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Kritik

Die Lebenswut dieser Züge, der Züge von hier

Fiston Mwanza Mujilas fulminanter, dabei richtungsweisender Romanerstling Tram 83
Hamburg

Seinen französischsprachigen Romanerstling Tram 83 brachten 2014 die Pariser Éditions Métaillié wohl mit Erfolg heraus, so dass nun – man kann sagen: schon  - zwei Jahre später der Zsolnay Verlag eine deutsche Übersetzung vorlegt.

Hat dieses Buch demzufolge  auch im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit verdient? Ja, wozu die ton- und begriffadäquate Übertragung durch Katharina Meyer und Lena Müller klar beiträgt!

Sein Autor, Fiston Mwanza Mujila wurde 1981 in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Er lebt nun in Graz als vielseitiger Literat und Unidozent für afrikanische Literatur.

Tram 83 ist genremäßig mancherlei: Schelmenroman, expressionistisches Theater, Entwicklungsroman wie auch literarisches Eine-Welt-Manifest.

„Stadtland“in der Demokratischen Republik Kongo besteht im Wesentlichen aus seinem Bahnhof, „dessen halbfertiges Metallgerüst an Henry Morton Stanley erinnerte“; einer Station, die besonders an Freitagabenden zwischen sieben und neun ausspuckt, was sich dann unweigerlich in der angrenzenden Bar „Tram 83“ wiedertrifft mit ihrem notorischen Publikum: den Liebesdienerinnen, unterteilt in „Küken“ (Mädchen zwischen 12 und 15) sowie „Single-Mamis“; Strichjungen, den „Knirpsen“; „gewinnbringendenTouristen“, oft auch bloß „Touristen“ genannt: Ausländer, die sich im Einvernehmen mit dem „abtrünnigen General“ Abbaurechte in Diamantengruben usw. gesichert haben; den Tag für Tag geneppten Grubenarbeitern; ausgehungerten Studenten, wobei ein ehemaliger vom Marxisten zum Extrem-Absahner mutiert ist; einigen wenigen Kulturschaffenden mit schwerem Stand:

"Alle Tätigkeiten drehten sich um den Stein. Alle waren direkt oder indirekt vom Stein abhängig. Man kannte nichts anderes, als unter die Erde zu gehen, Maulwürfe, die wir waren, die wir sind, die wir bleiben.“

In dieser Bar (nur ausnahmsweise nicht Ort der Handlung, etwa wenn der Erzähler uns einmal unter Tage führt) spielt sich wie selbstverständlich Tolldreistestes ab oder gelangen Horrorgeschichten in stets drastischem Duktus zur Aufführung; dort kann aber auch als Intermezzo zarte Sehnsucht und Liebe sprießen; zumal solche zu Musik, Rhythmus, Gerechtigkeit und Literatur.

Undenkbar, dass es diesen oberirdischen Treffpunkt einmal nicht mehr geben könnte:

“Das Tram verkörperte nationalen Zusammenhalt und Einheit, allen internen Spaltungen zum Trotz. Niemand in Stadtland, bis auf Lucien, konnte eine Woche ohne einen Besuch im Tram überstehen. Sogar für die Patienten des aus allen Nähten platzenden Sankt-Ägidius-Krankenhauses wurden Exkursionen ins Tram organisiert.“

Alkohol, Drogen, Sex, der praktischerweise gleich auf den „gemischten Toiletten“ des Tram abläuft: Von Mujila wird ein höchst bedenkliches, aber gleichzeitig auch mehr als schwungvolles Leben in Szene gesetzt, das stets direkt am moralischen, auch körperlichen Abgrund angesiedelt ist.

Solche Fieberhaftigkeit bildet der Autor mit Techniken des expressionistischen Theaters à la Tennessee Williams ab, dessen A Streetcar Named Desire (dt. Endstation Sehnsucht) in mancherlei Hinsicht grüßen lässt. So werden immer wieder strukturbildende und melodieähnliche Plakate durch den Raum der Handlung gefahren wie die verlässlich eingestreuten Sätze „Was sagt die Uhr?“ - „Nimm mich mit nach Warschau.“ [oder Bratislava, Zagreb, Odessa, Belgrad, Berlin usw., R.S.] - „Das Vorspiel verdirbt den Spaß.“, um sehnsüchtige Hoffnung auszudrücken, drohendes Scheitern zu bannen. Auch der Jazz gibt dem Tram eine Struktur, fördert dabei gleichzeitig  die vom Erzähler immer für nötig gehaltene Distanz und Differenzierung zu Tage:

„Beim ersten Ton aus dem Saxofon beginnt der große Maskenball. Die Grubenarbeiter und die Studenten übernehmen das Getue der Touristen. […] Jazz ist die einzige Möglichkeit für den ganzen Abschaum im Tram 83, die Gesellschaftsschicht zu wechseln, wie man die Metro wechselt.“

Lucien, ein junger einheimischer Schriftsteller, allerdings auch schon zehn frustrierende Jahre am Ball, ist aus „Hinterland“ (dort keine Bodenschätze) angereist, um nach langer Zeit einen Ex-Kumpel wiederzusehen, der nun aber ganz auf die opportunistische Karte setzt. Lange schon ist Lucien von einem weiteren Landsmann, der in Paris lebt, ungeduldig aufgefordert worden, endlich in Europa angesagte Literatur zu produzieren: „Dein Werk soll uns, die Schwarzen von Frankreich, rehabilitieren!“, indem er von Lucien etwa einen Essay über den „neuesten Film von Abderrahmane Sissako[, der] in Cannes von der internationalen Kritik hoch gelobt [wurde]“ anmahnt.

Im „Tram 83“ wird ein Schweizer Verleger auf Lucien aufmerksam und beauftragt ihn, ein Epos mit 20 Figuren für ihn zu schreiben.

Luciens Absprachen mit dem Verleger, stets in apokalyptischer Einbettung des „Tram“ ablaufend, zeichnet seine schriftstellerische Profilierung nach, die sich nun flott zu schärfen hat.  Für seine letzte literarische Aktion, noch in „Hinterland“, hatte er 17 Monate Haft auf Bewährung und 2 Jahre Berufsverbot für „besonders schwere Körperverletzung, Landfriedensbruch, systematische und geplante Aufwiegelung“ bekommen.

Damals war er auch gezwungen worden, den ersten Entwurf seines Epos zu vernichten, „eine Art Bühnen-Epos, das dieses Land aus einer historischen Perspektive beleuchtet.“

Den wechsel- und zweifelhaften Vorstellungen des Verleger-Touristen, dem Luciens Konzept typischerweise zu problembeladen vorkommt, stellt der Erzähler die redliche, ganz offensichtlich talentierte Schriftstellernatur Luciens entgegen, die sich auch hier im Kongo augenscheinlich durch weltweit bekannte Eckpfeiler auszeichnet:  zurückhaltendes, tendenziell kontaktscheues Naturell, dabei beharrlich.

Zunächst scheinbar noch bereit, sich auf die Vorgaben des Verlegers einzulassen (erst Reduzierung auf 10, dann auf 2 Figuren), muss er bald dessen sensationsheischendes, prinzipienlos-pornographisches Grundkonzept zur Kenntnis nehmen:

„Afrika interessiert die meisten Intellektuellen nicht, es ist nicht mehr so exotisch wie vor vierhundert Jahren. Ich schlage dir vor, es noch einmal mit demselben Text zu versuchen, nur dass die Handlung in Kolumbien spielt.“ Und überhaupt, versteht sich: „Auch in der afrikanischen Literatur muss gefickt werden!“

Dies ist für Lucien der Zeitpunkt, auf einer Test-Lesung im Tram zu bestehen vor immerhin mehrheitlich einheimischem Publikum, das allerdings in einem Krankenhaustermin für Lucien enden muss, hatte der „Tram“-Manager doch gleich klargemacht:

„Mach dich aufs Schlimmste gefasst. Für uns ist das Wichtigste, dass sie bumsen und sich betrinken wie immer. Sieh zu, dass du klarkommst.“

Unbeirrt seine literarische Präsenz festigend, nutzt Lucien einen gemeinsamen Auftritt mit einer im „Tram“ beliebten einheimischen Sopranistin, der „Diva der Eisenbahntrassen“ mit ihrem frenetisch gefeierten Eingangssong „This life is longer than the train to nowhere zum Crescendo der neuesten Eisenbahnwaggons.”; denn, wobei Erzähler und Protagonist sympathischerweise  durchaus als Teile des „Tram“- Kollektivs erscheinen wollen:

„Diese Stimme versetzte uns in schwer zu ertragende Gemütszustände, in denen wir loslaufen und auf den erstbesten Zug Richtung Nirgendwo springen wollten.“

In solchem Fahrtwind kann auch Lucien sein literarisches Konzept näher bestimmen:

„Mir ist klar geworden, dass ich meinen Sätzen die Lebenswut dieser Züge, der Züge von hier, einhauchen möchte.“

Und tatsächlich verkündet der Schweizer Verleger, nun doch irgendwie überzeugt von Luciens eigenständigem Konzept, von seriöser Literatur also, die bevorstehende Herausgabe des Lucien-Epos:

„Ein bemerkenswerter Text, halb historisch, hochliterarisch.“

Grundlegendes Kompositionsmerkmal des Romans ist die Opposition von bestimmten Figuren, hauptsächlich von  Lucien und seinem früheren Freund Requiem, „genannt der Negus“, der als Jugendlicher Marxist war, dann schon mordender Soldat; nun vollends  die Seiten gewechselt hat, wobei skrupelloseste Erpressung zu seiner Spezialdisziplin geworden ist. Über kompromittierende Fotos macht er sich nicht nur Touristen finanziell gefügig, sondern schließlich, Herzenswunsch, auch den „abtrünnigen General“ selber, der daraufhin erwägt, das „Tram“ abreißen zu lassen. Auch Luciens literarische Fortschritte möchte Requiem verhindern, zumindest sich vom Verleger bezahlen lassen.

Der Erzähler in Tram 83  suggeriert Requiems schließliches Scheitern, was nicht bedeutet, dass er Lucien stets sympathisierend gezeichnet hätte. Aber gerade diese ironisch-kritische Distanz zu dem Helden – „Unser Freund, der Schriftsteller.“ – steuert viel bei zum phantastischen Humor im Roman, nicht zuletzt wenn er auf den jungen Schriftsteller gemünzt ist:

„Tief in seinem Inneren wägte er Lenins Reaktion auf die Nachricht ab, dass Napoleon sich zusammen mit Mao Zedong nach St. Helena abgesetzt hatte.“

Inmitten der allgemeinen Sittenlosigkeit bietet der Roman eine anrührende Liebesgeschichte: Emilienne ist es nämlich, die Lucien seinerzeit vor langer Haftstrafe bewahrt hat und ihn nun in “Stadtland“ auf die Vorteile überlebenssichernden Verhaltens einschwören möchte: „‘Geht es dir gut, Schatz?‘ ‚Ja‘, antwortete er, arrogant wie alle Intellektuellen.“

Weiteres Strukturmerkmal des Romans sind listenhaft lange Schilderungen, dargeboten in schriller Begrifflichkeit, atemlosem Rhythmus, deren Galopp zur Botschaft des Buches als Frage: Lebenslust, aber wohin zu richten? beiträgt:

„  […] ob Brüder in Christo oder Druiden oder Schamanen, ob Potenzmittelverkäufer oder öffentliche Schreiber, ob Verkäufer echter gefälschter Pässe oder Schusswaffenhändler, ob Lastenträger oder Trödelhändler, ob abgebrannte Erzsucher oder siamesische Zwillinge […]“

Vorherrschenden Ton im Roman bilden also Ironie, Selbstironie, Humor, der einem bei allem Wortwitz natürlich nicht immer die Lektüre versüßen soll („Hundefleisch wurde von Tisch zu Tisch gereicht, fast wie beim letzten Abendmahl.“), denn gleich informiert uns der Erzähler sachlich: „Damals schlachtete man allein im Umkreis der Mine der Hoffnung dreiundneunzig Hunde pro Woche.“

Schlaglichtartige Bedeutung erzielen nur scheinbar lustige Schilderungen, die vom Westen bitter auf Afrika abstrahlen, wenn – ausgerechnet – dem ältesten Sohn des „abtrünnigen Generals“ die übertriebene Tierliebe der Franzosen übel aufstößt:

„Er sagte, dass er mit seinem amputierten Bein manchmal davon träumte, ein Hund in Europa zu sein, vielleicht ein Drahthaar-Foxterrier oder ein Westhighland White Terrier, um in den Genuss all dieser Zärtlichkeiten zu kommen.“

Tram 83 liest sich auch als Mujilas literarisches Eine-Welt-Manifest. Einerseits bekommen die Ausländer (nicht nur Europäer und Amerikaner, sondern auch Asiaten geraten ins Visier) mit ihren mehr als vordergründigen wirtschaftlichen Interessen ihr Fett ab, wobei die bitteren Auswirkungen für die Afrikaner nicht kleingeredet werden. Zwar können mantraartig an die „Touristen“ gerichtete Aufforderungen gerade der „Küken“ im Tram wie: „Nimm mich mit nach Kiew, dort lieben wir uns in der prallen Sonne.“ erscheinen als afrikanische „Naivitäten“ (R.S.), gemäß liebgewonnener westlicher Sicht; doch misst ihnen der Erzähler bzw. der Autor gleichzeitig eine Berechtigung bei als Manifestation der Sichterweiterung und angestrebten Lebenserfüllung: Selbst Emilienne, die eindeutig positiv gezeichnete Freundin der Hauptfigur, befasst sich mit den „Küken“, bereitet sie - trotz seiner Vorwürfe - auf ihre Tätigkeit als Prostituierte vor: „‘Hast du etwa Arbeit für sie?‘“

Bindeglied Nummer eins allerdings zwischen Afrika und der Welt, in Tram 83 besonders Europa, ist die Figur des Protagonisten selber, eines fähigen kongolesischen  Schriftstellers, der stets mit sehr europäisch anmutender Zettelsammlung unterwegs ist und dem der Erzähler immer wieder westliche Einbettungen unterschiebt, wenn er sich beispielsweise über Luciens Sprödigkeit lustig macht, sein „Benehmen à la Tim und Struppi im Sudan.“

Und wer eröffnet ihm schließlich Veröffentlichungschancen? Sein afrikanischer Kumpel von Paris her und eben ein Schweizer Verleger, dieser grundsätzlich keinen Deut weniger verderbt als manche „Single-Mami“ im „Tram“.

Fiston Mwanza Mujila hat mit Tram 83 einen Romanerstling vorgelegt, der raffiniert komponiert, dabei sprachlich schillernd sowie anregend hinsichtlich seiner Botschaft ist. Das Buch erscheint als Plädoyer für die Musik und die Literatur, für die Schwingungen des Lebens, das sich folglich von einem Hier zu einem Dort und zurück  zu vollziehen hätte. Belletristik afrikanischer Autoren gewinnt auch dank des Zsolnay Verlags und fähiger Übersetzerinnen wie Katharina Meyer und Lena Müller derzeit weiter an Statur.

 

 

Fiston Mwanza Mujila
Tram 83
übersetzt aus dem Französischen von Katharina Meyer, Lena Müller
Zsolnay
2016 · 208 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-552-05797-5

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