Essay

Literaturgeschichten – oder wie man seine Vorurteile bestätigt

Eine Erwiderung Bertram Reineckes an Charlotte Kraffts perlentaucher.de-Beitrag "Postpost"
Hamburg

Grundsätzlich ist es nicht sonderlich interessant, wenn eine Autorin wie Charlotte Krafft die seit Jahren verbreiteten Vorurteile gegen junge AutorInnen nochmals kolportiert (allenfalls ist etwas merkwürdig, dass sie auch die Gegenargumente zu kennen vorgibt, aber gänzlich undiskutiert lässt, als wären sie nicht der Rede wert). Und Christiane Kiesow, durch die ich auf Kraffts Text aufmerksam wurde, hat eigentlich schon das Wesentliche in ihrer Antwort herausgearbeitet: Krafft geht es mehr um eine plausible Geschichte als darum, wirklich die Phänomene zu erfassen, die sie beschreiben möchte.

Erstaunlich ist aber doch auch, wie positiv überrascht sich Leser über Texte wie den von Krafft immer wieder geben. Gäbe es ein allgemeines Feiern der jungen Literatur, dem nun endlich einmal widersprochen würde, könnte man das verstehen. Insofern dies aber offenbar nicht der Fall ist, scheint es andere emotionale Bindungen zu geben, die Texte wie diesen besonders attraktiv machen. Vielleicht sollte man hier ebenso nachhaken wie bei dem Umstand, dass Krafft etwas, das man bisher als zeitweiligen Mangel betrachtet hat, zu so etwas wie einer literaturgeschichtlichen Notwendigkeit aufbauscht. Literaturredakteure beanspruchen ja immerhin jedes Jahr Neuigkeitswert für die Nachricht, dass es wieder nichts wurde mit dem großen welthaltigen Text beim Open Mike.

Zunächst seien also Kraffts Absätze zur Literaturgeschichte näher befragt: Sie setzt mit der Aufklärung ein. Warum da? Warum nicht früher? Oder später? Vielleicht, weil wegen der Kanonisierung der Literatur durch die kurze Zeit später einsetzende universitäre Germanistik Leiterzählungen vorliegen, die in die Schule kolportiert wurden, während sie über den genauen Ablauf der Literaturentwicklungen und Brüche zwischen Barock und Aufklärung weniger weiß? Nun gut, irgendwo muss sie anfangen. Nur ist schon ihr Anfang in mehreren Hinsichten schief. Anders als Charlotte Krafft behauptet, ist die Aufklärung nicht oder mindestens nicht nur die große Zeit der Objektivität, sondern einer ihrer wichtigen Impulse war, zugespitzt gesprochen, die „Entdeckung“ der bürgerlichen Subjektivität für die Literatur.

Der Briefroman als DIE Form, welche die Aufklärung popularisierte und liebte, weist darauf hin. Überhaupt: Der aufklärerische Roman wurde erst geboren in Abgrenzung zu den weltprallen Bilderbogenromanen mit verwickeltem Plot, die vorher das literarische Geschehen prägten, unbeschadet der Tatsache, dass deren Autoren ihre bürgerliche Sicht mitunter mit der Weltvernunft zu verwechseln neigten. Völlig verfehlt ist ihr Satz:

Literatur in der Zeit der Aufklärung war vernünftige Literatur und erhob den Anspruch objektiv sein zu können.

Charlotte Krafft hat Literaturwissenschaft studiert. Das ist ihre Eintrittskarte zu einem Forum wie "Perlentaucher". Sie sollte also über Grundkenntnisse, über Behauptbarkeitsbedingungen und Recherche verfügen. Von allen Autoren, die ich im Folgenden nenne, findet man entsprechende Digitalisate im Netz. Man muss sich noch nicht mal eigens in die Bibliothek bequemen.

Man lese Sterns „Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“ (ein sehr populäres Buch der Zeit), Müllers heute völlig vergessenen Bestseller „Siegfried von Lindenberg“ oder gar Karl August Musaeus Romane, deren Satiren1 in so viele verschiedene Richtungen weisen, dass sie sich (nicht nur vom Standpunkt der Aufklärung aus) selbst auffressen und sich als ein Spiel auf dem Boden eines philosophisch-ästhetischen Diskurses erweisen, nicht als eines auf der Ebene der Sachen, die sie vorgeblich verhandeln. Ähnlich steht es mit dem heute noch bekannteren Jean Paul, den die Literaturwissenschaft deshalb gern als nicht klar einzuordnenden Solitär behandelt.

So eroberten die Stürmer und Dränger auch nicht das Individuum zurück, das ihnen die Aufklärer genommen hatten (wie Krafft behauptet), sondern sie radikalisierten lediglich eine Zeitströmung. Man lese z.B. auch Vossens "Luise" oder Kosegartens "Jucunde". Wir sind durch die Germanistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewohnt, die Literaturgeschichte als eine Bewegung hin zur Klassik bzw. als einen Verfall der Klassik zu lesen. Deswegen bekommen wir das geschilderte Geschehen schlecht in den Blick. Hayden White, der wohl erste, der Geschichtswerke mit wissenschaftlichem Anspruch auf ihre Qualität als Erzählungen systematisch mit literarischen Werken verglich, zeichnet in seinem Buch „Metahistory“ die Verzweiflung der Aufklärer an ihrer Vernunft nach:2 Geschichtsschreiber konnten damals, weil sie zu hohe Ansprüche an diese Vernunft stellten, keinen konsistenten Sinn in der Historie mehr feststellen. Ihnen stellt White, beginnend mit Herder, die großen Erzählungen der Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts gegenüber.

White zeigt also das 19. Jahrhundert als Konsolidierung der großen Narrative und würde Kraffts Narrativ eines Verfallsprozesses nicht beipflichten. Krafft hingegen übernimmt eines dieser Narrative aus der entstehenden Germanistik und spinnt es an die Gegenwart fort, ohne sich vom Befund an Einzeltexten verunsichern zu lassen. Völlig ausgeblendet bleibt dabei auch, dass Literaturgeschichte oft (wenn nicht immer) eine Geschichte von Rückgriffen, Abgrenzungen und Brüchen ist. Die romantische Ironie lässt sich sehr gut lesen als eine Anknüpfung an die Ironik eines Musaeus, Novalis stilisiert Jean Paul zum ersten vollgültigen Romantiker, Traum- und Phantasiemotive waren schon im Trivialroman einige Zeit vor dieser Epoche populär. Beide Wiederaufnahmen geschehen bei den Romantikern auch in Abgrenzung zur Gravität der Weimarer Klassik.

Mit White ließe sich die Literaturgeschichte, anders als Krafft das tut, wie folgt fortsetzen: Der Rückzug der Romantiker auf Träume, wo er sich nicht auf schlichte Lesemoden reduzieren lässt, ist eher ein Atemholen -- große Narrative lassen sich eben zunächst in einer von bekannten Tatsachen weniger durchwirkten Welt etablieren.3 Erst spätere Epochen, so könnte man formulieren, erschlossen die Techniken, diese Narrative auch in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt zu etablieren. Nur beschrieben die Autoren die Wirklichkeit auf so radikal unterschiedliche Weise, dass die Zeitgenossen dafür zwei Stilrichtungen zur Beschreibung einführten: Biedermeier und Vormärz.4

Letztlich müsste Krafft, wenn sie konsequent nachdächte, hier Whites Version der Literaturgeschichte punktuell zustimmen, zumindest, so lange sie weiter daran glauben möchte, dass der Vormärz irgendwie „fortschrittlich“ gewesen sei, denn von den Inhalten fand er ja gerade eher wenig Fortsetzung. Der populäre Roman des 19. Jahrhunderts knüpft offenbar zunächst vor allem am Biedermeier an, die pathetischen Gesänge der Vormärzler unterscheiden sich nicht einmal inhaltlich, sondern eher in ihrer Stoßrichtung von den hohen Phrasen früherer und späterer Zeiten. Krafft wollte sicher nicht ausgerechnet dieses uns fremd gewordene Versgeklapper für einen Fortschritt ausgeben?

So könnte man an Kraffts Version der Geschichte entlanggehen und Punkt für Punkt die von Kenntnissen ungestörte Halbbildung nachweisen. Zum Beispiel: Entgegen den Erzählungen der schuldig gewordenen Nachkriegsgermanistik,5 die sich gern auf das rein Werkimmanente zurückzog, ließe sich etwa die Moderne ebensogut als Mühe um kalte Objektivität auffassen -- man lese Texte von Brecht, Benn oder Hoddis oder schaue sich deren Frontstellung gegen Leute wie Rilke, Storm oder Dehmel an. Auch hier also eher Bruch und Wiederanknüpfung an Vergangenes-„Veraltetes“ statt logischer Fortsetzung einer Epochentendenz.6 (Wie gewaltsam Kraffts Epochenzuschreibungen sind, sieht man allein daran, dass sie die ganze neue Sachlichkeit aus dem Kanon der Moderne ausscheiden muss.) Wenn Krafft solchen Autoren zuschreibt, was sie in ihren Texten eher bestreiten, nämlich einen gerichteten Willen, dann verwechselt sie die Ebene. Die Autoren mögen einen klaren gerichteten Willen gehabt haben, ihre Texte zeigen eher einen Menschen, gespannt in objektive Interessenlagen oder anthropologische Konstanten, die für den Willen des Individuums -- das ist ja gerade der Witz dabei -- eben nicht verfügbar sind. Überdies: Wenn uns Benns oder Brechts dichterisches Bemühen als hartnäckig gerichteter Prozess erscheint, liegt es vielleicht daran, dass diese Autoren wussten, was sie taten? Man sollte dann doch eher solche Autoren mit ihnen vergleichen, die heute genauso gut sind. Wenn man, wie Krafft es tut, ein gerichtetes Bemühen zu einem unzeitgemäßen Atavismus stilisiert, dann verpflichtet man eine ganze Generation zu genau jenem Herumeiern, das zu allen Zeiten ein Kennzeichen von Autoren ist, die nicht wissen was sie tun. (Schwer zu leugnen, dass es heute auch anämische junge Prosa gibt. Weniger klar ist, warum wir ausgerechnet über öde Literatur uns so lange verbreiten sollten, wie Krafft das tut.)

Durch diese Erzählung einer geradlinigen Literaturgeschichte ohne Brüche und Ausweichmöglichkeiten verpflichtet also Charlotte Krafft junge Autoren genau auf die Art von Literatur ohne Richtung, aber voller Subjektivität, die sie zu kritisieren vorgibt und, mit Verlaub, selber schreibt.7 Soll man polemisieren: Insofern sie selber keine befriedigende Lösung für die Probleme des Schreibens findet, dekretiert sie - Adorno und Enzensberger haben es vorgemacht - das Ende jener Literatur, die sie zu schreiben nicht vermag.8 Oder soll man sagen: Sie stilisiert einen Imperativ an junge Literatur zu einem Epochenmerkmal der Jetztzeit, dessen nun wirklich nahezu bruchlose Geschichte man von der Aufklärung bis heute nacherzählen könnte: "Ihr Jungen seid unangepasst und revolutionär, aber lasst bitte alles wie es ist." Ein Neues hat sich hingegen immer in einem Kampf gegen Altes mühevoll durchsetzen müssen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Charlotte Kraffts Artikel lässt sich in seiner Widersprüchlichkeit dann besser verstehen, wenn man unterstellt, dass eine vorgängige Wertentscheidung ihr die Sicht verstellt: Die Tradition ist gut und zu achten, und sie kann sich nicht vorstellen, dass ein Jungspund unter dieser Last nicht zusammenbricht.9 Junge Literatur tritt also von vornherein bei ihr als das nicht Wertvolle gegen die als wertvoll gesetzte Tradition an. So erklärt sich, dass sie den Hinweisen Hans Altenheins zur "materiell-immateriellen Doppelnatur" von Preisentscheidungen nicht nachgeht, obwohl sie sie kennt, so erklärt sich auch die Ignoranz Charlotte Kraffts etwa gegen Einwände, auf die Kesslers Thesen seinerzeit trafen. So erklärt es sich zuletzt, dass sie Gegenbeispiele gegen ihre Theorie von Literaturgeschichte, die teils eigentlich jeder bereits aus dem Deutschunterricht kennen sollte, nicht aufgreift und für ihr Denken fruchtbar macht. Sie braucht nicht nachdenken, denn die Wertentscheidung ist von vornherein getroffen.

Solche Wertentscheidungen entwickeln eine hohe emotionale Bindungskraft und können so zu ernsten Erkenntnishindernissen werden. (Die Kommentare unter ihrem Text sind symptomatisch: Der erste weist zwar Schiefheiten bzw. Unkenntnisse nach, in Bezug auf die Literatur, die er selbst zu kennen meint, er kommt aber nicht auf die Idee, damit auch den Rest zu hinterfragen, den er nicht prüfen kann. Der zweite Kommentar bestätigt ostentativ Wertaussagen und ergänzt den Katalog an Forderungen, die junge Literatur erfüllen müsste, sollte sie wertvoll sein.10 Intuitiv kann eine These vom Niedergang der Literatur immer Glaubwürdigkeit heischen: Wird doch immer der ganze Wust der Gegenwart einerseits gegen einen geläuterten und von Unerheblichem gereinigten Kanon der Vergangenheit andererseits ausgespielt. Man lese sich aber einmal durch den ganzen Wust der Dinge, die selbst allein von angesehenen Verlagen z.B. in den 50ern oder 60ern verlegt wurden! Man wird dann kaum auf die Idee kommen ganze heutige Generationen en Gros im Gegensatz dazu für vergleichsweise uninteressant zu erklären.11

Dass diese Perspektivtäuschung allerdings nicht die Ursache für Kraffts Irrtum ist, sondern diesen lediglich dem Leser plausibel machen könnte; dass die Ursache vielmehr ihre affektive Bindung an Wertentscheidungen ist, lässt sich an ihrer Fassung der Literaturgeschichte besonders gut ablesen: Sie hat bereits entschieden: Um Literatur geht es gar nicht. Auch im Katalog ihrer Literaturgeschichte ist es immer etwas anderes als die Literatur selbst, dass ihren Wert (bzw. ihre zeitgeschichtliche Relevanz) einlösen muss: Was über die Welt gesagt wird: Die Objekte der Aufklärung werden von den Nachrichten über das Subjekt verdrängt, im Realismus dürfen dann Auseinandersetzungen mit Fortschritt und Darwinismus nicht fehlen usw. Man sah es ja schon daran, dass sie dem Vormärz „Fortschrittlichkeit“ aus rein inhaltlicher Motivation zuschrieb.12 Es ist offenbar nicht (allein) Unkenntnis, was die Autorin zu dieser fadenscheinigen Version von Literaturgeschichte verleitet. Es darf z.B. von vornherein gar nicht herauskommen, dass die neue Generation etwa mehr Möglichkeiten durch das Internet hätte! (Mir beispielsweise hilft es sehr, und es wäre doch eine Frage, ob sich durch den Umstand, dass man Textproben im Netz so schnell vergleichen kann, nicht die Messlatte dafür erhöht hat, was wir einen eigenständigen Text nennen.13 Auch darf eine Literaturgeschichte in Kraffts Augen nicht zeigen, dass sich literarische Entwicklungen oft auch in einer allmählichen Verlagerung von Themenfeldern und Stilzügen abspielen, statt durch ein Auswechseln profilierter Haltungen. Krafft kann ihre Vorurteile nur etablieren, wenn sich Texte einerseits je nach Epoche schroff durch unterschiedliche inhaltliche Haltungen ausweisen. Anderseits hieße das ja dann, sich auf Haltung, Verfahren und Stilzüge einlassen zu müssen, und damit auch auf eine Art von Welthaltigkeit, die tiefer liegt als es ein oberflächliches Thema hergibt. Es spräche einiges dafür: Es fällt einem versierten Leser oft leichter, einen Textausschnitt ungefähr zu datieren, als ihn in eine bestimmte Literaturepoche einzuordnen -- das dürfte nur bei sehr prägnanten oder pädagogisch zugerichteten Beispielen möglich sein. Ebenso dürfte es leichter sein, beispielsweise den Schillerton einigermaßen herauszuhören, als den entsprechenden Text seiner Phase des Sturm oder Drang der klassischen Periode oder einem versierten Epigonen zuzuordnen.14

Den Widerwillen, sich auf Sprache und Stil einzulassen, hat zugegebener Maßen nicht nur Charlotte Krafft. Dieser affektive Kern leuchtet auch bei der Jahr für Jahr erneuerten Zeitungsklage über die Krise der jungen Literatur durch. Man sieht es an der Schnelligkeit, in der stilistische Versiertheit zuerkannt, aber sofort beiseitegelegt wird, um so schnell wie möglich nicht mehr über Literatur, sondern über (den Journalisten vielleicht liebgewonnene) Inhalte zu reden. Könnten Autoren wie Maxim Biller oder Jana Hänsel ausweisen, worin die literarische Versiertheit der jungen Literatur denn genau besteht? Wann immer ich mit junger Literatur konfrontiert war, faszinierte mich die Spannweite der stilistischen Durchtriebenheit. Selbst beim Open Mike kann man noch etwas davon sehen: Mancher ist eher deswegen erfolgreich, weil er Beliebtes und Erprobtes bietet, jemand anders überzeugt eher durch Cleverness in der Architektur seines Textes und geschickte oder neue Lösungen im Detail. Würden es die berichtenden Redakteure vermögen, hier einzusteigen? Würden ihre Chefs das drucken oder unterdrücken, vielleicht mit einem Hinweis auf einen überforderten Leser? Ein einfaches Narrativ der Wertung versteht hingegen jeder.

Von Charlotte Krafft wird das exemplarisch vorgeführt. Man braucht deswegen auch gar nicht zu argumentieren, bei welchen Autoren es anders sein könnte etc. Wenn es Charlotte Krafft, wie fadenscheinig auch immer, um irgend eine Art von Beschreibung gegangen wäre, dann würde sie zumindest angedeutet haben, dass es von ihrer Diagnose eventuell auch irgendwelche Ausnahmen gäbe.15 Dies tut sie, sozusagen extra, nicht. Sie achtet säuberlich darauf, dass der Vorwurf der inhaltlichen Leere alle jungen Autoren gemeinsam trifft. Irgendwelche Marotten Helene Hegemanns oder Ronja von Rönnes aber einer ganzen Generation von Schriftstellern in die Schuhe zu schieben, ist kein Argument, sondern, nimmt man es ernst, eine abstoßende Unredlichkeit. Krafft lässt ja keine Ausnahmen zu, selbst gegenüber AutorInnen wie z.B. Julia Veihelmann.16 Krafft möchte, zugespitzt gesprochen, eine Randgruppe des Literaturbetriebs ausgrenzen, die, die dazustoßen, die sich schlechter wehren können, wie wir das im Bereich der Politik mit anderen Randgruppen heute täglich erleben.17 Wie im politischen Diskurs kann sich Krafft dazu eher auf allerlei Gerüchte verlassen statt auf Fakten. Und darauf, dass gerade das von ihr vertretene Vorurteil besonders bequem ist: Wenn es außer dem, was ich bereits kenne, nichts wirklich Relevantes zu lesen gibt, kann ich beruhigt sein: Ich weiß ja bereits Bescheid. Es ist also gar nicht unbedingt so, wie es zunächst den Anschein hat, dass Christiane Kiesow sich mit Charlotte Krafft irgendwie über Literatur stritt und eine da die besseren Argumente hat. Sondern während Christiane Kiesow versucht, ernst über ihren Gegenstand nachzudenken, könnte man Kraffts Text eher mit einem Diktum Gaston Bachelards zusammenfassen:

Die Meinung denkt falsch; sie denkt nicht, sie übersetzt Bedürfnisse in Erkenntnisse.

Ein besseres Erkenntnishindernis aber als den Glauben, bereits zu wissen, gibt es nicht.

  • 1. Ähnlich, wie es später an großen Ironikern wie Heine oder Tucholsky moniert wurde.
  • 2. Der Geschichtenerzähler und der Erzähler von Geschichte sind sich in der Aufklärung noch sehr nahe. Es gab die wissenschaftlichen Standards noch nicht, allenfalls solche aufrichtiger oder unaufrichtiger Philologie und Quellenkunde. Der biografische Roman war deckungsgleich mit der Biografie als populäres Sachbuch. Beides war ohnehin so lange nicht eigentlich literarische Kunst, wie es in Prosa und nicht in Versen gefasst war.
  • 3. Aus ähnlichen Gründen wichen schon Heinse, Schnabel, Wieland und andere für ihre großen Entwürfe in zeitliche oder geografische Fernen aus.
  • 4. Tastend und unsicher tut dies etwas noch Wolff in seinem „Hausschatz“ von 1859, er war sich als Kenner des damals Gelesenen noch bewusst, dass sich damit nur eine gewisse Tendenzrubrizierung, keinesfalls eine Abbildung der Literatur bewerkstelligen lässt. Durch Abschleifung und Gewohnheit gerinnt es uns zur unhinterfragten Gewissheit.
  • 5. Eine solche Germanistik sieht im Chandosbrief die Gründungsurkunde der deutschen Moderne (und übersieht, dass es sich dabei um einen hochironischen Text handelt), während andere Versionen von Literaturgeschichtsschreibung die Moderne mit Holz oder der Whitmanrezeption einsetzen lassen. Zum Ruhm des Briefes (und vor allem seiner berühmten Stelle) trägt bei, dass sie sich zur Attitüde eignet. Schwierigkeiten mit Sprache und Text können damit zum Signum eines besonderen Sensoriums umgedeutet werden. (Auch bei manchen StudentInnen des Literaturinstituts war das Verfahren beliebt): „Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“ Nur im Rückgriff auf eine (ähnliche) Haltung wird es jedenfalls verständlich, warum eine Notiz zur Person anlässlich einer Veranstaltung auf ihrem Blog werbenden Charakter haben sollte. (Dabei geht es hier nicht um die Unbeholfenheit der Formulierung an sich, die man ja noch als einen Versuch auffassen könnte, den grellen performativen Selbstwiderspruch der Vorlage aufzulösen.) : "Und zwar fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, mich auszudrücken, ob nun schriftlich, in Studien, Briefen oder Sonstigem, weder Gedichte noch Prosa noch irgendwelche Aufsätze, oder sei es nur ein Einkaufszettel, kann ich schreiben. Ich kann auch nicht mehr sprechen. Nur noch das Nötigste bringe ich heraus und dann auch nur stockend, mich wiederholend, ständig selbst verbessernd, mit größter Anstrengung. Was ich zu Tage bringe klingt gestelzt, unecht, künstlich, an den Haaren herbei gezogen, möchte ich sagen."
  • 6. Ein kurzer Blick auf die Lyrik, wie ihn Christiane Kiesow eingefordert hat, hätte auch hier nicht geschadet. Krafft hätte gesehen, dass der Expressionismus (wohl die prototypische Moderne des Deutschunterrichts) teils von sprachlichen Rückgriffen hinter die verslichen Novitäten eines Holz, Flaischlen oder Dauthendey ein bis zwei Jahrzehnte davor lebt, bis hin zur Wiederanknüpfung an Macharten des barocken Kirchenliedes.
  • 7. Es hätte ein Geschmäckle, sollte dieser Essay der Versuch sein, sich durch einen Kotau vor der öffentlichen Meinung der Jury des Open Mike anzuempfehlen? Gar mit einer Geschichte, die in „neuer Naivität“ und „entschiedener Eindimensionalität“ mit „Pathos“ endlich ein relevantes Thema angeht, wie sie es am Schluss fordert?
  • 8. Krafft über Krafft „Wir haben nichts, woran wir uns ‚reiben’ könnten, keine Zäune zum Niedertreten. Wir rennen querfeldein, ohne das geringste Schuldgefühl oder Revolutionsgefühl. Bei uns ist alles Revolution und nichts.“ Übrigens stammt das Zitat offenbar von 2015! Das ist schon erstaunlich. Siehe aber auch Fußnote 7 -- wie jenes Zitat sollte man auch dieses nicht als ungebrochene Selbstkundgebung lesen, sondern als Stilisierung, denn ausweislich ihres Auftritts in der Wabe gibt es schon Dinge, an denen Krafft sich noch reiben kann, z.B. Menschen mit großen Nasen, Lesebrillen, alte Knacker, Leute die von Pinselstrichen reden usw.: https://www.youtube.com/watch?v=8vLOFV-dD1s
  • 9. Aber dies ist zunächst ja nur ihr Problem, ich kenne viele AutorInnen ihres Alters, die durchaus wissen, wie sie die großen Brocken stemmen, die sie sich vornehmen.
  • 10. „Literaturgeschichte-Deutsch-LK-Teil“ kommentiert auch Rene Hamann diesen zentralen Teil des Textes missfällig an anderer Stelle, pflichtet aber ansonsten bei: „am Ende findet sie aber den Weg zurück.“ Mit anderen Worten, er weist den Argumentationsgang zwar zurück, das Ergebnis schmeckt ihm aber trotzdem so gut, dass er es dennoch ganz unargumentiert für richtig hält.)
  • 11. Auch hier sind Lyrikleser wieder klüger, weil ihnen dies Geschäft angesichts von gealterten Blütenlesen schneller von der Hand geht.
  • 12. Vielleicht fehlt deswegen der Barock, diese Epoche würde schrill zeigen, dass es in der Literatur immer auch um Ingenium geht. Und wie verhielte es sich mit der Objektivität der Literatur des Barock im Vergleich zu der der Aufklärung?
  • 13. Wer eine Literaturgeschichte anhand ihrer Medien erzählte, dem würde nicht nur die neue Sachlichkeit nicht entgehen, der käme schnell auf den Gedanken, dass damit heute auch ganz andere Möglichkeiten der Recherche in fremden Lebenswelten bestehen. Sofort würde sich der Umstand, dass viele Geschichten von jungen Leuten handeln, nicht allein durch den egozentrischen Autobiografismus erklären lassen, sondern mit der Soziologie der Internetnutzer zusammenhängen könnten: Man kann den Habitus bestimmter Generationen im Netz einfach besser erforschen. Recherche scheint aber ziemlich das letzte, was Charlotte Krafft von der Literatur erwartet. Sie setzt statt dessen auf „reflektierte Naivität“ „entschiedene Eindimensionalität, die Leidenschaft erlaubt, ohne sich zu verschließen“, „Mut zu Pathos, Träumerei und Affekt, zum Vielgesagten“. Wie groß der Unterschied zu schriftstellerischen Tugenden wie denen von Hegemann, Rönne oder Sargnagel dabei letztlich noch ist, mag jeder selbst ermessen.)
  • 14. Jedenfalls sind solche Aufgaben simpel genug, dass sie bereits von den Steinzeitcomputern vor einem halben Jahrhunderts lösbar waren, während eine Zuordnung zu Epochen ihnen meines Wissens immer noch nicht recht gelingt. Wenn wir unsere Epocheneinteilungen dennoch gern beibehalten wollen, sollten wir wenigstens eingedenk bleiben, dass wir damit nicht unseren Gegenstand neutral abbilden, sondern gezielt eine Überdeterminiertheit erzeugen, die aus konkreten anderen (gesellschaftlichen?) Interessen erwächst.
  • 15. Der einzige relativierende Satz, den ich fand, sagt ja lediglich: „Absolventen von Schreibschulen sind stilistisch nicht immer langweiliger als ihre unstudierten Kollegen.Dieser relativiert ihre These vom Unwert der jungen Literatur schon deshalb nicht, weil dieser Wert ihr durch die Inhalte hergestellt wird, und da macht sie für niemanden echte Ausnahmen.
  • 16. Deren Recherche-, Beobachtungs- und Einfühlungsgabe reicht so weit, dass jemand, der wie Krafft das Vorurteil hegt, junge Leute schrieben immer über sich, meinen muss, selbst da, wo ihre Figuren Industriearbeiter, Reisefachverkäufer, Lehrer oder Arbeitslose sind, schriebe Veihelmann noch autobiografisch, weil es ihr so gut gelingt, fremde Lebenswelten authentisch zu schildern. Mit anderen Worten, selbst die spezifische herausragende Leistung einer Schriftstellerin muss ihr noch als kontrafaktische Bestätigung von Kraffts Affekt auf die Füße fallen! Krafft hat dazu den Rahmen dessen, was sie als symptomatische Schwäche betrachtet, gezielt überdehnen müssen. Sie moniert nicht bloß ein Schreiben, dass autobiografisch ist, nicht bloß ein Schreiben das teilweise oder insgeheim autobiografisch ist, sondern zu guter Letzt eines, dass sich bloß noch an autobiografische Erfahrung halten kann. Wenn man die Hürde für welthaltiges Schreiben so hoch ansetzt, wird sie kaum jemand überwinden, namentlich z.B. nicht Goethe, Droste-Hülshoff, Mann, Brecht oder Hofmannsthal, die alle eigene Erfahrungen verarbeiteten, teilweise sogar sich und ihre Generationsgenossen thematisierten. Genaugenommen fordert Krafft ja eine Literatur, die sich wie die gute alte Lehnstuhlphilosophie hochtrabend über Gegenstände verbreitet, die sie nicht aus eigener Anschauung kennt.
  • 17. Ich finde es anrüchig gerade von einer Autorin, die an anderer Stelle öffentlich darüber klagt, dass keine Revolution mehr für sie übrig bleibt, auf eine Randgruppe einzudreschen, indem sie verbreitete Vorurteile instrumentalisiert. Feister und affirmativer geht es kaum. Wie hieß es in einer Karikatur von Pericoli/Pirella schon im vorigen Jahrhundert: Debüts „zu verreißen ist ein wahres Vergnügen, es macht den andern Spaß, es macht einem selber Spaß – und es kostet nichts.“ Man kennt das Spiel: Von Fall zu Fall werden auf diese Weise auch andere Gruppen angegriffen: Gegenwartslyriker, Absolventen von Schreibschulen, experimentelle Schriftsteller. Immer eine Gruppe, die nicht zu mächtig und klein genug ist, aus dem Rest des Betriebs ausgeschieden und mit Vorurteilen behängt zu werden. Deswegen ist mein Ton hier vielleicht schärfer, als der Gegner zunächst vermuten lässt. Zum Troste mag Charlotte Krafft sich schmeicheln, dass ich sie und ihre Texte in kritischer Absicht so ernst nahm, wie offenbar kaum jemand öffentlich zuvor. Diesen Vorteil hat sie gegenüber den von ihr Angegriffenen.

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