Gedicht = weniger sagen + mehr meinen.
Bevor ein Gedicht zum Leser vordringt, muss es erst einmal durch ihn durch: ernsthaft gelesen, ja erkannt werden – fasst der amerikanische Dichter Charles Wright das Wunder in Worte, wenn Geschriebenes durch Verstandenwerden ankommt. Auch der Dichter selbst verstünde erst lange nach Verfertigen des Gedichts, worauf er eine Antwort gefunden hätte.
Was sind Gedichte denn anderes als Wunder im besten Sinn, die mithilfe allgemein benutzter Sprache – in Musik versetzt – allgemein bekannte Dinge zusammenbringen – zu Weisheiten? Der heute 81-Jährige Poet definiert „Gedicht” als etwas, das „weniger sagt und dafür mehr meint”.
Nach allen nationalen Auszeichnungen wurde Charles Wright 2014 die höchste Auszeichnung für einen amerikanischen Dichter, der Titel eines Poeta laureatus, zuteil. Schon Jahre davor lag eine Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch vor, von Stefanie Golisch übersetzt, vom Leipziger Literaturverlag herausgebracht, aber nirgends als die Sensation gewürdigt, die sie darstellt.
Nachdem ich in meinen Gedichten zu Werken der Bildenden Kunst, DICHTE KERNE und STRICHE, STERNE, auch über Giorgio Morandi geschrieben habe, ist mir Charles Wright, der sich ebenfalls mit dem Stilleben-Maler aus Bologna auseinandergesetzt hat, zum ersten Mal untergekommen. Wieviel Freude macht eine derartige Entdeckung! Für die Vermittlung des amerikanischen Dichters in unseren, sprachgebundenen Wahrnehmungsgesichtskreis, kann man Stefanie Golisch nicht genug dafür danken, dass sie den Schatz gehoben und zugänglich gemacht hat.
Bei all ihrer Federleichtigkeit sind Wrights von Golisch gediegen ins Deutsche gezogenen Gedichte wahrhaftig und gewichtig. Wright bietet in seinen Werken Lösungen – um nicht zu sagen Erlösung: die humanistische Variante des Heilsversprechens.
Man sollte sich die Originale aus dem Munde des Autors auch anhören. Ganze Lesungen als auch Rezitationen einzelnder Gedichte stehen im Internet. Der Dichter hat eine eindrucksvoll ruhige, tiefe Stimme und den leichten Swing der Südstaaten.
Bei aller Bescheidenheit verändern die Botschaften dieser Gebilde den Leser. Wie breite Flüsse, gemächlich, führen sie fruchtbaren Schlamm mit sich. Den sich zum Teil über mehrere Seiten erstreckenden Betrachtungen verleiht Golisch auch im Deutschen den gemessenen Duktus des Originals.
Gibt es den Begriff „Bildungsdichtung” eigentlich noch? Für Wrights Werk trifft er auf jeden Fall zu: Der 1935 als Sohn eines Ingenieurs in der Ortschaft Pickwick Dam in Tennessee Geborene erfuhr während seines vierjährigen Diensts in der U.S. Army ein Erweckungserlebnis: Stationiert in Italien, erlebte er von Verona aus Landschaft und Kunst als etwas dem Alltag und allem bisher Gekannten wunderbar und fantastisch Verschiedenes. 1959 empfahl dem 23-Jährigen ein schreibender Freund das frühe Ezra-Pound-Gedicht „Blandula, Tenulla, Vagula” an eben dem Ort zu lesen, den es meint, Catulls Villa auf der Halbinsel von Sirmione im Gardasee. Hier beschließt der junge Mann, Dichter zu werden. Das feierlich Hochtrabende der jambischen Pentameter des Gedichts aus „Personae”, in dem Pound alle romantischen und antiken Vorläufer mit-meint, hinterlässt bei Wright einen tiefen Eindruck. Es hat sein Leben verändert, wie er später sagt, und erzog ihn zu einem Leser von Dante, T. S. Eliot und Ezra Pound. Letzterer hat vor dem Krieg in der Nähe gelebt, war in Pisa interniert und ist, aus dem St.-Elizabeth-Irrenhaus in Amerika entlassen, in jenen Monaten zurück nach Südtirol gezogen. Vor allem aus den „Pisaner Cantos” holt Wright sich Leseempfehlungen für chinesische Dichter, verwendet sie – ohne dass es je zu einer persönlichen Begegnung mit Pound gekommen wäre – als Ausbildungsprogramm.
Über sein neues Dichterleben – ausschließlich für die Poesie, auch im Brotberuf Literaturprofessor – wird er am Anfang des Gedichts „Jede Landschaft ist abstrakt und neigt zur Wiederholung”, S. 47, später schreiben:
Zu mir selbst kam ich mit einem Stift in der Hand
und einem Blatt Papier vor mir.
In den Jahren
vor dem Stift war ich die Auferstehung.
Es ist kein Zufall, dass gerade eine in Italien lebende Autorin auf diesen Dichter gekommen ist, die aus dem Italienischen und Englischen übersetzende Golisch. Auch Charles Wright – der nach dem Schriftstellerstudium an der Iowa-Universität mit einem Fullbright-Stipendium nach Italien zurückkehrte – hat aus dem Italienischen übersetzt, u.a. die Gedichte Eugenio Montales.
Golisch hat für „Worte sind die Verringerung aller Dinge” eine Auswahl und Anordnung von 50 Gedichten aus Wrights späten Sammlungen getroffen, bei denen sie den gelassen-gefassten Ton beibehält und nicht zuletzt im Nachwort Situation und Anliegen des Dichters vertritt. Der Leipziger Verleger Victor Kalinke hat die Erläuterungen zu den chinesischen Dichtern beigesteuert, auf die Wright sich vielfach bezieht; was nicht heißt, dass Leser so weit an die Quellen zurückgehen müssen, um viel von den Gedichten zu bekommen.
Der Band zeigt auf dem Titelblatt einen Mann, der ein Kunstdenkmal zu fliehen scheint und sich eine Zigarette ansteckt. Hinten ist der Dichter vor einem im selben Marmorton gestrichenen Bauteil abgelichtet – allerdings in Gummistiefeln vor seiner Gartentür, der Projektsfläche vieler Gedanken seiner Gedichte, die diesen Hinterhof zum Schauplatz haben.
Schmalrückig und unscheinbar gestaltet ist das Buch 2007 in der Edition Erata des Leipziger Literaturverlages erschienen und heißt nach einer Gedichtzeile „Worte sind die Verringerung aller Dinge”. – Wobei sich erst nach Lektüre erschließt, dass mit „Verringerung” nicht Wert-Minderung, sondern angestrebte Überwindung des Allzu-Weltlichen gemeint ist – i.e. Vergeistigung nach nicht zuletzt fernöstlichem Vorbild.
Was macht Wrights Gedichte so gehaltvoll? Der Begriff „Bildungsdichtung" passt darum so gut, weil es dem Dichter neben aller beschreibenden Abbildung und Herstellung gedanklicher Bilder stets – im ganz humanistischen Sinn – um die Auseinandersetzung mit Vorbildern geht: mit Menschen, die sich mit ihrer Kunst bereits Bilder von der Welt gemacht haben.
Dass sich der Dichter in diesem Verstehensversuch besonders einigen Malern nahefühlt, liegt im Wesen des Anliegens. So beginnt Wrights „Hommage an Morandi”, S.105:
Von allen Meistern bist du es gewesen, der im Verborgenen
das Wichtigste geteilt,
Ausschließung –
Ist Form uns doch gegeben als Teil des Gegebenen,
und niemals Aufgedrängten
kratze und lösche aus, kratze und lösche aus,
solange bis die Dinge klar werden.
Der Schlüsselbegriff in dieser Passage ist „Ausschließung”, wie Golisch „exclusion” übersetzt hat. Im verwandten Fremdwort „exklusiv” findet sich diese einsame Spitze einer solchen Ausnahmeerscheinung auch. Es geht bei einer solchen Enthaltsamkeit freilich auch um auch das Heraushalten des Sprachkünstlers aus der Welt, die er darstellt. Wright setzt dem Ergreifen des Worts das Begreifen der Dinge vor, mischt sich nicht ein, wenn er wiedergibt.
Neben Giorgio Morandi sind es die Maler Cézanne und Mark Rothko, auf die Charles Wright immer wieder zurückkommt.
Die Werke all dieser Intellektuellen suchen im abbildenden Lesen der Welt nach Gott. Als aufgeklärte Atheisten geht es ihnen um die verheißene Erlösung – mit Mitteln der Kunst. So heißt es etwa im ersten Teil der Sentenzen des Titels „Apologia pro sua vita”:
Verlassenheit. Morandi, Cézanne, immer geht es um Verlassenheit.
Und Rothko. Besonders Rothko.
Trennung von dem, was uns heilt
jenseits von Malerei, jenseits von Kunst.
Lese- und Seherlebnisse bilden auch heute noch für viele Texte in Wrights fast 20 Gedichtsammlungen umfassendem Werk die Anlässe, die es braucht, dass der Dichter sich über etwas klar wird. So entstehen die meisten von Wrights – von Kennern der chinesischen Philosophie als daoistisch charakterisierten – Gedichten.
Die Vermittlerin Stefanie Golisch bemerkt treffend im Nachwort, S.158: „Im Sinne Adornos antwortet in Wrights Gedichten die Kunst gleichermaßen auf das Leben und auf die Kunst – ein nach allen Seiten hin offener Dialog.”
Vordringlich sind dabei die Themen Zeit und Erinnerung. Der Dichter selbst nennt drei Hauptanliegen sein eigen: „Sprache, Landschaft und die Idee Gott”. Diese Themen erscheinen unter Zeitgenossen ebenso wenig im Trend wie die Stilleben eines Morandi zu dessen Zeit. – In „Jede Landschaft ist abstrakt und neigt zur Wiederholung”, S. 47, steht:
Erinnerte Landschaften sind übrig in mir
wie der Stachel einer Biene,
hoffnungslos, leidenschaftlich.
Unübersetzbare Sprache.
Geheimnislos, unlöslich im Blut, handeln sie im Gegensatz
zum Absoluten, dessen Worte vertonte Einsamkeiten sind.Jede Form von Landschaft ist autobiografisch.
Vermehrt kreist Wright um Geschichte und Tod, setzt sich mit der Anfälligkeit des eigenen Körpers auseinander und nennt penibel die Namen von Freunden, mit denen ihn das eine oder andere erinnerte Erlebnis verbindet, als wollte er das Abstrakte an den Fakten vertäuen.
Seine Gedichtzyklen stellt er in Trilogien und diese in größere Gruppen zusammen. Der Laudator wies bei Wrights Krönung zum Lorbeerdichter (2014) besonders auf „Das Appalachische Totenbuch” hin, ein Gedicht, das – mit dem Un-Ort „Appalachia” seinen Zustand, Wohnort als auch seine Arbeit meinend – Wright über 30 Jahre immer wieder aufgenommen hat, um die Sinnhaftigkeit des Lebens von seinem (vorläufigen) Endpunkt aus zu stellen:
Es wundert mich immer wieder,
wie Landschaft die Toten in sich aufnimmt,
wie was wir sehen die sonderbare
Summe dessen, was wir nicht sehen, erhöht,
wie Gottes Atem unser Auf und Ab ausgleicht.
Anflug von Herbst, gedehnt und dicht gekerbt, gelöst die Züge eines
grimmigen Angesichts.
Aufflackern hier und dort,
virtuelle Wirklichkeit,
Zeit, in die lange Teilung einzutreten.Aus: Das Appalachische Totenbuch, S.45
Die Gedanken zur Vergänglichkeit werden von einem hellwachen Bewusstsein lebendig gehalten. Indem der Dichter Gerüche, Hintergrundgeräusche wie den Rasenmäher des Nachbarn, Wolkenformationen und Farben, so exakt er es vermag, beschreibt, setzt er alle Theorie der Probe aufs Exampel aus, bricht sie durch Gegenwärtigkeit des eigenen Empfindens. Ein besonderer Reiz der Gedichte besteht aus dem Gegensatz zwischen Beobachtung und Ahnung, Zeitlosigkeit und Augenblicksaufnahme, Erinnerungen und Echtzeit. Selbst das Heim des Dichters, sein Zustand: am Schreibtisch –, wird bei diesen Selbstgesprächen bei offener Gartentür mit beschrieben. Alltagsschnipsel erden gewissermaßen Wrights Meditationen; eine Vorliebe, die er mit einem anderen Lieblingsdichter teilt, Gerard Manley Hopkins, der sich die tägliche Übung des Beschreibens der Wolkenformation auferlegt hatte. Auch Emily Dickinson, die ihr Zimmer in Amherst, Massachusetts, kaum je verlassen hat, ist Wright seelenverwandt.
Es ist eine Schande, dass viele Dekaden ins Land ziehen mussten, bis Wright ins Deutsche übertragen wurde. Erfuhr er doch in den USA seit den 1970erjahren steigende Wertschätzung und gilt dort als einer der wichtigsten und eigenwilligsten Dichterpersönlichkeiten seiner Generation. (Zugegeben: Nobelpreisträger Eugenio Montale und ein anderer auf Wrights Schreibtisch befindlicher Nächster, Hart Crane, mussten auch ein halbes Jahrhundert warten, bevor man sie deutsch veröffentlichte; von Theodor Roethke gibt es überhaupt noch nichts.) Er gilt als Ausnahmedichter, weil er als Einziger exakt Beschriebenes zum Seh- und klanglich Gestaltetes zum Hörerlebnis macht. Für seine Betrachtungen der Welt hält sein Hinterhof in Charlottesville, Virginia, als Mikrokosmos her, in dem alles in der Welt Mögliche – nur bescheidener – vorkommt.
Vielleicht ist es müßig, das mangelnde Desinteresse an diesem Dichter zu untersuchen. Es wird so viel Unerhebliches gedruckt, dass es das Bedürfnis nach Erhebendem erdrückt. Das mag auch daran liegen, dass die Erwartungshaltung, die wir den USA entgegenbringen, Fast Food ist, Pop; wahre Nahrung verkauft sich nicht.
Ich wünsche Wright, wie der kürzlich wiederentdeckte John Williams, dessen langsamer Entwicklungsroman „Stoner” überraschend ein 50 Jahre verspäteter Bestseller wurde, die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihm zusteht. Denn mit seiner Dichtung zeigt Wright nicht weniger als das, was uns Religionen versprochen haben: Erlösung.
Woran ich mich erinnere, erlöst mich
entblößt mich und bringt mich zur Ruhe <...>„Apologia pro sua vita” III
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben