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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Pech | Antike | Blende | Optimierung

Eine umfangreiche Anthologie zu Lyrik im Anthropozän
Hamburg

Am Ende der Anthologie "all dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän" stehen drei kenntnis- und teilweise aufschlussreiche Essays. Einer davon ist von Axel Goodbody und beschreibt bzw. behauptet einen Dreischritt von der klassisch-kontemplativen Naturlyrik (1800-ca.1930) über engagierte „Umweltlyrik“ (1950ff) zur bewussten Lyrik-im-Anthropozän (jetzt!). Hier finden wir den Satz:

Die Literaturwissenschaftler, die über Lyrik im Anthropozän geschrieben haben, sehen es im Grunde genommen alle als selbstgestellte Aufgabe der heutigen Lyriker, die Erkenntnis des globalen Ausmaßes unserer Wirkmächtigkeit und gleichzeitigen paradoxalen Abhängigkeit von der Natur zu reflektieren und Alternativmodelle für verantwortungsvolles Handeln und Leben zu entwerfen.

Wir könnten das auch erheblich böswilliger formulieren, gewendet als Betriebskritik, wenn wir wollten: „Anthropozän“ erschiene dann als jenes begriffliche Vehikel, vermittels dessen die Lyrik (und, rittlings aufsitzend, die Lyrikrezeption) sich des guten Gefühls versichern kann, Verantwortung für die ideelle Gesamt-Polis Welt“ mitzutragen, ohne sich notwendigerweise mit politischem und sozialem Tagesgeschäft die Hände schmutzig zu machen. Allerdings – zwingenden Grund gibt es für solche Böswilligkeit keinen:

Das tatsächliche Tagesgeschäft diesseits der very big history – der neoimperiale Status Quo nebst massenhaftem Ersaufen im Mittelmeer – es ist mit den Mitteln dieser Anthropozän-Lyrik, wie sie die Essays beschreiben und die vielen im Band versammelten Gedichte repräsentieren, durchaus in den Blick zu bekommen.

Das erste Gedicht des Bandes, „Die Urwälder Europas“ von Asmus Trautsch, ist in diesem Zusammenhang gut gewählt, denn es steckt das Spielfeld ab, auf dem sich alles Folgende ereignen wird, und beinhaltet eine Kurzfassung der diskursiven Spielanordnung; es ist dabei gegebenenfalls ein wenig plakativ, aber doppelt dick aufgetragen hält eben besser:

Zwei Zwölfzeilerstrophen stehen da gegeneinander, eine über Entdeckung und Begriffswerdung zum Thema Gesteins(ge)schichte(n) im achtzehnten Jahrhundert, die andere über das Verheizen von Ruhrkohle im einundzwanzigsten; die beiden Hälften werden zusammengehalten vom Hintergrundrauschen der Humangeschichte, Geschichte der Aufklärung, Geschichte der Revolution/en, vor deren Hintergrund geforscht, begriffen, schließlich verheizt (werden) wird. Schnell bringt das auf den Punkt, wo wir stehen, wovon wir lesen: Erkenntnis von Zeug schafft Bedingungen, unter denen das Zeug sich verändert (möglicherweise unerkannt). Die zweite Strophe geht so:

Ein schwarzer Block nach dem anderen aus der Tiefe
des Ruhrgebiets in das Jahr 2009 gefördert und gepresst
fällt aus meiner Hand in den Ofen brennt knapp drei Stunden
und rieselt hellbraun herab ein Leichtwerden von über
dreihundertmillionen Jahren in den Himmel Berlins
entlassen für einen Moment noch riechbar Robespierre auf
dünnen Schichten in meiner Hand spricht über die Zukunft
über Vergangenheit also welcher Baum welcher Farn den kein
Botaniker kennt welche Libelle von Menschen ungesehen
kommt meinen Zellen als Wärme entgegen? Täglich
werden wir chronischer fließen brennen schneiden
immer weiter tilgen die Spuren in unsere ewige Spur.

Zum Abstecken des Spielfelds gehört dabei freilich auch, wenn die bruchlos-unschuldig-ergriffene Verwendung der Vokalbel „ewig“ in der letzten Zeile uns rechtzeitig darauf vorbereitet, dass auch weiterhin von manch einem Beiträger im Angesicht der äh geologisch großen Ausmaße der Aufgabenstellung die eine oder andere äh problematische Vokabel mit ggf gar zu lockerer Hand weiträumig übers Textgestein gestreut werden wird.

Es beglücken mich insbesondere „Weltraum“ von Kerstin Becker –

Holunderbeeren sauen unsre Sachen blau
Brennnesseln beißen unsre Beine bis zum Bauch
wir steuern unser Schiff mit Schrott
wir fülln mit hohlen Händen Pfützenbrühe
die schillert in den Tank der leckt

– „Tscheljabinsk“ von Hendrik Jackson, in welchem Text diese spezifische Stimmung für mich erstmals in dem Band ganz zu sich kommt, die dem Gegenstand der Anthologie angemessen ist und die ich aus den frühen Strugatzki-Romanen kenne: wie klein der Mensch ist vor den riesenhaften Landschaft von Theorie, Geschichte und Geographie, und wie groß zugleich das Gattungswesen Mensch ... und jetzt denken wir uns mal beides zugleich und bilden uns nix da drauf ein, weil dieses rechtfertigt jenes durchaus nicht, wie auch jenes nicht dieses entwertet –

die Poetin Jelena Obolikschta oder Menschenina setzte bei der Optimierung der Coilvorbereitung auf eine Kombination aus externer Vorschopfstation und einer Doppelhaspel

der Poet Artjom Petrow stanzte das Coilmaterial vor, an der Profiliermaschine, alle Portalstanzen auf einem Koordinatentisch positionierend

die Poetin Anastasija Poroschina beschrieb präzis Unterwellenhöhe, Achsabstand, Arbeitswellen und berechnete Phasenwinkellage

die Poetin Jewgenija Rjabinina begann beim Lichtbogenofen die Prozesskette, führte uns über Überschall-Sauerstoffinjektoren, Stranggießen von Knüppeln, beam blanks, Minimill schließlich dem Walzwerkbau zu

Jürgen, von weit her, verloren und glücklich in den breiten Straßen,
                                                                                                                          sprach:
sieben Männer, auf einem Hügel mit einer riesenroten Axt das Atom spaltend

– weiters José F. A. Olivers Gedicht „Eyjafjallajökull“ und „CAMP CORINTH, MEDEAted“ von Uljana Wolf; beides bisschen kalauernde Texte, die ich gar zu gerne live gelesen hören würde und die ihren Thesen bzw. Anschauungsmaterialen sozusagen davonlaufen ins Weitere, Offenere –

& doch merope folgend find ich fließfrauen,
aufgegriffen im meer, von einer macht
über schlauchboote, schlepperquote, wo
die binnenmeister, frontal lobes verkleistert,
ihr frontex logo eingeschaltet, praktizieren: tools
for fools:

„wir werden sie nicht erschießen“

Es beglückt mich auch insbesondere „dunkles millenium“ von Alexander Gumz, ein Text, der die Option zum Pseudokritischen mit aufs Korn nimmt, die der große Anthopozänentwurf mit-enthält für alle, die sowas suchen –

9:13 uhr ortszeit: john stürzt aus großer höhe auf den bürger-
steig. mogule, die gründe zum töten haben, präsentieren ihre
alibis. sarah erkannte ihn sofort, den zuverlässigen triumph
eines einsamen zauberers. er beruht darauf, dass er uns glauben
lässt, ende august sei hochhauskritik aufgekommen. im herzen
jedoch schlägt eine kammer für ihre heimat. marxistische linke
umständehalber abzugeben: dieser satz wurde schon im alten
rom feldherren in den rückspiegel geritzt. die besten arbeitgeber
sind menschenfischer, extremely expensive to live in. igitt. so
entstand die bewegung occupy wall street. historische segel-
schiffe kreuzen im licht der öffentlichkeit, zeigen die formbarkeit
ihrer körper. eine gauklerstube. bei aktionärsversammlungen
werden drei jahrzehnte hiphop als sklaven vorgeführt. eine
tür geht auf. another criminal mastermind is planning a return.

aber an dieser Stelle mache ich willkürlich Schluss mit der Aufzählung persönlicher Lieblingstexte. Es galt „starring in order of appearance“, und ich bin erst auf Seite 67 von 336 ...

Den Herausgeberinnen ist mit dieser Zusammenstellung viel geglückt. Man darf davon ausgehen, dass ihre Arbeit nicht nur als deskriptives Nachschlagedings Bedeutung gewinnen wird, sondern jener Art Anthologie angehört, die selbst Impulse in die Literatur abgeben. Die dafür nötige Übereinstimmung von Diskurs und eigener Praxis ist gegeben, ebenso die Unabgeschlossenheit und prinzipielle Unüberblickbarkeit der aufgeführten Möglichkeiten; die leichte Unaufgeräumtheit der (geologischen) Materialmasse schadet auch nicht...

Was gäbs zu kritisieren? Gäbs was? Vielleicht das Folgende: Der Bezugsrahmen „Antike“ für Texte, die die derzeitige Katastrophe im Mittelmeer mit-benennen wollen bei der Annäherung ans geologiosche Menschenzeitalter, ist wenig überraschend und mag im Einzelfall klug gewählt sein; in Summe fällt es doch auf, wie häufig Formensprache und Personal der klassischen Antike in der Anthologie vorkommen, und es hinterlässt den ein wenig unangenehmen Beigeschmack von musterschülerlicher Selbstbeweihräucherung zum unpassendem Anlass...

Vielleicht noch: Wenn schon bei der Textauswahl auch ältere Texte berücksichtigt wurden, wo Triftiges dafürsprach wir finden weit vorn im Band Lutz Seiler, „Pech und Blende“ – warum ist dann nicht auch Volker Braun vertreten, mit „Durchgearbeitete Landschaft“, diesem Anthropozängedicht weit avant la léttre?

...

Fazit: Unbedingt kaufen. Ins nächstgelegene Braunkohle-Tagbaugebiet fahren. Alldort lustwandelnd lesen. Schichten schauen. Ach die vielen Schichten...

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Lyrik im Anthropozän. Anthologie
KOOKbooks
2016 · 336 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3937445809

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