Yisang, koreanischer Avantgardist
Als ich unlängst durch den zarten Garten der Literatur ging, um links und rechts Unkraut zu jäten, stieß mein Blick auf ein ganz wundersames Gewächs, eine Lotusblume, die einsam auf einem Teich trieb und ihre Wurzeln ins dunkle Wasser sandte. Ich aß vom Lotus ... Wie ich aufwachte, ergriff mich das Verlangen, meine Träume zu beichten.
Der koreanische Erzähler und Lyriker Yisang (1910-37) ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt, hat in Südkorea hingegen beinahe unumstritten den Rang als bedeutendster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts inne. Dabei ist er kein Vertreter einer verwässerten Moderne, die sich zuletzt doch am diffusen Kriterium der Lesbarkeit misst, sondern ein echter Avantgardist. Als Erzähler schreibt er in einer federnden, herrlich nonchalanten Prosa, um den Gemütszustand des zögernden, vom Witz gebrochenen Zweifelns an der eigenen Haltung zur Welt einzufangen, durchaus vergleichbar mit Robert Walser usw., wenn auch bedeutend!cooler. Als Lyriker weist er mit seiner unnachgiebigen Experimentierkunst in Richtung der konkreten Poesie, teilt in seiner assoziativen Traumästhetik auch einiges mit den Surrealisten, bleibt aber in der Wahl und Entwicklung der Motive unverwechselbar. Insgesamt ist Yisang ein erstrangiger Autor, der in den Kanon der klassischen Moderne gehört. Dank zwei hervorragend übersetzten und edierten Bänden, die, im Droschl-Verlag erschienen, jeweils das lyrische und das erzählerische Werk vorstellen, ist er deutschsprachigen Lesern leicht zugänglich geworden. Es stimmt mich deshalb traurig, dass wir nicht alle Yisang gelesen haben.
Yisang lebte zur Zeit der japanischen Besetzung Koreas in Seoul. Entsprechend kann er durchaus im Kontext der modernen japanischen Literatur gelesen werden. Wie die japanischen Schriftsteller derselben Epoche war er sowohl in der europäischen als auch in der chinesischen Literatur orientiert, so dass er beide Traditionen in seinen Stil einfließen lassen konnte. Auch schrieb er viele Gedichte zunächst auf Japanisch und erst danach auf Koreanisch. Viel auffälliger als diese Gemeinsamkeiten sind allerdings die Unterschiede, die sich zwischen Yisang und den bedeutenden japanischen Autoren der Moderne auftun. Akutagawa zum Beispiel, den Yisang sehr schätzte, wirkt zumindest formal beinahe harmlos, wenn man ihn gegen Yisang hält. Denn obwohl Akutagawa virtuos mit dubiosen Erzählern à la Poe der Darstellung bitterer Unsicherheit entgegenarbeitet, vermag der Leser jeweils recht einfach einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus seine Prosa überblickt werden kann. Im Gegensatz dazu sträuben sich Yisangs verschlossene Erzählungen und Prosagedichte mit jeder Wendung gegen den unmittelbaren Zugriff. Wiederum scheint jemand wie Akutagawa oder auch sein Lehrmeister Soseki eher der Weiterentwicklung des gepflegten modernen Stils mit japanischen Mitteln verpflichtet zu sein. Ganz anders Yisang, der Brüche mit dem gepflegten Stil nicht nur nicht meidet, sondern anstrebt.
Droschl Verlag 2005 Yisangs bekanntester Gedichtzyklus, „Mogelperspektive“, fächert die poetischen Möglichkeiten des Autors gut überblickbar auf. Der Zyklus besteht aus fünfzehn durchnummerierten Gedichten, in denen sich das lyrische Ich einer zunehmend intensiven Vivisektion unterzieht. Erwähnenswert ist zum Beispiel das „gedicht nr. 4“, in dem im Rahmen einer medizinischen Diagnose spiegelverkehrte Ziffernreihen mit progressiv verschobener Kommastelle die Stelle von Versen einnehmen. Wiederum besteht „gedicht nr. 2“ aus einem einzigen leerstellenlosen Wortwurm, welcher der Reihe der väterlichen Ahnen folgt, über die sich das Ich gezwungenermaßen zu definieren scheint. In „gedicht nr. 5“ folgt auf ein in chinesischen Zeichen gehaltenes Zitat aus dem Zhuangzi ein Piktogramm, dessen zwei verbundene Pfeile in entgegengesetzte Richtungen und in einen von ihnen selbst begrenzten Raum zeigen. Hingegen ergeben sich einige der darauffolgenden Gedichte aus einem träumerisch assoziativen Verfahren, welches die Introspektion auf weniger analytische Weise fortsetzt. Allerdings ist „Mogelperspektive“ natürlich kein reines Etüdenheft. Yisang setzt die diversen experimentellen Werkzeuge allesamt dazu ein, um ein von der Welt abgekapseltes Ich sich selbst und seinen Gedanken über sich selbst und seinen Gedanken über seine Gedanken über sich selbst usw. gegenüberzustellen und so zu ergründen.
Wie leuchtende Zierkarpfen in einem dunklen, doch! klaren Teich ziehen drei Motive ihre Ellipsen durch die Texte Yisangs. Der erste Karpfen aber heißt „Schlaf“, der zweite „Spiegel“ und der dritte „Husten.“ Das typische poetische Ich Yisangs lässt sich anhand dieser Motive verstehen, scheint sich sogar im Einklang mit ihnen zu entwickeln. Im Schlaf zieht sich das poetische Ich aus der Außenwelt zurück. Im Spiegel betrachtet es sich in seinem eingekapselten Zustand. Am Husten fühlt es, wie es von innen heraus zerstört wird.
Droschl Verlag 2014 Schlaf. Eine autobiographisch gefärbte Eigenschaft vieler Erzähler Yisangs ist ihre Bettlägerigkeit. Sie mögen nicht im herkömmlichen Sinn krank sein, aber doch halten sie die Außenwelt nur aus, wenn sie in Dunkelheit die Bettdecke um sich wickeln können, in beinahe vollkommener Ignoranz äußerer Ereignisse. In Yisangs bekanntester Erzählung, „Flügel“, wiegt sich der Erzähler fast durchwegs in der Nestwärme, dem Fenster und Sonnenlicht weit entrückt, während seine Frau in der Sonnenstube Freier empfängt, um so den wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Dabei hat sich der Erzähler so sehr abgeschottet, dass er den Grund für die Besuche der fremden Männer bestenfalls zu erahnen beginnt, sie aber größtenteils als wundersam ohne Erklärung hinnimmt. Er ist so ganz auf seine Gedanken geworfen, keine komplexen, eher auf kindliche, wie es zu seiner regredierten Existenz passt.
In anderen Texten wirkt der Erzähler intellektueller, bleibt aber ein Kletterer an den Kaskaden seiner Reflexionen. Es gilt scheinbar, alles außer den eigenen gedanklichen Erlebnissen auszublenden:
Jede Nacht ein weites, lichtes Feld, sodass er das Enge, das Dunkle um sich herum vergisst, vollkommen vergisst. Tag für Tag dringt er tief hinein in diese Welt, tiefer und tiefer, noch glaubt er, es wäre ihm ohne Umstände möglich, aus der sich immer mehr vertiefenden Tiefe zum Ausgang zurückzufinden, wiewohl er weiß, dass die Wahrscheinlichkeit dagegen spricht. (39-40)
Der Erzähler verbohrt sich vollständig in sich selbst, in der Hoffnung, dass er im Bohrloch dann doch wenigstens sich selber in klarerem Licht begutachten könne. Somit führt das Schlaf- zum Spiegelmotiv.
Spiegel. Im „gedicht nr. 15“ der „Mogelperspektive“ wird das Spiegelmotiv prominent eingeführt. Das lyrische Ich sieht sich seinem Spiegel-Ich gegenüber, fürchtet sich gleichermaßen vor seiner An- wie seiner Abwesenheit und versucht zuletzt, sich brachial von ihm zu befreien. Die Gedichtsammlung „Spiegel“ führt solche Überlegungen weiter. Allgemeiner finden sich in vielen von Yisangs Gedichten und Erzählungen Projektionsfiguren der Erzähler, in denen sich alle ihre Ängste sammeln und mit denen sie so ein aus ihrer Sicht unzertrennliches Doppelleben zu führen beginnen. Besonders eindeutig zeigt sich diese Neigung des Autors in der Erzählung „Betriebsferien und andere Umstände“, in welcher der Erzähler Bosan sich mit seinem Nachbarn SS verquickt, der ihm regelmäßig elegant in den Hof spuckt. Einerseits wird klar, dass die Wahrnehmung dieser Gegenfiguren verzerrt ist, weil sich die Erzähler eben vollkommen in ihre eigene Welt verbohrt haben. Andererseits entpuppt sich die Betrachtung der Gegenfigur als Selbstbetrachtung: Da die gesamte Wahrnehmung der Welt von der erwähnten Verbohrtheit geprägt ist, kann auch die Wahrnehmung einer eigentlich fremden Person zur Selbstwahrnehmung werden. Der letzte Schritt führt schließlich über diese Selbstwahrnehmung zur Selbstzerstörung.
Husten. Yisangs Tuberkulose schlug sich in seinen späten Texten eindrücklich nieder. In der Erzählung „Letzte Aufzeichnungen“ hütet sich der Erzähler mit letzter Kraft davor, im Gespräch mit einer Freundin ins Gehuste zu geraten und so seine Schwäche bloßzustellen. Im Gedicht „Am Morgen des Blutsturzes“ beginnt die ganze Welt Sputum abzusondern: obwohl auch die Bäume kochen und ständig grünen Schlamm ausspucken. Der Husten wird zum somatisierten Inbegriff dessen, was für viele von Yisangs Erzähler von Anfang an präsent war: die Selbstzerstörung. Wie der Husten den Kranken von innen heraus zu zerstören scheint, stehen die Yisangschen Erzähler am Ende der Übung, wenn sie sich eingekapselt und in der Einkapselung ad nauseam reflektiert haben, zerstört da. In „gedicht nr. 15“ schießt das lyrische Ich auf sein Spiegel-Ich, trifft aber die falsche, eben die spiegelverkehrte Seite: in meinem traum kam ich zu spät und wurde mit dem tod bestraft. Bosan sieht seinen Existenzgrund zerbrechen, als er zuletzt begreift, dass sein spuckender Nachbar wider Erwarten ein glücklicher Mensch ist. Der Erzähler in „Flügel“ wünscht sich im finalen Satz die eponymen Flügel, ein trostloser Wunsch, welcher der Einsicht entspringt, dass er in seinem ewigen Schlaf gescheitert ist.
Außerdem wird die literarische Ausdrucksform durch diese dreistufige Entwicklung der Erzähler bestimmt. Der Rückzug auf eine embryonale Stellung zieht eine flirrende, tastende Prosa nach sich. Die obsessive Selbstreflexion kann sich nur in endlosen Spiralen von Denksätzen äußern. Die Selbstzerstörung drückt sich in der Selbstunterlaufung der Texte, ihrer Obskurität und exegetischen Unnahbarkeit aus.
Selbstverständlich erschöpft sich Yisangs Literatur nicht in diesen drei Motiven. Mindestens so wichtig ist beispielsweise das Thema der sexuellen Frustration, das sich im Gedicht über den „Herrn 6 Kolben“ ebenso eröffnet wie in der Erzählung vom „Wanderstab.“ Zahllose weitere Motive können aufgespürt werden. Bei vielen handelt es sich eben um klassische Motive der Moderne. Aber die gegenwärtige Besprechung sollte Yisangs literarische Eigenständigkeit wenigstens angedeutet haben. Wichtig ist in dieser Hinsicht auch, wie angetönt, sein Tonfall. Yisang ist immer ernsthaft, aber im gleichen Atemzug auch immer flapsig. Am besten stellt man sich den Autor als den Dandy vor, der er nebenbei auch noch war: betont lässig in Lackschuhen und weißem Anzug unterwegs in den Minenfeldern der modernen Literatur.
Bücherliste:
Yisang, Mogelperspektive: Das poetische Werk, übersetzt von Hanju Yang, Marion Eggert und Matthias Göritz, Verlag Droschl 2005.
Yisang, Betriebsferien und andere Umstände: Erzählungen, übersetzt von Hanju Yang, Heiner Feldhoff und Gerda Kneifel, Verlag Droschl 2014.
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