Langweilige Spracharbeit
... Flüge vollkommener Vögel die ohne Luft
Zuinnerst nackt sind(Pierre Jean Jouve in seinem Gedicht „Gregorianisch“)
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Es gibt mittlerweile viele Philosophen, die sich von der Sprache beschenken lassen und ihrer Philosophie poetische Dimensionen beimengen. Vor allem die sich frei-denkende französische Nachkriegsliga entdeckt über einen mutmaßlich querköpfigen Deutschen, wie man Vokabular entwickelt und damit Poesie in die denkerische Arbeit integriert. Poesie, die dasselbe will wie der Denker: Sprache neu fassen, neue Blickachsen probieren. Die britischen Logiker und die wittgensteinischen Spartaner haben in Frankreich, dem Lebeland, keine Chance gegen das Sprechen im Blühkreis der Sprache, gegen den homme-des-lettres, der das Dasein entdeckt als ein Hiersein. Heidegger hat in Frankreich eine Chance, weil er vormacht, wie man mit eigener Sprache die Welt nachbildet.
Also begegnet einem Heidegger bei Derrida, Deleuze und anderen Dekonstrukteuren. Und damit begegnet einem seine „französische Seite“, das, was die Franzosen als fahrtüchtig erkannt und weiterbetrieben haben. Nicht die „großdeutsche Seite“, die seit den Schwarzen Heften unleugbarer durchschlägt und den Meisterdenker der Deutschtümelei und einer rassistischen Grundeinstellung überführt, sodass man zu fragen beginnt, ob es eine basale Rechtslastigkeit gibt, aus der heraus Heidegger das Weltwesen verrät an eine hintergründig braune Ideologie.
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Ist es am Ende so mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und her zieht?
fragt Martin Heidegger in seinen Grundbegriffen der Philosophie. Mit der diagnostizierten Langeweile entblättert Heidegger das tägliche Leben und seine Verrichtungen bis hin zu einem Moment, der am Ende dieser Wegstrecke liegt und der nichts anderes mehr beinhaltet als die pure Existenz. Wenn alle Anstrengungen und Impulse still sind und alle Bestrebungen zurückgenommen, wenn alle Aktivität schweigt, dann bleibt die Nulllinie, dann ist man mit einer völlig leeren Wesenheit konfrontiert.
Heidegger stoppt an diesem Punkt seine Überlegungen und benutzt die große Leere als Leinwand – alles, was es also neben der großen Leere und über sie hinaus gibt, ist mehr oder weniger beliebig. Die Langeweile, das Nichtgreifen der Zeit, die prinzipielle Leerheit des Daseins ist das Grundelement, das späterhin auch die französischen Denker der Postmoderne übernehmen, indem sie allem und jedem (und sehr zu Recht!) seine Gültigkeit absprechen. „Heideggern“ heißt zunächst, vom einzig unbezweifelbaren Fakt des Existierens aus alles andere in Zweifel zu ziehen, alles andere zu dekonstruieren (Heidegger sagt: „destruieren“).
Heidegger in den Holzwegen:
Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht.
Von der Gewinnung des Bildes bis zur Anschauung ist es nicht weit. Der Bildgewinner kann sein Anschauen verteidigen. Das wird dann zur Katastrophe, wenn er dafür Kriege vom Zaun bricht. Die Anschauung der Welt regelt die vermeintliche Lebensstimmigkeit, und die stimmige, menschengerechte Anschauung der Welt kann nur in der langen Weile geschehen. Die in schnellem Tempo angeschaute Welt verbraucht den ikonografischen Vorrat in flach erzeugten Oberflächen und führt fort aus der Dauer.
Lange Weile bedeutet zunächst nichts anderes als Dauer. Und ja: Leben braucht zuallererst Dauer. Wenn ich auf Fragen antworte, einen Dialog entspinne, so muss Zeit sein für Fragen und Zeit sein für Antworten. Ich brauche für alles, was mehr ist als der Lichtblitz der Existenz, eine Weile. Je basaler also die Fragen gesetzt sind, um so „langweiliger“ fällt die Antwort aus. Die Frage der Gegenwart verdauert uns und macht uns schwer, die Frage der Aktion oder Reaktion beschleunigt und verdünnt das breite Spektrum aufs Spezielle. Der wohltuende Schatten eines großen Baumes entspinnt einen wesentlich anderen Dialog als der Moskito, der uns sticht und den wir zerklatschen. Leben pendelt, solange es unser Umkreis ist, zwischen leicht und schwer, bewegt und anwesend.
„Hwile“ – „Weile“ – „while“, vom Altfränkischen zum Englischen hin ist die Weile das Wort, das zeitliche Erstreckung konsolidiert. Es entwickelt sich bis zum „Verweilen“, wenn man anwesend bleibt, und wird im Wort „weil“ zum Begründungsfaktor des Moments, wenn man diesen auseinanderklappt und untersucht. Die ursächliche Folge der Dinge erkennen wir immer aus der zeitlichen Folge der Dinge, wenn wir zum Zeitpunkt zurückkehren und uns die verstreichende „Weile“ anschauen. Je schneller die Folge getaktet ist, desto kurzweiliger zeigt sich die Gegenwart, je ruhiger und reduzierter das Folgen ausfällt, desto langweiliger.
Wenn alle „Weils“ so weit hinterfragt und ausgebreitet sind, dass man die entstandenen Antworten eine nach der anderen bewerten und als beliebig streichen kann, bleibt nur noch das banale Sein, das sich der Gegenwart mit nichts anderem mitteilt als mit seiner bloßen Existenz. Heideggers Sein ist ein Sein ohne Dialog, ein vereinsamtes, auf sich zurückgeworfenes. Heidegger ist nicht in der Lage, lebendiges Geschehen in sein Denken zu integrieren. Geschehen ist das, was Zeit macht, weil in ihm Bewegungen zu Resultaten führen. Die lange Weile wird kürzer, sobald ich mich bewege: Wie generiere ich aus dem Fakt, ein Wesen zu sein, eine passende Anwesenheit?
Das Zusammen der Körper ist offener Text
als Pluralität unendlich vieler Kontexte,
der Körper selbst Schriftzug ..(Ferdinand Auhser in: Die Macht der Form)
Lange Weile schweigt nicht, und zieht auch nicht wie ein Nebel durch Abgründe. Dort wo lange Weile herrscht, ist ihr Sagen in einem einzigen Weil erschöpft, aber nicht stumm. Und dieses Weil kann sehr umfassend sein, fast schon bewegungslos und als Starre empfunden. Wenn wir uns aber Licht als bewegungslos und starr vorstellen, weil es tatsächlich in der letztmöglichen Bewegung verharrt, so muss ein Weil nicht dem toten Dunkel, dem Abgrund des Daseins entsprechen, wie Heidegger das imaginiert, sondern das wirklich lange Weil, das nicht zu toppende, ist endbewegt, ist schneller und gleichzeitiger als alles andere. Nur aus diesem Weil, aus dem Licht, lässt sich Dasein erfragen und quasi Kraft der Begegnung Bewegung zu einem Maß herunterfrieren, das Reaktivität ermöglicht. Das Dunkel des Abgrunds ist nicht der Urgrund, sondern das Ende des Seins, das entsteht, wenn man es durch reduktive Methoden ans Ende denkt, alles Bewegte eliminiert und an Stellen heftet (wie Heidegger, für den die Stelle die existenzielle Situation darstellt). Der Urgrund, wenn man das so bezeichnen will, ist alles andere als ein Weil der Stelle, sondern das Weil des Lichts, das als Weltzunder sozusagen v o r aller Differenz in der Bewegtheit die mögliche Welt aufhebt. Der Urgrund ist also nicht die Grabesstelle, sondern die Weltbewegung, das Verstrecktsein in ein Hier, das lebendiger wird, je mehr Hier sich sein Dasein aus der Bewegung abzapft. Seine Masse bekommt das Dasein aus dem Hier der Bewegung, je mehr Bewegung ich im Hier konzentriere, sozusagen umlenke in ein möglich werdendes Jetzt, umso mehr Dasein passiert auch – das klingt platt, aber so einfach ist es auch.
Hier zeigt sich ein gewichtiger Unterschied: Heidegger ist der Statiker, der Steller, der Ortewisser, der sich was hinstellt und was weiß, ein Mann für die Kanzel, der vom Existentiellen redet und den Pfad weiß zum Ewigen. Heidegger will zeigen, dass er mehr zu sagen hat als Platon, mehr als Aristoteles, Hegel und Husserl, dass er sich verortet, wo keiner bisher war. Er buhlt um einen Platz, um eine teuer erdachte Statue.
Collage: Frank Milautzcki
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Fragt man mich, würde ich sagen, es geht nicht um meinen Platz, sondern um meine Bewegung. Wie und wohin bewege ich mich richtig? Es geht ums Werden. Es geht darum, wie Gewordenes weiter werden kann. Welche Geschichte in welchem Hier möchte ich erzählen? Ich kann im Bett liegenbleiben und per Smartphone virtuell „die Welt“ verändern, sobald ich aber aufstehe und mich wirklich bewege, verändere ich nicht nur mich, sondern ganz automatisch die Welt. Das Beispiel hinkt: Auch Nichtstun mischt sich ein, aber prinzipiell geht es darum, gegen die Grabesstelle mit Heideggers existentieller Langeweile ein eigenes Sein zu setzen. Hier treten die Schwierigkeiten auf, es verträglich mit der Welt zu gestalten. Heidegger hat das 1943 in seiner Heraklit-Vorlesung für die gesamte Menschheit richtig fett nationalistisch beantwortet:
Der Planet steht in Flammen. Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt, dass sie 'das Deutsche' finden und wahren, die weltgeschichtliche Besinnung kommen.
Was für eine ungeheuerliche Anmaßung! Das Deutsche, was immer man auch darunter versteht, besinnt die Welt, besonnt sie. Selbst wenn man Goethe meint und Wagner und Beethoven, also nicht Hitler, nicht Goebbels, nicht Himmler, so wird bei Heidegger das Gemeinte, das von Deutschen Gemeinte, zum deutsch Gemeinten.
Viele Zeitgenossen haben sich heute wieder in ähnlichen Vor-Stellungen positioniert, hinter rhetorischen und manchmal auch echten Waffen. Sie nutzen die Vielzahl der Wegkreuzungen, um Ratlose anzurufen und um sich zu scharen: „Was ist denn jetzt richtig?“ „Schade ich der Welt, wenns Geld nur für ein T-Shirt im Discounter reicht?“ „Zwingt mich Hartz 4, indische Kinder für mich arbeiten zu lassen?“ Die Fragen werden immer existentieller, betreffen meine Nahrung und meine Kleidung, meinen Komfort und mein Leben, und ich muss mich orientieren an den nicht sichtbaren und nicht absehbaren Folgen der im Umkreis angebotenen Antworten. Nichts ist wirklich in Gänze errechnet, und das Leben für die „Weile“, das Hindauern in die Zukunft, ist ein guter und frommer Wunsch, der irgendwie immer nur offen bleibt. Vielleicht lieben wir es, den Moment zu leben, weil wir dann nicht mehr verantwortlich sind für die Zukunft. Das Aussehen des Moments wird allerdings von uns gesteuert, und sein raubendes Maul auch.
An diesem Punkt bin ich der Meinung, dass man zwar jedes Recht hat, Leben zu probieren, aber auch jede Verpflichtung, die Folgen abzusehen. Eine Gesellschaft, die ihre Versuchsräume klein hält und übermäßig reglementiert, erstickt früher oder später in ihrem eigenen Korsett. Und dorthin bewegen wir uns, in den Erstickungstod durch globalisierte Verhältnisse (von wegen „weite Welt“), denn die große Öffnung ins Globale ist in Wahrheit ein Schritt ins Imperiale, und das will beregelt sein durch die Gesetze der Ökonomie. Die Sehnsucht anderen, lokalen Regeln unterliegen zu wollen, wächst mit dem globalen Zupack und stellt sich verschiedenenorts mit Bomben und Terror gegen die verordnete Westlichkeit. Im Westen selbst rutscht man nach rechts, nicht aus Not, sondern aus Angst, und so zurren sich allerorten Oppositionen der verschiedensten Ausrichtung in ihren Vor-Stellungen zurecht. Statt aber hinzuhören und den Dialog aufzunehmen, testet man die Härte des Angemischten. Die Folge ist, dass die eigenen Demokratien in Gefahr kommen, weil sie als Preis der Globalisierung ihr demokratisches Wesen nicht mehr in dem Maß leben können, wie das der Bürger eigentlich verlangt und erwartet. Die Globalisierung strukturiert die Welt bis ins Kleinste. Was wie eine Öffnung aussieht, ist eine Vereinnahmung. Standards werden diktiert. Viele wünschen sich in eine Ausgangsleere zurück, aber die gibt es nicht mehr. Es gibt keine Langeweile, es gibt zu jeder Zeit standardisierte Antworten, und sei es die gespielte Fröhlichkeit des Frühstücksradios. Meine Anwesenheit entspricht gar nicht mehr meinem Wesen, sondern einem Standard.
Man kann daraus ableiten, dass die Alternativlosigkeit noch nie so groß war und so stark empfunden wurde wie in der heutigen Gesellschaft. Und also ihr Preis zu zahlen ist. Fast alle Utopien handeln von postapokalyptischen Zuständen, das Überleben des Zusammenbruchs ist möglich, sagt uns Hollywood – wie man ihn vermeiden könnte, das sagt uns Hollywood nicht. Es ist seit Langem bezeichnend, dass es keinerlei positiven Ausblicke in den Filmen der Blockbuster-Industrie gibt. Das fühlt sich an wie ein in der Breite vorgewusstes Ende, dem man nicht ausweichen kann, aber das zulässt, ein heldisches Überleben zu inszenieren. Es wird, wie nach jedem Zusammenbruch, einen Neuanfang geben. Und es wird jemand aus Hollywood sein, der aus dem Schutt aufsteht und die fehlgelaufene Menschheit wiederbelebt. Für Heidegger war es „der Deutsche“, der zum Deutschsein gefunden hat.
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Ist es am Ende so mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und her zieht?
Heidegger versucht poetisch zu sagen, dass der Mensch, der alles Tatsächliche um sich herum destruiert, in einer nicht mehr lesbaren Leere ankommt. Der philosophische Zweifel führt durch das Dasein hinab ins Abgründige und Unergründliche. Heideggers Poesie, die sich sonst im „Potentmachen“ seiner Begriffe zeigt, kommt hier über Schlagerniveau nicht hinaus. Allerdings vereinfacht das die Lektüre.
Und schon lässt sich lesen, dass die Gründe des Daseins Abgründe sind, eingeschnittene Täler mit unwissbaren Tiefen, in denen ein Nebel alles Erkennen verunmöglicht. So wie es den absonnigen Hang gibt, gibt es das Abgrün, in dem das Dasein schweigt. Und hin- und herziehende Nebel lassen immer wieder mal einen Blick auf den Boden der Antwort zu, die es dort gibt, nicht hier.
Die Langeweile überstimmt den Blick mit ihrer Unbestimmtheit, mit d e r Unbestimmtheit des Seins, die dauerhafter ist als alles. Wir können die Wahrheit des Abgrunds sehen, aber nicht die Wahrheit im Abgrund: warum das Dasein da ist und bleibt. Wir verschweben mit unseren Köpfen in bewegtere Gefilde. Wer der Bewegung folgt, ist abgelenkt, wer sie ignoriert, sieht Zeit entstehen aus urfeuchter Luft.
Ist es am Ende so mit uns,
dass unsere Hände nichts
ergreifen außer Nebel, der die Zeit
aushebelt und die Laute und alles,
was ein Mensch sich je
am Abgrund traute.(Frank Milautzcki)
Mit seinem plattitüden Satz platziert Heidegger einen weiteren problematischen Gedanken: Im Dasein positioniert er das Dortsein des Abgrunds. Es gibt also im Dasein eigenschaftliche Orte. Das Dasein kann unterschieden, Stufen können nivelliert werden. Heidegger kommt auf die Idee, das Ende wörtlich zu nehmen und illuminiert eine Treppe: Das Sein zum Tode entsteht.
Kann das sein? Eine Welt, in der das Vorhandene die Wechselwirkung flieht. „Sein zum Tode hin“ wäre kein typisches Sein. Sein will Dauer, Sein will da sein, wo es passiert, und will trotzdem überleben. Da gibt es zwar einen Abgrund, aber der gilt jetzt und immer und ist mittendrin, und man stürzt nicht hinein, sondern ist davon umhüllt. Es ist das Nichts, das wir uns denken können, das aber in letzter Konsequenz nichts ist als unser Gedanke daran. Es gibt nichts außer dem Werden, in dem alles Verweilen transformiert, worauf Licht fällt.
Sein ist spielerisch und lässt uns Zeit finden, Weile, wo es zuvor keine gab. Das augenzwinkernde Gedicht, das ich hier oben montiert habe, ist nichts anderes als ein Kontaktflächenspiel, eine Fortsetzung von Heideggers Denken in meine Dauer, und damit ein Sein zum Weitersein. Das „Enden im Grunde“ kann unzweifelhaft nur der denken, der ein Spielverderber oder Zeitabschneider ist. Das Sein würde heute und akut jetzt enden, wenn es nicht eine völlig andere Grundbewegung in sich hätte als die von Heidegger vermutete – nämlich die hin zur Dauer.
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Im Sein selbst ist Dauer angelegt. Dafür gibt es sehr gute Argumente aus der Physik. Die simple Gleichung E=mc² zeigt eine Welt, die den Verlust von Tempo mit Masse belohnt: Was aus der Bewegung verlorengeht, muss sich in Materie niederschlagen. Ein hoch bedeutsames Prinzip, das sagt: Je mehr wir in die Dauer kommen, umso mehr bildet sich materielle Struktur. Oder andersherum: Je mehr wir etwas beschleunigen, umso stärker wird es sich auflösen, (was selbst für die Teilchen im Cern gilt, wenn nicht sehr starke Magnetfelder genau das gerade verhindern). Wir, die wir fürs Überdauern gebaut sind und unsere Schwere mit Tempo bezahlt haben, träumen uns ins Lichtschnelle, weil es Leichtigkeit verspricht. Dem Aktualen kann blitzartig entkommen werden in neues Sein, neu komponiertes Jetzt. Sobald der PC den neuen Chart aufbaut, gibt es neues Potential, sobald die Nachricht aufs Smartphone kommt, gibt es neue Welt. Ihre Schwere und ihre hinter Nebel verborgene, grundlegende Leere kann jederzeit überwunden werden, weil in unser Sein Glücksangebote takten, die wir uns selber schaffen. Der Durchruf aus fernen Weltbereichen in die Seinsfragen des Moments macht uns zu Beantwortern, die sich ums Jetzt nicht mehr kümmern müssen. Ganz eindeutig: man ist das Jetzt, man ist im Netz. Allein dieses Bewusstsein ist ein großes Geschenk: ich habe keine Zweifel mehr, im Hier und Jetzt angekommen zu sein, ich muss nicht mehr die Treppe hinunter, in irgendeinen dunklen Keller. Das Smartphone als mobiler Lebenszeichner ersetzt die Situation und die befürchtete Ausweglosigkeit. Es mildert die existenzielle Befürchtung, als Person „nicht zu stimmen“, und ist damit ein Glücksbote aus der Luft, aus dem Äther der Weltzusammenhänge. Es entbindet aus dem Drängen nach Sein, das auch ein Ringen um Dauer ist.
Heidegger hat von solchen Dingen natürlich keine Ahnung gehabt, auch wenn er sie teilweise vielleicht hätte haben können, und zog sich ganz auf sich und sein Thema „Sprache“ zurück: Die Sprache macht den Menschen, nicht der Mensch die Sprache. Ein kluger Grundgedanke, dem man zustimmen kann, weil der Dialog der Weltdinge ausnahmslos und überall zu entdecken ist und Leben aus diesem Dialog entsteht (sobald man gedanklich bereit ist, Zwiesprache auch dort auszumachen, wo bspw. außerwörtlich und meinetwegen chemisch signalisiert und reagiert wird) und Leben genauso auch im Dialog verschwindet, wenn die Aufmerksamkeit nicht da war, die „Verlautbarungen“ der Umweltung richtig zu lesen und richtig zu beantworten. Heidegger sieht das genauso und benutzt dafür aber komisches Vokabular: der Stimme des Seins zuzuhören, bedarf es eines „In-Acht-Nehmens“ und „Bewachens in Treue“. Er meint damit Achtsamkeit und aufmerksam dauernde Zuwendung, auf Deutsch: richtig hinhören und dabei bleiben. Nicht drüber weggehen. Wahrnehmen (was bei Heidegger heißt, zum Unverborgenen, dem Nicht-mehr-zu-Verbergenden, vorstoßen) und anerkennen. Insofern braucht es „langweilige“ Spracharbeit, eine andauernde Beschäftigung mit der Welt und dem, was sie uns und wir ihr sagen wollen.
Heidegger dachte sich genau dem verpflichtet, indem er aufzeigte, wie Sprechen neu dargestellt werden kann, wie man Worten mit einer gewissen Akrobatik beikommt und Inhalte aus der Sprache zaubern kann. Und hier sind die konstruktiven Grundelemente, die man aus dem „Heideggern“ gewinnen kann: dass es poetische Sprachnäherungen in der Philosophie gibt, die einem Prinzip gehorchen, das fruchtbar ist – dem poetischen Prinzip (und hier redet man nicht von den Früchten, die Heidegger hinterließ). Das Prinzip der langweiligen Spracharbeit, das Aufrollen des Denkens sehr von der Sprache her, scheint mir das zu sein, was an Heidegger brauchbar bleibt und woraus die „french theory“ ihre Impulse bezog.
Collage: Frank Milautzcki
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Die Frage „Was soll denn Sein sein?“ ist die Urfrage von Martin Heidegger, mit der er sich abzuheben (um nicht zu sagen „zu erhöhen“) versucht gegenüber der abendländischen Philosophie, und die er, wie viele meinen, niemals schlüssig beantwortete. Wenn es denn Seiendes gibt, was zeichnet es aus, was ist seine Differenz zu einem Nicht-Seienden. Die Antwort scheint relativ einfach: sein Sein. Aber er fragt weiter: was ist dieses Sein, wenn es das Seiende in einer Weise auszeichnet, dass es differenzierbar wäre. Ich weiß nicht, ob Heidegger die Antwort schuldig blieb, aber ich wüsste eine Antwort, die in ein stimmiges, physikalisches Konzept passt: die Bewegung. Sie ist das Merkmal, das potent genug ist, um aus ihm heraus alles andere zu erklären, ganz nach Ockhams Prinzip. Es ist ein Merkmal, das differiert, und zum Existierenden in einer Weise gehört, die es erlaubt, sein Seiendes als Korpus und das Sein als dessen Movens abzutrennen.
Heidegger schwebt ein Seinsbegriff vor, mit dem er die Stellung des bloß Seienden erweitern kann. Das Sein kommt bei ihm on top und vermischt sich mit einem anderen Begriff: dem Sinn. Das Seiende plus das Sein ergibt erst die Existenz. Heidegger hat dazu ein einfaches Beispiel: Vor uns liegt ein Hammer und ist zunächst nur ein Stiel aus Holz mit einem Kopf aus Eisen, als Seiendes also materiell vorhanden und greifbar, beschreibbar. In dem Moment wo ich „das Ding zum Hämmern“ benutze, erweitere ich das Seiende um ein spezielles Sein. Ich mute dem Objekt eine ontologische Differenz zu und setze es in einen sinnhaften Unterschied, einen Zweck.
Man kann diesen Zusammenhang, den Heidegger im Hammer entdeckt, und aus dem er einen Begriff des Seins generiert, in zwei andere Situationen hinein transportieren:
Vor uns liegt ein Stein. Er ist als Seiendes materiell vorhanden und greifbar, beschreibbar. In dem Moment, wo ich „das Ding“ zum Werfen nach einem Vogel benutze, erweitere ich das Seiende um ein spezielles Sein – der Stein wird zu einer Waffe, er fliegt durch die Luft und trägt eine Menge Energie mit fort, die am Ziel mitunter Tödliches bewirken kann. Ich instrumentalisiere das Ding an sich und schaffe durch mein Verstehen und meine Absicht einen neuen Aspekt des Seins. Ich kreiere ein Sinnfeld, würde Markus Gabriel sagen. Nach Heidegger zeigt das Sein einen Verständnishorizont – dass etwas ist und was etwas ist, geht stets miteinander einher (weiß Wikipedia).
Was niemand gesehen hat: unter dem Stein verbarg sich ein Skorpion vor der heißen Sonne. Als ich ihm den Schutz nahm, wurde er angriffslustig und stach mir, während ich den Stein in den Himmel pfefferte, dem Steinhuhn hinterher, in den großen Zeh. Dank eines allergischen Schocks sackte ich zusammen und verendete hilflos in einem felsigen Gebiet des Mittelmeerraums. Der Stein verfehlte sein Ziel, fiel aber dennoch zu Boden und löste beim Aufschlagen auf dem Boden ein kurzes Steinesprengen aus, das einem Ameisenlöwen den Krater ruinierte, bei dessen Reparatur er von einer Lerche verspeist wurde.
Da der Stein nicht nur in meinem Sinnfeld existiert, sondern auch verwoben ist in die Sinnfelder alles anderen Seienden, kann ich nie von einem wirklichen Sein sprechen, sondern immer nur vom wirklichen Sein in situativem Bezug auf anderes Seiendes. Von Bedeutungswelten quasi, die vom Seienden aus konstituiert werden. Seiendes macht buchstäblich Sinn. Jedoch nicht einen klar abgrenzbaren, sondern nur einen auf die jeweilige Sinnfrage hin bezogenen. Die Erkenntnis, dass Bedeutungswelten so mannigfaltig existieren, dass es unmöglich ist, von d e m Sinn zu sprechen, sollte nicht zu der Interpretation verleiten, letztlich gäbe es keinen gültigen Sinn. Es gibt nur keinen allein gültigen Sinn. Ansonsten wabern die Sinnfelder als Sein des Seienden durch eine aufgeladene Umwelt wie Elektrizität, oder sagen wir: wie Strom.
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Während wir im Netz Identitäten sammeln
Und in unsre Smartphones glotzen,
Bist du strahlend hell und furchteinflößend,
Atem, Fleisch und Knochen.(Kate Tempest, aus: Hold Your Own)
Vor uns liegt ein Smartphone. Es ist als Seiendes materiell vorhanden und greifbar, beschreibbar (wenn auch sehr aufwendig). In dem Moment, wo ich „dieses Ding“ zum Nachschlagen einer Information benutze, erweitere ich das Seiende um ein spezielles Sein. Ich erweitere den Verständnishorizont und damit automatisch das Sein, indem ich nach Erhalt der Information den Kaffee bezahle und mir in dem zuvor abgefragten Plattenladen um die Ecke die „Fifth“ von Soft Machine kaufe. Sie war eine der Lieblingsplatten meiner Jugend, hat schöne freie Strukturen und klingt nach Wasser. Ich hörte sie oft an Samstagmorgenden im Bett nach dem Aufwachen, wenn man ausschlafen konnte und sich mit genau diesem zeitlosen Liegenbleiben belohnte. Dazu passten die Rhodes und das Saxophon, die einen wie luftige Klamotten umwehten.
Das Nutzen des Smartphones, das ich hier erfinde, bringt s t r e a m in das Seiende. Das Sein des Smartphones ermöglicht neues anderes, s t r e a m e n d e s Sein. Während das Seiende sich nicht verändert, ändert sich das Sein unentwegt, weil es vom Verständnishorizont, vom Bedeuten her Gestalt bekommt. Man kann sogar sagen, dass die Horizonte des Weltverstehens sich anhand des Nutzens von Weltsachen in den Dimensionen des Weltgeschehens spiegeln. Dass das Lesen und Nutzen des Seienden die Sprache des Seins erzeugt. Das Seiende als Material beinhaltet ein mögliches Sprechen. Auf diese Weise gelangt Heidegger zu weiteren Gedanken über Sagen, Sprache und Sprechen, auf die ich nicht eingehen möchte (und auch nicht kann), weil unser Smartphone-Beispiel noch längst nicht ans Ende gedacht ist. Zum Seienden des Smartphones gehört nämlich sehr viel mehr an Bedeutung und Sinnfeld, das mit seinem rein funktionalen Sein absolut nichts zu tun hat. Und doch sind das Seinsstufen, die man berücksichtigen muss, wenn man die Denklinien korrekt verfolgen will – diese Verwebung aufzuzeigen, wäre eine Annäherung an die Komplexität des „Seins“, die sich letztendlich in Seinskultur und Daseinsweisen ausdrückt und dafür Preise bezahlt.
Laut Heidegger erscheint das Seiende uns als „vor-gestellt“ und m.M.n. gehört das „Vor-Stellen“ bereits in den Bereich des Seins. Das Sein des Seienden ist eine direkte Folge des Kontexts, in den ich das Seiende stelle und wo es nicht nur steht, sondern in dem das Seiende gewollt oder ungewollt zum Teil eines Agens wird. Heidegger hat die Ordnungsstrenge der Wissenschaft als Fixateur des Seienden beschrieben und redet auch so ständig von „Gestellen“, „Herstellen“, „Vorstellen“ etc., so als könnte Seiendes nur das prinzipiell Fixierbare sein, dem man eine Stelle zuweist. Er ist hier ganz Materialist, der lokale Körper abgrenzt und differenzierbar zur Umweltung „herstellt“. Die einfache Formel für das Seiende ist demnach: Da ist etwas. Nicht „Es gibt etwas“, sondern an einer Stelle, an einem Ort existiert eine Differenz. Damit wird Örtlichkeit zu einem wichtigen Fakt, der Unterscheidbarkeit herstellt. Das Herstellen von Unterscheidbarkeit ist allerdings nach meiner Lesart selbst ein Agens des Seienden, eine Differenzierung. Die Sortierung der Wirklichkeit ist ein Tun, das jedem Seienden speziell zukommt, bzw. aus ihm heraus sehr speziell erfolgt und damit ein Unterscheidungsaspekt, den Heidegger hinüberschneidet in den Bereich des Seins. Ich wills verständlicher sagen: das Verdinglichen eines Seienden ist ein Akt des Seins. Indem ich etwas ausdifferenziere, definiere ich dessen Seinsangebote.
Das ist der Klick in Heideggers Unterscheidungsmodell: das Seiende ist gestellt, das Sein stellt. Es ist neben einer zeitlichen Unterscheidung (sobald Existenz da und örtlich fixierbar ist, sieht Heidegger sie als Seiendes, sobald sie murmelt, „ins Laufen kommt“, gehört sie zum Sein) auch eine grundliegende tatsächliche Differenz: ich nenne sie die Schwierigkeit des bewegten Dings.
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Bewegung wird von Heidegger dem Sein zugeordnet, obwohl oder gerade weil das Sichbewegende abgesehen davon, dass es sich bewegt, auch ein materiell Seiendes ist. „Sein“ ist das Verb des Seienden, mit dem man sein Wirkliches wiedergibt. Erst durch die Zusammenschau des Seiendem mit seinem Sein wird man der weltlichen Existenz gerecht. Heidegger war der Meinung, dass diese differenzierte Sicht vor ihm noch keiner ausprobiert hatte – man könnte auch sagen, dass vor ihm noch keiner auf die Idee gekommen war, zwischen Dasein (also Seiend sein) und nicht Da- und nicht Dortsein (also Sein seiend) zu unterscheiden.
„Dasein“ hieß vor Heidegger eben immer auch, Teil eines größeren Möglichseins zu sein – und zwar weit bis ins Magische, aber in der Regel finderisch, erfinderisch bis pragmatisch. Der herausgepflügte Stein war nicht nur ein Störenfried, sondern auch ein willkommener Teil der Einfriedung. Was was ist, war in sagen wir voraufklärerischer Zeit nicht so entschieden definiert wie zu Heideggers Zeiten. So konnte eine Haselrute nicht nur Gänse führen, sondern auch nach Fischen angeln. Ich behaupte: Auf die Heidegger'sche Finesse war vor ihm keiner gekommen, weil sie weder nötig, noch nachweislich vernünftig war. Das Sein eines Dings entschied sich an seinem Gebrauch. So war die bloße Tatsache seiner Existenz, das Seiende des Dings, nur der Stift zum Zeichnen eines voraussichtlichen Nutzrahmens. Das Ding an sich war keine Frage, weil es so viel sein konnte, wie es Blicke auf es gab. Der spätere, definierend materialistische Blick, der von sich sagte, dass er ergründend sei, das wissenschaftliche Ordnungsdenken, half, eine Sichtweise zu etablieren, die alles definieren wollte und konnte, bis in das Über-Ich, das Plancksche Treiben und die Raumzeit hinein. Nur deswegen konnte es Heidegger notwendig erscheinen, diese Definitionshoheit des zwanghaften Blicks zu beenden, indem er ihr ein unklares Agens namens Sein zur Seite stellte, für das wieder die Philosophie, das Nachdenken über das Sein, zuständig war.
Das Sein schwimmt um das Ende
fast wie Murmeln um die Ade
Vom Seienden die Hände schütten
Formen in dem Bade. Vielleicht
ist es auch Milch, und einer reicht
Gewese dar wie Käse in der Weile.(Frank Milautzcki)
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Sorry for Laughing
(Textzeile auf dem Cover der LP „A secret wish“ von Propaganda)
Heideggers Tendenz, die von ihm ausgedachten Feinheiten zu adeln (jeder Denker, der sie versteht, gehört zur Denkaristokratie!), trifft sich mit der derzeit überwiegenden Tendenz, den Menschen als besonderen, gegen alles andere Leben überhöhten Lebenstypus anzusehen; mit der Tendenz zu einem Blick, dem der zukünftige Mensch Dank seiner Befähigungen als allein herrschensfähig gilt, als Herrschaft in allen möglichen Räumen (dies kraft seiner anthropologischen Distanz in der Weltbetrachtung, welche ihn klar vereinzelt und kapitelüberschreibend macht). Dieser Blick verführt dabei auch zum elitären, rassistischen Differenzieren. Vom Baum der Erkenntnis können Vögel und Insekten, Rehe und Pferde essen – erst, wenn der Mensch zu jenem selben Apfel greift, wird’s kritisch. Hierin steckt eine Menge Anthropozentrismus. Gerade weil Heidegger Denktiefen bemisst, Menschentypen erhofft, die zu diesen Tiefen fähig sind, und sie zu den „Einzigen“, den Weltenrettern hindenkt, ist Heidegger nicht nur anfällig für den nationalsozialistischen Firlefanz, sondern an sich selber dessen Symptom – auch verstiegen genug, um sein Denken dem nationalsozialistischen als überlegen in Tiefe und Konsequenz entgegenzuhalten.
Collage: Frank Milautzcki
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Man fragt sehr oft, ob Heideggers Seinsdenken von sich aus „bräunt“. Ich bin in dieser Erkundung zu der Meinung gekommen: ja.
Wer das Sein quasi-instrumentell hinzudenkt, bewegt sich auf einer Ebene, die dem Seienden sagen und vordenken will, was es tut. Er trennt das Existierende auf in den bloßen Stein und einen Kontext, der aus dem Stein „etwas“ macht. Wer das Recht auf die Gestaltung dieses Kontextes für sich reklamiert, definiert das Sein. Wenn ich Uniformen tragen lasse, definiere ich Seinsmöglichkeit genauso, wie wenn ich skinny-fit-Jeans vermarkte. Das Seiende ist zu beidem „zu gebrauchen“, weil prinzipiell „steinisch“. Man muss also, so Heideggers Denkweg, mit Bestimmtheit und ohne versteckte Agenda klare Zustände herstellen. Der Mensch als Hersteller ist der Mann, er hat das Recht der Gestalt(ung). Dass der Mensch als Anwender auch Frau ist, die u.a. unter Schmerzen gebären muss (also geschehen lassen, dass sich Gestalt erfindet), hat Heidegger dabei nicht auf dem Plan. Er sitzt in seinem Trachtensakko in seiner Bücherstube und unterschätzt, dass seine Herstellungen im Eigentlichen auch nur Anwendungen sind. Das Seiende ist der Aspektanbieter, und das Sein trifft eine Aspektentscheidung. Dass und was Heidegger in seinem Gehirn formuliert und von Kanzeln predigt, wird so selbst zum Seienden, das sich auf seine Weise hineinmischt. Was das letzten Endes bedeutet – welchen Seinsaspekt er damit verwirklicht und welche Sinnfelder er damit anlegt – ist tatsächlich eine Seinsfrage. Denkstrukturen entwerfen immer auch Denkfiguren, die als Angebot durch die Welt geistern.
Ob der Stein eine Waffe ist oder nicht, ein Schattenspender oder Bodenbedecker, unter dem sich ein Skorpion verkriecht, das entscheidet sich nicht im Dasein des Steins, sondern im Wahrnehmungs- und Bedeutungfeld der Welt rundherum. Sinnfelder entstehen und grenzen Bedeutung ein. Der Stein ist also Bedeutungsträger, seine Umwelt der Bedeutungsgeber. Am Wesen des Steins liegt es, Bedeutung haben zu können, und am Wesen der Umwelt entscheidet sich, welche. So hat man ein umfassendes Geflecht von Bedeutungsbeziehungen vor sich, und es gibt „den Stein“ schlicht nicht. Das Sein des Steins ist nicht entschieden und auch nicht an ihm ablesbar. Er kann als Komet das Weltall durchreisen und mit seinen Mineralien Teil eines anderen Planeten werden. Es gibt kein Seiendes ohne Sein, weil es kein Seiendes ohne Bezug gibt.
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Heideggers gefährlichster Gedanke ist genau jener, mit dem er sich vor anderen Philosophen auszuzeichnen glaubt: es gebe ein Seiendes ohne Sein und damit das brutal Nackte, das aufs Bloße Reduzierte, das dahingestellt und geworfen sei. Der Mensch, ins Nichts gestellt im Licht der Geschichte, kann und muss zum Lenker werden. Hier allein ist schon so viel heroische Attitüde dabei, dass man diese Art von Existenzialismus locker in Kasernen unterbringen kann: steht euren Mann im Kampf um die Welt!
Heidegger will den scharfen Blick, die Abgrenzung, die Konfrontation mit der Leere. Das Abtrennen des Seins berechtigt ihn, das Seiende in die existentialistische Bredouille zu stellen und in das „Vorlaufen zum Tode“, indem sich dem Seienden die volle Lebensintensität erst zeigt, wenn alles Lebendige, Bewegte, alles Sein und Sinn nichts mehr zählen, sondern nur mehr die Bloßheit einer Begegnung, die Begegnung mit dem Totsein.
Dass ein Seiendes nicht anders kann als „Vorlaufen zum Leben“, da es in der Weile unablässig Sinn und mögliche Bedeutung entdeckt, dass es als Lebewesen genau darauf hin läuft und nicht auf die Entscheidungsschlacht in den Nebeln des Abgrunds, sind Beobachtungen, die Heidegger fehlen und die seinem Trenndenken zum Opfer fallen, das für sich in Anspruch nimmt, kategorialer als bisher zu sein (oder sagen wir neukategorial).
Schließlich ist der Hammer als Seiendes nur im Sein des Menschen möglich, so wie das Eisen darin erst einmal erbrütet sein muss. Der Hammer braucht als Seiendes u.a. das Sinnfeld des Menschen, es gibt ihn schlicht nicht nackt und bloß, genauso, wie es den Menschen, den Geworfenen, nackt und bloß nicht gibt. Man kann sogar sagen, gäbe es das Heidegger'sche Geworfensein, gäbe es keinen Menschen. Wenn man, wie Heidegger, ein bezweckt Entstandenes in die Leere stellt, so nimmt man ihm die wichtigste Seite seines Daseins, seinen Zusammenhang, und wird niemals ein gültiges Verständnis für diese Existenz erlangen können. Sein ohne Zusammenhang: das gelingt originär nur einem Stoff der Masse Null – dem Photon beispielsweise, wenn überhaupt.
Jedesmal, wenn die Sonne scheint,
ist auch der Stein warm.
Das, was es gibt, gibt es aus Zusammenhängen heraus, und seine Form ist ihnen geschuldet. Schon Metalle gäbe es ohne Supernovae nicht. Heideggers Seiendes ist in realiter eine nicht aus ihrem Zusammenhang zu lösende Abbildung des Seins, und insofern niemals geworfen oder gestellt, sondern immer entwickelt und verbunden. Es gibt „die Situation“, aber die heißt nicht Geworfensein, sondern die fragt transformierend nach Dauer. Der Mensch ist eine mögliche Antwort auf diese Frage. Und zwar eine Antwort, die immer fragwürdiger wird, je mehr sie auf lange Weile verzichtet, denn schließlich bildet sie immer mehr nur ab, was in der Welt zu beherrschen möglich ist, und nicht, welche Weise, beherrscht zu sein, dieser Welt am Ende selbst zuträglich ist. Die Urhypothese des schuldhaften Seins, das alte griechische aitia, bewahrheitet sich im Prinzip der Bezweckung.
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