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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

… den Wald vor lauter Pusteln

Hamburg

Vorneweg die vollständige Offenlegung: Der Rezensent hat selber auch ein Buch bei hochroth. Die Nischenmärkte für Geschriebenes, sie sind ein Dorf. Also: Alle zusammengenommen nur eines. Da hilft nichts.

Das schmale Buch, mit dem wir es zu tun haben, heißt „Sylva in scabiem“ / „Wald aus Krätze“; der Verfasser des Ausgangstexts war der italienische Gelehrte und (zeitweise) Hofdichter Lorenzo di Medicis, Angelo Poliziano; Übersetzer, Herausgeber und Verfasser des umfangreichen Nachworts ist der Literaturwissenschaftler Tobias Roth. Da erscheint also 2016, und nicht in einem universitären Forschungszusammenhang, sondern in einem kleinen Publikumsverlag für v. a. anspruchsvollere zeitgenössische Literatur, eine Übersetzung aus dem Lateinischen des Quattrocento. Diese Einreihung kommt für sich genommen schon einmal der Behauptung einer Doppelthese gleich: Erstens, dass, was Polizianos „Wald“ besonders auszeichne, ebenfalls eine „Zeitgenossenschaft“ sei – bloß eben nicht eine Zeitgenossenschaft des einundzwanzigsten, sondern des fünfzehnten Jahrhunderts – und zweitens, dass die formalen Merkmale und Kontextmarker dieser beiden Zeitgenossenschaften einander ähnlich wären. (Zurecht nur indirekt impliziert wird damit auch noch der dritte Punkt einer möglichen Kongruenz der literarischen Soziotope des Italiens der Stadtstaaten damals und des deutschen Sprachraums heute, über welchen Punkt an dieser Stelle aber nicht spekul- oder schwadroniert werden muss.)

Ein kurzes Geleitwort des Übersetzers auf der ersten Textseite spricht uns Mut zu:

[…] dass (…) Lehrer, die behauptet haben, dass die Namen, Anspielungen und Querverweise eines Werkes der Vergangenheit von den Lesern dieser Zeit ohne Probleme sofort begriffen worden sind, und dass der Griff zu Kommentar und Lexikon erst für uns ungebildete Nachgeborene notwendig geworden ist, in diesem Fall gelogen haben.

Was dann folgt, ist der eigentliche Text, 374 Zeilen in einem holprig, aber immerhin stabil holprig gehaltenen Hexameter, rechts in Roths Übertragung, links in einer Wiedergabe von Polizianos lateinischer Handschrift, die laut Nachwort

der (…) Handschrift buchstabengenau [folgt], mit allen Unregelmäßigkeiten und Verkürzungen, um einen Eindruck der Schreibpraxis im späten 15. Jahrhundert zu geben; (…)

Der Text, oder zumindest der Großteil des Textes, stellt eine verspielt-gelehrte Wehklage über das Leiden an der Krätze dar; zum Schein subjektivistisch, aber tatsächlich mit Similes, Parabeln, Anspielungen und Fällen von Name Dropping vollgestopft – das zitierte Vorwort verspricht da nicht zu viel. Der Witz an der Sache, für uns wie für Polizianos Zeitgenossen, ist das Unpassende an der Kombination: Wir lesen uns – zum Vergnügen! – die schwelgerisch-sinnliche, detaillierte Darstellung einer ausgesprochen ekelhaften Hautkrankheit durch und registrieren mit (sagen wir) „bildungsbürgerlicher“ Distanz die Zitate und Meta-Spielchen, die an Polizianos Wortgirlanden blinken wie Christbaumkugeln.

Das Rätsel um den Titel – bezieht sich „Wald aus Krätze“ auf eine bestimmte Dante‘sche (oder anderen Quellen entnommene) Höllenlandschaft? ist „Wald“ eine schiefe Metapher für den Zustand der Haut des Sprechers? wie sonst kommt der „Sylva“ in diesen Kontext? – löst sich erstmal nicht von selbst. Das Wort „Wald“ im Titel verweist, wie uns altphilologisch Unkundige erst das Nachwort beauskunftet, auf die Textgattung:

Die poetischen Wälder bezeichnen (…) ein ungeordnetes, spontanes, unvollendetes Dickicht von Material; ein lockerer Raum ohne Gattungskonventionen (…). Dieses „improvisierte Chaos“ ist allerdings Pose eines höchst koordinierten Handwerks, (…) Es geht um Mischung und Abwechslung, um copia: Fülle des Gegenstands wie der Aussage – (…)

Ah. Scheinsubjektivistisches Deklinieren-und-zugleich-Brechen der Formvorgaben vor dem Horizont eines hochgezüchteten Kanons? Kommt uns als Habitus aus der Jetztzeit bekannt vor; die Herausgabe gerade bei hochroth leuchtet ein. Wie aber müssen wir das lesen, dass das letzte Drittels eine Art Lobgesang auf Lorenzo di Medici ist? Als Satire (weil der Gepriesene gerade in diesen Kontext gestellt wird)? Als Erfüllung der Buchstaben einer Stipendiats-Satzung (oder welche entsprechenden Begriffe man damals eben von derlei hatte)? Das Nachwort legt nahe, Poliziano würde an dieser Stelle an der Selbstinszenierung der Medici als (dem Namen getreu) „Ärzte“ des politischen Systems mitwirken, wenn sein Text- und Schmerz-Subjekt just Lorenzo um Linderung anruft.

Auffällig für einen Text des 15. Jahrhunderts ist auch die völlige Abwesenheit christlicher Motive in „Sylva in scabiem“. Das Gedicht scheint sein Subjekt in eine Kontinuität mit den Berufsintellektuellen dessen, was wir heute die römische Antike nennen, stellen zu sollen, und wirkt damit der Ästhetik des heutigen Literaturbetriebs ähnlicher als vieles aus der Produktion des vormodernen neunzehnten Jahrhunderts.

Der Grund, aus dem Tobias Roths Übersetzer- und Herausgeberarbeit aber vor allem anderen empfehlenswert ist, ist sein Nachwort, das den heutigen Leser in den Stand setzt, Polizianos gelehrte Schweinerei adäquat zu rezipieren.

Angelo Poliziano · Tobias Roth (Hg.)
Sylva in scabiem // Wald aus Krätze
Übersetzung:
Tobias Roth
Hochroth Verlag
2016 · 32 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-902871-76-3

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