auf einem Turm, schaut durch ein Fernrohr auf das Wasser voller Suchscheinwerferkreise? Es ist ein großer Verdienst dieses Textes, dass er mich von meinem Gedanken, eine Flucht auf dem Meer müsste etwas mit den tagesaktuellen Ereignissen zu tun haben, direkt in ein Kapitel deutscher Geschichte schubst, das gerade einmal dreißig Jahre her ist. Es wird langsam erzählt; ein bisschen zu rasch gezeichnet und verwischt sind die Figuren – auf unscheinbaren Wegen wird aus „Alles so grau macht der Mai“ ein wichtiger (und seltsam spannender) Beitrag zum Thema Flucht, der auf einer reflexiven Ebene, mit seinem vollständigen Bild, zu denken geben sollte.

Die darauf folgende Geschichte über eine Konversion in einem Aufnahmelager für Flüchtlinge von Joel László wirkt wie ein Fragment, ein kurzer Einblick, ebenso Alice Grünfelders Dialog vor dem Hintergrund einer wahren Begebenheit. Dieser letztere Text aber besticht durch seine intensive Schilderung und seine Nähe -- und zwar zu einem völlig fremden Lebensentwurf.

 

III – Bildbeweise

Zum Bildteil von Katrin Kamrau, deren Werke als präzise austarierte Montagen beschrieben werden, werde ich hier nichts sagen, da ich mich nicht als kompetent genug für einen Kommentar erachte. Die Idee, grafische Musterbeispiele und Darstellungsweisen westeuropäischer Publikation zu hinterfragen oder zu analysieren, worauf die Arbeiten zum Teil wohl hinauslaufen, halte ich auf jeden Fall für interessant und wichtig.

Leif Randts Kolumne über einen Südafrika-Besuch strahlt Ruhe aus und doch Unruhe, Ecken und Kanten werden säuberlich, aber doch sehr nah umschifft; der Ton ist nicht unreflektiert, nicht in sich selbst verbohrt, oberflächlich, mit Sprenkeln von Hintergründigkeit. Ironie ist hier schon längst zu ihrem eigenen Spiegel geworden.

Als ich etwas später im modernen Schnellimbiss „Mr Big Stuff“ eine kleine Portion Fried Chicken bestelle, denke ich globalisierungskritische Dinge.

Dinge, die festgestellt werden, wechseln sich ab mit Wahrheiten, die ausgesprochen werden. Beides hat die Aura von: schon zur Genüge gehört. Letztlich ein netter Bericht – viel mehr auch nicht.

Nachdem Herbert Genzmer in kleinen Episoden das Bild der Verlag-Autor-Beziehung ironisch dargestellt (und klargestellt) hat, widmet Andreas Resch sich der Philosophie von Fahrzeug-Verfolgungsjagden auf Celluloid. Dieser Schwenk durch die ästhetische Geschichte des Car-Crashs gelingt, nicht zuletzt wegen Gastauftritten von Steve McQueen und Quentin Tarantino, in all seiner Kürze.

Sehr gefreut habe ich mich über das kurze Portrait des iranisch-deutschen Schriftstellers SAID. Immer wieder habe ich Werke von ihm gelesen, in Literaturzeitschriften und Anthologien, und immer blieb da die Frage, wo die Wurzeln hinter diesen Buchstaben liegen: vor welchem Hintergrund SAIDs Texte entstehen.

 

IV – außerdem

Als meine Oma schwanger war, erschoss ein Soldat meinen Opa.

So lautet der erste Satz von Birgit Borsutzkys Text, Auftakt zu einem Mini-Portrait ihrer Großmutter. Marius Goldhorns Text wiederum – welcher im Folgenden einen leichten Thomas-Bernhard-Touch im Ausufern seiner Sätze bekommt, letztlich aber wenig lakonische Züge hat, sich aufs Anekdotische konzentriert und in diesen Narrativen auch vollends aufgeht -- beginnt so:

Am frühen Nachmittag des 16. Septembers 2008 warf man den Sohn vom Bürgermeister von Hadern von der Brücke.

Die Gedichte von Linus Molitor sind kurze, streng wirkende Kompositionen, in denen sich der Versuch, Lapidares zu Hintergründigem umzufunktionieren, zu sehr in leicht angeschrägten Bildern und Behauptungen verliert.

Tobias Lambrechts „Garzenberg“ ist eine schwer scharfzustellende Farce, in der Komponenten der Satire, der poetischen Abstraktion, der Gesellschaftskritik, der Liebesgeschichte, nebst anderer Anflüge, zusammenkommen und sich mal so, mal so gewichten. Das ist unterhaltsam und irritierend zugleich, was in ähnlicher Weise für die Metamorphose gilt, die sich in dem letzten Text, „Sternbildübertragung“, von Ines Birkhan vollzieht. Birkhan lässt mich vielleicht deswegen ratlos zurück, weil sie alles wie mit Ironie und doch so fein erzählt.

Es schließen sich an alles dieses noch fünf Rezensionen zu Neuerscheinungen der Gegenwartsliteratur an, u.a. „Panikherz“ von Stuckrad-Barre und „Wir kommen“ von Ronja von Rönne.

Am Schluss will ich den „entwürfen“ noch ein deutliches Kompliment machen: Die Anzahl von nicht lesenswerten Beiträgen ist in dieser Ausgabe sehr gering geblieben, und mit den meisten Texten kann man sich, vor allem inhaltlich, gut auseinandersetzen. Texte mit experimentellen Formen sind zwar rar, dafür findet sich an vielen Stellen ein gelungenes Maß an gesellschaftlicher Beobachtung und kritischem Bewusstsein, was beides wiederum nicht auf Kosten des erzählerischen Potentials der Texte geht oder zu sehr bemüht wird.

 

Literatur-Redaktion waren bei der Ausgabe Yves Schumacher und Christoph Steier. Fotographie-Redaktion: Teresa Philo Gruber. Korrespondent in Berlin: Felix Stephan

 

 

 

 

Merle Müller-Knapp · Peter Punckhaus · Andreas Thamm · Karsten Redmann · Eva Roth · Maike Frie · Joel Laszlo · Alice Grünfelder · Kathrin Kamrau · Leif Randt · Herbert Genzmer · Andreas Resch · Nina Fargahi · Birgit Borsutzky · Marius Goldhorn · Xenia Knoesel · Julius Molitor · Tobias Lambrecht · Ines Birkhan · Rainer Wedler
entwürfe 81
Fluchten
Redaktion Literatur: Yves Schumacher, Christoph Steier; Redaktion Bild: Teresa Philo Gruber
entwürfe für literatur
2016 · 19,00 Euro

Fixpoetry 2016
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