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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Spaziergang auf der biografischen Achse

Sacha Batthyany auf Spurensuche von Sibirien bis Buenos Aires.
Hamburg

Shortlist Debutpreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises 2016

„Nem érted“, antworten sein Vater und seine Großmutter einvernehmlich, wenn der junge Sacha Batthyany etwas über deren Vergangenheit in Ungarn fragt: „Das verstehst du nicht.“

Seine wohlbehütete Kindheit in der Schweiz, in der kaum etwas an historische Schrecknisse erinnert, erscheint ihm wie wattiert, als Sinnbild des Verdrängens. Lange Zeit lässt Batthyany es dabei bewenden. Er studiert Soziologie, wird Journalist, arbeitet als Redakteur für die Neue Zürcher Zeitung und als Auslandskorrespondent für den Tages-Anzeiger und die Süddeutsche Zeitung.

Erst als ihm eine Kollegin einen Zeitungsartikel auf den Tisch legt, in dem sein Familienname in Verbindung gebracht wird mit Margit von Batthyány-Thyssen, die im März 1945 in Rechnitz an der Erschießung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern beteiligt gewesen sein soll, holt ihn die eigene Geschichte ein. Die „Nazi-Gräfin“, wie reißerische Schlagzeilen verkünden, die „Gastgeberin der Hölle“, habe auf ihrem Schloss ein rauschendes Fest veranstaltet, in dessen Verlauf Waffen an die Gäste verteilt worden seien, und zum Mord an den am Bahnhof zusammengetriebenen ungarischen Juden aufgerufen. Jahrzehntelang wurde das Verbrechen totgeschwiegen. Mittlerweile gibt es ein Mahnmal in Rechnitz, doch die Überreste der Toten wurden nie gefunden, die Täter nie zur Rechenschaft gezogen.

Zwar ist Batthyany die angeheiratete Großtante (die 1989 verstarb) lediglich als skurrile Randgestalt bei Familienfeiern in Erinnerung geblieben – doch sitzt ihm das nie aufgeklärte Verbrechen fortan im Nacken.

Der Autor macht sich auf die Suche, reist nach Ungarn, Moskau, Sibirien und schließlich bis nach Buenos Aires. Er stellt seinen Vater zur Rede, recherchiert in Archiven, liest die Tagebücher seiner Großmutter und wird „nebenbei“ Vater dreier Kinder. Sieben Jahre währt die Arbeit an „Und was hat das mit mir zu tun?“ – sieben Jahre, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermischen: „Ich lernte, Windeln zu wechseln und Breie anzurühren, und alles über meine Wurzeln.“ Ein Zürcher Psychoanalytiker, der sich auf transgenerational vererbte Traumata spezialisiert hat, begleitet ihn fachkundig und einfühlsam dabei, „wie ich auf meiner biografischen Achse spazieren ging“.

Nicht ganz nachzuvollziehen indes sind der Untertitel und der Klappentext des Buches, die in ähnlich sensationslüsterner Weise wie die Klatschblätter, die der Text ironisiert, auf das Verbrechen von Rechnitz abzielen. Dieses jedoch fungiert lediglich als Ausgangspunkt der Suche – neue Fakten zu dessen Aufklärung steuert Batthyany nicht bei, und sein Fokus verlagert sich schnell. Was der Spannung keineswegs abträglich ist, schließlich sind es gerade die „normalen“ biografischen Verwerfungen unserer Vorfahren, die uns nachhaltig prägen. Zunächst muss Batthyany sich der verwirrenden Erkenntnis stellen, Nachkomme von Opfern und Tätern zugleich zu sein: Sein Großvater wurde für zehn Jahre nach Sibirien verschleppt, wo er in Asbest-Minen schuften musste. Batthyanys Vater lernte ihn erst mit 14 kennen, einen gebrochenen Mann, „der keine Haare mehr hatte, schlechte Zähne, der früh an Demenz erkranken und bis zu seinem Tod an den Füßen frieren wird“ – ein Trauma, das wiederum Batthyanys Vater lebenslänglich begleitet.

Zusammen besuchen Vater und Sohn das Gulag-Museum in Moskau, zusammen stapfen sie durch den sibirischen Schnee auf der Suche nach Überresten des Lagers, in dem der Großvater gefangen gehalten wurde. Einiges an dieser Reise in die Vergangenheit gerät recht vorhersehbar – das allzu zielgerichtete Warten an historisch aufgeladenen Orten auf emotionale Effekte – doch entstehen um diese Stellen herum auch Momente echter Annährung und lang aufgeschobener Auseinandersetzung, die berühren.

Parallel dazu stößt Batthyany auf Ungereimtheiten in den Tagebüchern seiner Großmutter, als er sie mit den Aufzeichnungen ihrer jüdischen Jugendfreundin Agnes abgleicht. Diese Widersprüche bringen ihn auf die Spur eines weiteren vertuschten Kriegsverbrechens, das zwar weit weniger skandalträchtig und blutrünstig als das der „Nazi-Gräfin“ daherkommt, schließlich jedoch zum Herzstück des Buches wird. Es ist ein Moment der eigenen Mutlosigkeit, des verpassten Eingreifens, der seine Großmutter zeitlebens nicht loslassen wird – und zugleich ein blinder Fleck, um den das generationenwährende Schweigen vieler Familien kreist.

„Sie haben Ihren Lebensmittelpunkt in der Vergangenheit“, diagnostiziert Batthyanys Psychoanalytiker treffsicher. Ein Umstand, der den Autor mit Agnes‘ Tochter verbindet, einer in Buenos Aires lebenden Künstlerin, die in einem Interview sagt: „Etwas vom Wichtigsten in meinem Leben ist passiert, bevor ich auf die Welt kam.“

Folgerichtig bildet die Reise nach Buenos Aires den Rahmen der literarischen Suchbewegung. Allzu bewusst scheint sich allerdings der Roman dabei der Gefahr, zu einer kitschigen Versöhnungsgeschichte zwischen Opfer- und Täternachfahren zu geraten, und versucht diese mit skrupulöser Selbstbefragung zu umschiffen. Wie viel Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (in diesem Fall: einer 90-jährigen Holocaust-Überlebenden)? Wer hat die Deutungsmacht über die Geschichte? Und reißt sie nicht der Verfasser dieses Romans im Schreibprozess unwillentlich an sich? Im Gespräch mit zwei ungarischen Sexarbeiterinnen stellt Batthyany sich schließlich die Frage, ob die Beschäftigung mit vergangenen Traumata nicht ein Luxusproblem darstellt in den Augen derjenigen, die Tag für Tag ums Überleben kämpfen. Und überhaupt: Ist das Bestreben eines Täter-Enkels, sich durch die Aufarbeitung der Erinnerung eine greifbare Identität zuzulegen, nicht hochgradig egoistisch?

Immer wieder verstrickt sich der Roman in selbstquälerischen Denkschleifen, die jenen Narzissmus streifen, den Batthyany an sich selbst zugleich anprangert. Auch führt die Verquickung von Schuld und Scham in der eigenen Familienbiografie zu mitunter absurd anmutenden Spekulationen: So imaginiert Batthyany die Begegnung eines Ex-Wehrmachtssoldaten und eines ehemaligen Gulag-Wärters in den frühen 80ern am Plattensee, konstatiert angesichts einer Geflügelfarm, die nun an der Stelle eines Kriegsgefangenenlagers steht: „Menschenlager, Hühnerlager – es blieb in der Familie“, und bezeichnet sich – derselben Logik folgend – als „Nazi im Kinderzimmer“, nachdem ihm seinem kleinen Sohn gegenüber „die Hand ausgerutscht“ ist. Das Entsetzen über den eigenen Kontrollverlust ist sicherlich real, doch wirkt der Rückbezug hier eher kokett als psychologisch nachvollziehbar.

Wahre Bedrängnis wird nur in wenigen Passagen spürbar. Was auch daran liegen mag, dass Batthyany seiner Rolle als erfahrener Journalist nur selten entkommt. Mit zweifellos wachen Blicken registriert er, wie die Kebapsauce den ungarischen Prostituierten über die perfekt manikürten Finger rinnt, das Schwimmbad, die Imbissbuden neben dem ehemaligen Strafgefangenenlager, die quietschenden Plastiksaurier seiner Kinder, auf die er nachts im Halbschlaf tritt. All das bildet eine gut lesbare Melange, die routiniert die Zeitebenen überbrückt. Jedoch wiegt einen der nüchterne Reportagestil zugleich in einer täuschenden Vertrautheit, die nicht gerade dabei hilft, bekannte Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen oder die Authentizität des eigenen Erinnerns zu hinterfragen. So bleibt auch die zentrale Frage (Wie hätte ich gehandelt?) letztendlich eine rhetorische.

Dabei birgt gerade die wieder einmal eindrücklich dargelegte „Banalität des Bösen“ die eigentlich schockierende Erkenntnis. Batthyanys Vorfahren waren keine Mörder und Folterer, vor denen es sich heute glamourös gruseln ließe, sondern ganz normale Mitläufer, bestenfalls feige Wegseher. Erschreckend aktuell die Einsicht: Wie wenig Unterschied es macht, ob jemand selbst abdrückt, oder „nur“ die Waffen verteilt und dann weiterfeiert, als sei nichts geschehen.

 

 

 

Sacha Batthyany
Und was hat das mit mir zu tun?
Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie
Kiepenheuer & Witsch
2016 · 256 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-462-04831-5

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