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Kritik

„Die tausendste Zigarette hilft über die nächsten fünf Minuten Abgrund hinweg“

Thomas Melle hat ein großartiges Buch über seine bipolare Erkrankung geschrieben
Hamburg

Zu den besten Büchern des Jahres 2016 zählen zwei autobiografische Sachbücher: Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, im französischen Original bereits 2009 erschienen und nun dank Suhrkamp auch auf Deutsch verfügbar. Und Thomas Melles Bekenntnisbuch „Die Welt im Rücken“, in dem er sein Leben mit einer manisch-depressiven Erkrankung schildert.

In beiden Fällen hat es der Leser mit sehr persönlichen Büchern zu tun, die intime Einblicke in die Lebens- und Leidenswege ihrer Verfasser zulassen. Im Falle Eribons ist dies der Prozess der radikalen Abkehr vom Milieu und den Menschen seiner Herkunft, inklusive der eigenen Familie, die Voraussetzung dafür war, sein Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Als er nach 35 Jahren anlässlich des Todes seines Vaters in seine Heimatstadt zurückkehrt, spürt er, wie wenig von seinem alten Ich in ihm zurückgeblieben ist. Er beschreibt dies ohne Bedauern, wissend, das Richtige getan zu haben. Daher ist „Rückkehr nach Reims“ letztlich ein positives, lebensbejahendes Buch, das die Gestaltungsmöglichkeiten eines freien Lebens feiert, wie schwierig die Ausgangslage auch sein mag.  

Auch in Melles „Die Welt im Rücken“ überwiegt am Ende das Positive. Das Buch schließt mit einem Plädoyer für das Leben und Überleben. Und für das Schreiben als existenzbestimmende Lebensform, woran die Erkrankung selbst in ihren schlimmsten Phasen nichts zu ändern vermochte. Sowohl „Sickster“ als auch „3000 Euro“, die beiden bisherigen Romane des Autors, sind zumindest teilweise während akuter Erkrankungsschübe entstanden. Allerdings weiß Melle, dass die Krankheit jederzeit zurückkehren kann, die statistische Wahrscheinlichkeit dafür sogar recht hoch ist. Doch vermag er mittlerweile damit umzugehen. Er zehrt von dem Wissen, das schon dreimal durchgestanden zu haben. „Sollte ich wieder dem Wahn verfallen, werde ich es als Schicksal hinnehmen“, heißt es am Ende des Buches. „Dann werde ich dennoch weiterleben.“  

Der Begriff bipolar ist für Melle ein Euphemismus. Manisch-depressiv trifft es besser. Denn zuerst ist man manisch, dann depressiv. Jede Phase für sich genommen kann sich über Monate und sogar Jahre hinziehen. Insgesamt, so hat Melle ausgerechnet, hat er bislang sechs Jahre seines Lebens in diesem seelischen Ausnahmezustand verbracht. Inklusive diverser Aufenthalte in der Psychiatrie.

Ein Jahr Vollgas, gefolgt von einem Jahr Tristesse. So bringt er seine erste Erfahrung mit der Krankheit während des Studiums in Tübingen und Berlin auf den Punkt. Zweit weitere Schübe, 2006 und 2010, folgten. Die geschilderten Erfahrungen und Verhaltensweisen gleichen einander; und sind dennoch für sich genommen höchst eigen, was in erster Linie den klugen Reflexionen des Autors sowie etlichen (zumindest in der Rückschau) witzig beschriebenen Begebenheiten geschuldet ist. Wer aufgrund des chronologischen Aufbaus des Buches Redundanzen vermutet, wird eines Besseren belehrt.

In den Zeiten der Manie wütet die Enthemmung: intellektuell, emotional, sexuell. Alles wird exzessiv und jenseits einer von der Mehrheit der Mitmenschen als normal empfundenen Realität betrieben. Den Möglichkeiten und der eigenen Bedeutung sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. Der Maniker verschuldet und ruiniert sich; er überwirft sich mit seinem Umfeld, bisweilen irreparabel. Das erfährt auch Melle. An seinen Schulden aus dieser Zeit zahlt er bis heute. Dennoch, und das ist sein großes Glück, verfügt er über einen treuen Kreis an Freunden. Diese sorgen sich um ihn, schaffen ihn notfalls in die Psychiatrie – und wenden so den ganz tiefen Absturz in Alkoholismus und Obdachlosigkeit ab. Wer das Buch liest, kann ganz nebenbei nachvollziehen, wie Biografien vollständig und unrettbar zugrunde gehen können. 

Der Manie folgen unerträgliche Seelenleiden, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Jeder vierte Erkrankte versucht sich in dieser Phase das Leben zu nehmen, auch Melle gehört dazu. Rund 15 Prozent bringen sich tatsächlich um; deutlich höher ist die Rate, wenn die Krankheit nicht behandelt wird.  

Letztlich, so heißt es an einer Stelle, führt der manisch-depressive Mensch drei Leben, die einander ausschließen und bekriegen: das des Manikers, des Depressiven und des zwischenzeitlich Geheilten. Was der jeweilige Vorgänger getan, gesagt und gedacht hat, ist der gegenwärtigen Persönlichkeit nicht zugänglich und auch nicht nachvollziehbar. Dennoch muss man irgendwie damit umgehen und weiterleben. Ein schambesetzteres Leben, sagt Melle, kann man sich nicht vorstellen.

Wie so häufig gehen auch hier Tragödie und Komödie mitunter Hand in Hand. Der Egomanie des Manikers fehlt es nicht an Komik. Das weiß auch Melle, der einräumt, dass vermutlich weder Madonna noch Kate Moss ein Auge auf ihn geworfen hatten, auch wenn er davon in seinen manischen Phasen felsenfest überzeugt war. Und dass Bob Dylan seine Lieder wirklich nur für ihn geschrieben hat, daran glaubt er im Rückblick auch nicht mehr. Auch kann man sich in Zeiten, in denen die Apologeten der digitalen Vernetzung die Diskurse in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft dominieren, der Ironie nicht ganz entziehen, dass der Glaube daran, im Zentrum der Vernetzung zu stehen, zum festen Bestandteil des Krankheitsbildes eines jeden Manikers gehört. 

Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ gehört zweifellos zum Besten, was in diesem Jahr an deutschsprachiger Literatur erschienen ist. Dass stattdessen das betuliche Bändchen „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff, das in dessen Werk nicht einmal sonderlich hervorsticht, soeben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, gehört zu den Entscheidungen des Literaturbetriebs, die man nicht verstehen muss.    

Thomas Melle
Die Welt im Rücken
Rowohlt
2016 · 352 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-87134-170-0

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