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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Moralisten, Proto-Nazis, Libertines

Jakob Wassermann im Spagat zwischen humanistischen Idealen und billigen Effekten
Hamburg

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zählte der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann zu den produktivsten und meistgelesenen Autoren seiner Zeit, in einem Atemzug genannt mit Thomas und Heinrich Mann. 1924 erschien „Faber oder Die verlorenen Jahre“, einer seiner weniger bekannten Romane. Knapp zehn Jahre später, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurden seine Bücher verboten – ein schwerer Schock, in materieller wie in psychischer Hinsicht, der wohl nicht unmaßgeblich zu seinem Tod mit nur 60 Jahren beitrug. Nun hat der Manesse-Verlag dieses in Vergessenheit geratene Werk neu aufgelegt, das sich anlässt wie ein klassischer Heimkehrerroman, rasch jedoch ausweitet zu einem plastischen Tableau der Weimarer Republik.

„Sechs Jahre liegen hinter mir wie ein schwarzes Brandloch“, stellt Eugen Faber in düster-lakonischer Manier fest, als er aus der Kriegsgefangenschaft in seine namenlose Heimatstadt zurückkehrt. Der Sehnsuchtsort, der ihn Sibirien überleben ließ, ist ihm fremd geworden. Oder hat er selbst sich derart verändert? Seine Frau Martina fällt ihm zwar freudig um den Hals, gibt sich dann jedoch distanziert und quartiert ihn im Gästezimmer ein. Der gemeinsame Sohn Christoph ist mittlerweile neun Jahre alt und muss sich erst langsam an den fremden Mann im Haus gewöhnen. Auch an seiner alten Arbeitsstelle wird Faber nicht mehr gebraucht. Doch sind es nicht immer nur die anderen, die ihm die Türen vor der Nase zuschlagen; Faber selbst entzieht sich, bleibt verschlossen und unwillig, sich in die bestehende Gesellschaft einzugliedern.

Ein typisches Heimkehrerschicksal, wie es in der „Trümmerliteratur“ dutzendfach wieder aufgegriffen wurde, könnte man meinen. Doch scheint es Wassermann nur am Rande um Fabers Gefangenschafts- und Fluchterfahrungen zu gehen (diese kommen lediglich als Abenteuergeschichten für den Sohn aufbereitet vor), sondern vielmehr darum, eine spezielle Insider/Outsider-Perspektive zu kreieren, durch die sich das brüchige Gefüge der Weimarer Republik präzise beleuchten lässt.

Hierzu hat der Autor eine Figurenkonstellation erschaffen, die in ihrer klar umrissenen Typologie zwar etwas statisch daherkommt, sich für das heutige Verständnis der damaligen Kräfte jedoch als durchaus hilfreich erweist: Doktor Fleming, der ehemaliger Hauslehrer der Faber-Geschwister, vertritt die Position des bürgerlichen Moralisten alter Schule. Eugens Mutter verkörpert mit ihren antiautoritären, bisweilen recht exzentrischen Erziehungsmethoden ein freigeistiges Denken, aber auch – in den pikierten Worten des Hauslehrers – „die erotische Zuchtlosigkeit und die Abkehr von Bürgersitte und sozialer Tradition“. Fabers Schwager wiederum, der sich „die Erneuerung vaterländischen Geistes zur Aufgabe gesetzt“ hat und in dem zynischen Kriegsheimkehrer sogleich ein destruktives Element erkennt, das es auszumerzen gilt, darf den Proto-Nazi geben. Als Gegenstück fungiert die „radikale jugendlichen Linkspartei“ der „Ultraroten“, in deren Fänge der bis dahin apolitische Faber beim ziellosen Umherstreunen gerät. Und Faber selbst kann nicht nur als Kriegsheimkehrer gelesen werden, sondern – in seinem entwurzelten Dasein, seiner Funktion als zerstörerische Kraft, die sich in ein bestehendes Gefüge drängt – zugleich als eine Figur, die viele Vorurteile auf sich vereint, die in den 1920er Jahren Juden entgegengebracht wurden. Damit verweist er implizit auch auf den Antisemitismus, dem Wassermann Zeit seines Lebens ausgesetzt war.

Gleichsam hinter den Kulissen agiert die mysteriöse Fürstin – eine wohltätige Adlige, die Martina während Fabers Abwesenheit unter ihre Fittiche genommen hat. Zwar sorgt Fabers Argwohn gegenüber dieser Schattengestalt im Mittelteil des Buches für dramaturgische Zuspitzungen, die beinahe einem modernen Thriller entstammen könnten, doch bleibt bezeichnenderweise die Aristokratie – während die meisten Charaktere immerhin mit einem gewissen Facettenreichtum ausgestattet sind – bei Wassermann letztendlich unantastbar. Bezeichnend auch, dass es dem ebenfalls einer Adelsfamilie entstammenden Hausmädchen Fides als einzige gelingen wird, Fabers harte Schale zu knacken – ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, bahnt sich doch (vorhersehbar) eine Romanze zwischen den beiden an.

Nicht zuletzt aufgrund dieser operettenhaften Versatzstücke (eine Ehe auf dem Prüfstand, eine verbotene Liebe, eine Familie im Niedergang) wurde „Faber“ vielfach als seichte Unterhaltungslektüre abgetan. Tatsächlich mag der melodramatische Handlungsaufbau für heutige Leser_innen an einigen Stellen unfreiwillig komisch wirken, und auch die konventionell gestrickte Sprache lässt den Roman wortwörtlich alt aussehen, vergleicht man ihn mit innovativen Werken wie James Joyce‘ „Ulysses“, Franz Kafkas „Der Prozess“ oder Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, die etwa zur selben Zeit erschienen.

Insbesondere Wassermanns klischeehafte Personenzeichnungen lassen wenig Raum für Zwischentöne. Sei es Martina mit ihrem „unsäglich anmutigen Schritt“ und der „glockenhellen Stimme“, oder der angehende Terrorist, dem die unlauteren Absichten – gemäß der damals populären Physiognomik – bereits ins Gesicht geschrieben stehen („misstrauisch blickende, unverlässliche Augen und eine jener trügerisch hohen Stirnen, die weniger auf geistige Vorzüge als auf Ehrgeiz und Eigensinn deuten“). Ähnliches gilt für die Dialoge, die weniger wie spontane Schlagabtäusche als nach gut vorbereiteten Reden klingen, in denen die Sprecher einander nicht nur ihre moralische Überlegenheit, sondern obendrein ihre Eloquenz zu beweisen suchen („Freilich, Mutter, wir sitzen alle auf zerbrochenen Säulen. Wider das Allgemeine bäumst du dich vergeblich“).

Auf der anderen Seite jedoch kommt auch Wassermanns humanistischer Anspruch voll zum Tragen. Und die Gesellschaftskritik, die er hierbei übt, ist erstaunlich zeitlos – werden doch Fragen der Freiheit, Achtung und Gleichberechtigung in sämtlichen Facetten verhandelt.

Kindlich-naiv plappert Christoph die Ideen eines überkommenen Patriarchats nach, das auf die erste Welle des Feminismus prallt: „Seien denn Frauen frei? So frei wie Männer? Könnten sie tun, was ihnen beliebe, oder hätten Männer bloß nicht den Mut, ihnen ordentlich zu sagen, was sie dürften und nicht dürften?“ Und kann somit – ähnlich wie sein desorientierter Vater – als Sinnbild einer Männlichkeit in der Krise gelten. Martina hingegen demonstriert, wie „aus einem nesthütenden Weibchen ein tätiger Mensch wurde“, doch ihre Arbeit in der Hilfsorganisation der Fürstin sorgt zugleich für eine zusätzliche Entfremdung von ihrem Mann. Dieser bleibt hin- und hergerissen zwischen Besitzansprüchen, ohnmächtigen Gewaltfantasien und einem langsam aufkeimenden Bewusstsein über Geschlechtergerechtigkeit, Respekt und Konsens. Es ist vor allem seine neue Vertraute Fides, die ihm in langen Gesprächen diese so humanistischen wie feministischen Ideale einpflanzt: „Halten Sie sich nur einmal vor Augen, wie die Frauen leben […] Wie soll man da zu einer Wahrhaftigkeit des Daseins kommen?“ Und wenn sie deklamiert: „Gibt’s einen Liebesanspruch? Nein. Gehört einem ein Mensch? Nein“, dann sind das klare Worte, die bis heute nicht an Gültigkeit und Aktualität eingebüßt haben – Kitsch und Pathos hin oder her.

Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Nachwort Insa Wilke
Manesse
2016 · 416 Seiten · 26,95 Euro
ISBN:
978-3-7175-2416-8

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