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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Traum-Nummer

Am Erker 71
Hamburg

I – Besetzt mit Traum oder darin gefangen

E. war, wie jeder Mensch, am Anfang leer. Ein Blatt Papier, das sich unaufhaltsam füllt.

Die Idee: ganz gut, bis sie vom Text zerfasert und nicht präzisiert wird. Manchmal geht durch die Sprache ein schöner Schwung, der auch die Narration packt; dann macht eine Häufung sie wieder pittoresk, als Stilelement erkennbar. „Der Verwalter“ ist kein schlechter Text, bleibt aber hinter seinem Omen zurück. Was immer auch unbewusst in unserem Kopf mitmischt, unsere Erinnerungen aufsticht und sammelt und in unsere Träume bläst wie Herbstlaub – der Text schafft es nicht, mir seine Version dieses Vorgangs zu verkaufen.

wecken mich die Schneckenfinger deiner Hand

Die beiden Gedichte „Amourellen“ von Silke Andrea Schuemmer sind eher Stromschnellen über einige gelungene und einige plakative Schwenke von Traum- und Du-und-Ich-Variationen. Eine Grundnaivität bewahrt die Bilder vorm Entgleisen, aber die immer wieder verrückten Perspektiven wirken schnell nicht mehr sinnlich, sondern fragwürdig. Die Mischung wirkt zu seicht.

Ich mag Texte, die in ihrem Grundton etwas Unterschwelliges haben. Beim ersten Lesen geht man hindurch und findet sich nie ganz zurecht, obwohl einem die Erzählung alles an die Hand gibt. Und wenn am Ende der Bogen sich schließt, wiegt man ihn in der Hand, spannt ihn und versucht herauszufinden, worauf er abzielt. „Für seine Träume kann man nichts“ von Angelica Seithe ist so ein Text. Seinen Motiven – Kindheit, Unschuld, Beichte und eine Zwielichtigkeit um all dies – gelingt eine gute Balance.

Das Diffuse und zugleich Nahtfreie eines Schlaftraums in Textform wiederzugeben, ist eine naheliegende, aber dennoch heikle Angelegenheit, und sie gelingt selten – weshalb man dem Text „Sochlers Hochzeit“ ein Kompliment machen muss. Denn obwohl darin die Latte nicht besonders hochgelegt wird und viele Vorkommnisse allzu metaphysisch geprägt sind, stellt sich über weite Strecken eben jenes Gefühl ein, das einen an Traumgeschehnisse erinnert.

 

II – Zettel‘s Traum

In einer anfangs mühsamen Geschichte über Ausgrabungen im Wald, an der das Beste zunächst der geheimnisvolle Prolog zu sein scheint, umspielt Ines Birkhan die Phantasie von Antike, mythologisch-körperlicher Lustbarkeit und der Erotik von glatten Oberflächen. Die Erzählung hat einen schönen Bogen, und die Perspektive des Protagonisten bringt eine zusätzliche Brechung hinein. Größter Makel ist, dass ein bisschen zu sehr auf die Phantastik gepocht wird, die sich auf dieses Weise nicht von selbst entwickeln kann.

Katharina Donns kurze Wanderung durch Werke über die Kunst des Tagträumens ist ein Glücksfall. Eine solche Art von Text, halb Essay, halb lebendiges Narrativ, über einen Aspekt des Gewahr-Werdens, streifend und markierend, ziehe ich jederzeit einer breiten und minuziösen Literaturanalyse vor.

Wenn es um so große Themen wie „Träume“ geht, wird es auch immer wieder schöne Ideen geben, deren Ausführungen sich aber heillos verzetteln. Denn so sympathisch und aufwendig die Idee von den „zu erhörenden Träumen“ auch umgesetzt ist – dass die literarische Ausformung eher aufs Sentimentale setzt, bricht ihr dann, bei aller Liebe, doch irgendwie das Genick.

Ein bisschen zu weitläufig, ein bisschen zu geschwätzig – „Uns bleibt immer noch Budapest“, eine Ost-West- und Dissidentengeschichte, baut zwar eine Fallhöhe auf, aber so richtig fallen tut man nicht. Gaststar: Arno Schmidt

 

III – Versichere dich der Tatsache, dass du nicht auch noch träumst

Texte, in denen Leute von ihren Leseerlebnissen berichten, Eskapismus bekennen und Bücher so loben, so beschreiben, dass sie zu anziehenden Objekten werden, haben Teil an einem der größten Träume der Menschheit, den diese seit vielen Generationen kollektiv träumt: dem Traum von der gemeinsamen Erfahrung, der gemeinsamen Welt, der gemeinsamen Suche nach einem Ausdruck für die Existenz und die Vorstellung. Gerald Funk schreibt nur über sich und seine Lesegeschichte. Doch das reicht schon, ist lesenswert, ist rundum anregend.

Wie eine endlose Fahrstuhlmusik weht einen Frank Jakubziks Erzählung von Büro und Traum und Dritte-Welt-Tropik an, darin schön portioniert: Menschen und Details, jeder Satz dudelt, die Bagatelle immer oben auf.

Auf N24 sieht man Hitler verlieren. Immer wieder.

Mein unvernünftigstes Kompliment für Autorin Manuela Bibrach und den weichen statt kernigen Heinz, der sich durchs Fernsehen zappt und in einem allzu klaren, aber herrlich abrupten Text festsitzt. Es lebe die Miniatur!

Der Unholdsbrief von Alban Nikolai Herbst: ein beflissen-phantasiertes Vorstellungsmahl, ebenso wenig irritierend wie irrelevant, aber verwandt mit diesen Bezeichnungen. Piraten, Vagina, Eindrücklichkeit und Serienfraß – what else?, fragt dich der Text.

 

IV – Aus der Hand

Landschaftsbeschreibungen … und wenn die dann auch noch phantastisch, fremdartig, innovativ sein wollen … zum aus der Hand legen. Hier eine Liste von Autoren, bei denen das noch lesbar ist: Michael Ende, H. P. Lovecraft, Alfred Kubin, Samuel Butler, Edgar Allen Poe und Raphaela Edelbauer. Beim Text „Erkundung“, tut mir Leid, ist man es schnell leid.

Kenntnisgebend und gelungen: der Text über den Traumadvokat Hofmannsthal und den Traum als Symbol des über die Wirklichkeit hinausgehenden Wesens des Menschen.

In einer Welt, in der nichts für mich spricht,
lag ich hier wach, ich lag nah neben dir

„Im wachen Traum“ – es könnte ein so gelungenes Gedicht sein (und das ist es, in vielerlei Wendungen), wenn da nicht die Umarmung wäre, vom kleinen Aspekt zu Mittelpunkt verklärt. Diesen schmalen Schwulst, den braucht es nicht.

Verblüffend, eine Mischung aus Sciene-Fiction und stilsicheren Traumlogik-Exzessen: „Maschinentraum“ von Kai Köhler ist die vielleicht beste Erzählung des Hefts. Hätte aber gern noch etwas länger sein können.

Nun folgt die Bücherschau, fast 30 Seiten Besprechung von Neuerscheinungen und Leseerfahrungen, außerdem drei Kolumnen (eine davon auch über andere Literaturzeitschriften). Das macht ziemlich viel Spaß, wenn man eine Leseratte ist wie ich.

Dieser Ausklang rundet dann auch den Eindruck, den ich von der Zeitschrift „Am Erker“ gewinnen konnte, sehr gut ab. Mal abgesehen davon, dass Lyrik und Formexperimente anscheinend jenseits des Fokus liegen, hat diese Zeitschrift einiges zu bieten und versammelt – angefangen beim analytischen Essay, über viele Spielarten von Erzählung und Kurzprosa hinweg, bis zur Kolumne und Rezension – alles, was sich an Literatur gut und einfach konsumieren lässt. Das Neue und Innovative fehlt ein wenig, und einen Sticker mit „junge Literatur“ dürfte sich die Zeitschrift auch nicht aufs Titelblatt heften – nur wenige Autoren sind nach 1980 geboren, viele vor 1970. Ich persönliche habe vor allem die Fülle an Essay- und Kritikbeiträgen sehr genossen.

 

Beteiligte Autoren der Ausgabe:

Dirk Alt, Claudia Bamberg, Aloysius Bertrand, Manuela Bibrach, Ines Birkhan, Katharina Donn, Klaus Esterluß,  Jürgen Flenker, Christophe Fricker, Gerald Funk, Rudolf Gier, Andreas Heckmann, Alban Nikolai Herbst, Frank Jakubzik, Marcus Jensen, Kai Köhler, Frank Lingnau, Thomas Losch, Patricia Malcher, Fritz Müller-Zech, Karla Schneider, Rolf Schönlau, Silke Andrea Schuemmer, Angelica Seithe, Johannes Tosin

Gerald Funk (Hg.) · Georg Deggerich (Hg.) · Joachim Feldmann (Hg.) · Andreas Heckmann (Hg.) · Marcus Jensen (Hg.) · Frank Lingnau (Hg.)
Am Erker Zeitschrift für Literatur Nr. 71
Träume
Coverfoto: Laura Rehme, Cartoons: VerstAnd
Daedalus Verlag
2016 · 133 Seiten · 9,00 Euro
ISBN:
ISSN 978-3-89126-309-9

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