Lesung von Olga Martynova am 02. November 2016 in der Stadtbibliothek Bielefeld
Um das Positivste und das Negativste gleich vorweg zu erwähnen; die Reihen waren gelichtet, viel zu wenige Besucher haben den Weg in die Stadtbibliothek gefunden, wo am 02. November im Rahmen der Literaturtage, die dieses Jahr unter dem schönen doppeldeutigen Motto „Bücher machen mich irgendwie fertig“ stehen, Olga Martynova aus ihrem neuen Roman „Engelherd“ las.
Der Engelherd, Olga Martynova, S. Fischer 2016
Vielschichtig wie der Roman war die Lesung, untermalt durch wechselnde Bilder, die auf die Wand hinter der Lesenden projiziert wurden, und jedes Mal in einem engen Zusammenhang mit dem Buch standen. So war zu Anfang ein Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren zu sehen, auf dem ein Vogelherd zu sehen ist. Der mittelalterliche Vogelherd dient in Martynovas Roman als Vorbild für den titelgebenden „Engelherd“. Im weiteren Verlauf des Abends, erschien der „Engel der Geschichte“, Paul Klees „Angelus Novus“, und zum Abschluss das ebenfalls im Roman erwähnte Gemälde „Venus vor dem Spiegel“ von Velazquez. Eine Tatsache, die Olga Martynova nachhaltig begeisterte, und ein wenig dafür entschädigen konnte, dass die Moderation ihren Debüt Roman aufgrund gewohnt schlechter Vorbereitung, unterschlagen hatte.
Viel sensibler und kongenial auf die Atmosphäre des Buches abgestimmt, war die musikalische Umrahmung von Franziska Rees.
Nach der Aufgabe der Engel, die in ihrem Roman eine wichtige Erzählinstanz darstellen, befragt, sagte Olga Martynova, dass die Engel machtlos seien. Sie versuchten die Menschen zu verstehen, aber letztendlich verstünden sie nichts. Eben durch dieses Nichtverstehen, gehen sie über die Grenze des Verstehens hinaus, und können den Hilfsbedürftigen beistehen.
Über „Engelherd“ hat Olga Martynova einmal gesagt, dieser Roman habe sie nicht nur verändert, sondern zu einem traurigeren Menschen gemacht. Man spürt das alles unter dem Humor und der eleganten Leichtigkeit ihres Erzählstils. Wer sich lesend dafür öffnet, kann wahrnehmen, wie hier immer die Einsicht, dass man leben muss mit der Trauer, der Wahrheit und der Schuld, eine unterschwellige Rolle spielt.
Während diese „Begleiterscheinung“ mehr als verständlich ist, bei einem Roman, der sich mit der „Euthanasie“ beschäftigt, ist es um so erstaunlicher, wie viel Humor in den kleinen absurden Szenen steckt und vor allem, wie liebevoll Olga Martynova ihre Figuren betrachtet und beschreibt. Es ist übrigens nie direkt von „Euthanasie“ die Rede, all das wird subtil und doch deutlich erzählt, nicht zuletzt von den Engeln, die, obwohl sie die Hölle nicht betreten dürfen, ihren Menschen in der von anderen Menschen gemachten Hölle beistehen. Die Stellen, die von der Euthanasie handeln, betont Martynova, entbehren völlig der Fantasie. Alles, (von den Engeln und ihren Gesprächen abgesehen) basiert auf Tatsachen.
Auf einer anderen Ebene ist „Der Engelherd“ ein Entwicklungsroman über einen alten Menschen, denn Carl Waidegger, der mit seiner Geliebten „Laura“ schon in „Mörikes Schlüsselbein“ einen kurzen Auftritt hatte, erkennt im Laufe des Romans nicht nur immer mehr Wahrheiten über sich selbst, sondern erfährt im Fortschreiben des als Gesellschaftsspiel initiierten Kitsch-Romans „Zwischenfall am See“, etwas über seine ganz eigene Geschichte, über seine Mutter, zu der er sein Leben lang ein sehr ambivalentes Verhältnis hatte.
Olga Martynova liest, erklärt, ergänzt, blättert, liest einige Seiten später weiter. So erzählt sie, wie der „Zwischenfall am See“ entstanden ist, nämlich als Partyspiel auf einem von Carl Waideggers „Samstagmittagen“, von Waideggers Weg zu seiner Tochter Maria, die seit vielen Jahren in einem Heim lebt, Passagen aus dem „Journal eines Engelsüchtigen“. Dabei spricht sie von der Schwierigkeit, Stellen aus dem Buch auszuwählen. Sie hat etwas kindlich Offenes, wenn sie nacherzählt, und dann sich selbst und die Geschichte, sowie das Gesagte, kommentiert.
Auch die tragischen Stellen lässt sie bei der Lesung nicht aus, so liest sie die Szene, in der Carl Waideggers Mutter, eine überaus erfolgreiche und umwerfend schöne Frau, erfährt, dass ihr Kind, das sie auf Drängen ihres Mannes in einem Heim zurückgelassen hat, angeblich an einer „Lungenentzündung“ gestorben ist. Schönster Kitsch (eine Frau, in die sich jeder Mann umgehend verliebt) steht hier neben dem unfassbarsten Grauen (der Kopf eines fünfjährigen Mädchens zu Forschungszwecken eingeweckt in einem Glas).
Die Stellen, die Olga Martynova liest sind unterhaltsam und häufig sehr witzig, dennoch machen sie an diesem Abend noch einmal bewusst, auf wie vielen Ebenen wir uns schuldig machen können, aus Ehrgeiz, aus mangelndem Mitgefühl, aus Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit, aus Bequemlichkeit und Angst.
Es gibt keine guten und schlechten Menschen, behauptet Martynova zum Ende des Gesprächs, nur gute und schlechte Zeiten, in den guten Zeiten sind die guten Menschen gut, in den schlechten Zeiten sind sie schlecht. Und wer in schlechten Zeiten ein guter Mensch ist, ist nichts weniger als ein Held.
Als für sie persönlich wichtigste Stelle im Roman, benennt Olga Martynova die Szene, in der fast alle der im Buch aufgetretenen Protagonisten noch einmal in einem Raum zusammenkommen, den Showdown, wo die Vergangenheit auf die Gegenwart trifft.
Olga Martynovas Bücher sind kein oberflächliches Unterhaltungsprogramm, sondern intelligent und unterhaltsam gewirkte Geschichten, die den Leser zum eigenen Denken herausfordern. Etwas, das in einer Zeit, die weder richtig gut noch richtig schlecht ist, vielleicht nicht so viele Anhänger findet, wie ich es mir wünschen würde.
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