Postfaktisch
(1)
Seit diesem Jahr ist der Begriff des Postfaktischen in Gebrauch1, dessen Geschichte im Jahr 2004 begann, mit dem The Post-Truth Era von Ralph Keyes. Es ist kein glücklich gewählter Begriff, womit die Entwicklung bezeichnet wird, daß vermehrt Erregung Argumente ersetzt.
Erregung, die übrigens nicht jene des Volkes ist, sondern in diesem geschürt wird, durch das Berichten von Vorfällen gemäß einem Narrativ, das sich aus Ressentiments speist, welche wiederum durch die Art des Berichtens entstanden sein mögen … und durch ein verspätetes Fremdeln, nie rational beackerte Reflexe der Kindheit.
Ressentiments gegen das Andere. Die Fremden, natürlich, denen man vorwirft, sie würden sich nicht integrieren … worin? Wenn Kultur sich in Gleichheit erschöpft, wobei Assimilation noch als Unterwanderung dessen, was gleich ohne Maßstab sei (oder: jener der Stammeszugehörigkeit etc.), Quelle neuer Ressentiments ist. Ressentiments auch gegen die da oben, sie würden uns betrügen, was stimmen mag, wobei aber dennoch unklar ist, wer wir seien – und wer oben … Trump schaffte es dabei, sich als einer zu inszenieren, der unten sei, oder wenigstens solidarisch mit denen da unten, wogegen alles spricht, was er unternimmt.
(2)
Die Froschperspektive als pseudomoralische Vogelperspektive gefällt, vergessen scheinen die Zahlen, die eine andere Sprache sprechen, der Kapitalismus, gnadenlos genug, aber um seiner selbst willen durch Fluidität des Kapitals geprägt, also auch durch die Möglichkeit, sich zu unternehmen, wird unterdessen zum Feudalismus, worin Kapital brachliegt und so nur mit Blasen von einem in der Geschwindigkeit variierenden Kollaps dessen abzulenken ist, was als Kapital jedenfalls so zuletzt nur mehr virtuell war. All das vergessen. Gar kein Thema, was sich da systemisch abzeichnet.
Lösen kann man so keine der Probleme, über die man sich erregt oder andere sich erregen läßt, wobei der Clou in manchen Fällen ist: Es sind gar keine real existierenden Probleme – oder sie werden durch die Erregung dazu. Die Einwanderungswelle, schon das Bild vom Fluten drückt das Postfaktische aus, wäre keine, wenn Europa sich des Problems abgeregt annähme, das dann keines wäre, sondern bloß die Aufgabe, die Identität der Flüchtenden festzustellen und diese dann nicht in Griechenland festzusetzen, sondern auf Europa zu verteilen, in Quartiere, wo sie betreut werden – und eben integriert, wobei man dann fragen müßte, worin sie sich fügen sollen: was diese Kultur sei.
Postfaktisch schert man sich darum nicht, sondern profitiert von einer hysterischen Sprachlosigkeit, an der bezeichnend ist, daß der (scheinbare) Feind gar nicht mehr adressiert wird. Der Rechte, der hierzulande besonders das Postfaktische repräsentiert, entzieht sich dem Fremden – und ebenso dem Linken. Beide werden beschimpft, geschmäht, im Grunde erst erfunden, weil man sich der Faktizität und den Realien nicht mehr aussetzt. Wer wissen will, warum Rechte rechts seien, wird erfahren, daß schon diese Frage links sei, ein Anliegen gibt es nicht, jedenfalls nicht seitens der Erregten – die Erregenden, die Populisten also, haben indes ihre Agenda: eine Politik, die das Volk verpöbelt und die kleine Klientel derweil fiskalisch freundlich betreut.
(3)
Und das müßte man unermüdlich in Erinnerung rufen. Keine Blase oder Echokammer der postfaktischen Agitatoren funktioniert, wenn man fragt: Sind das Probleme, statistisch kontextualisiert? Und: Was ist die Lösung, außer eben ein Abreagieren aufgestauter Wut, deren Gründe nicht zwingend dort liegen, wo die Populisten sagen?
Wenn die flat tax etwa, von Rechten gerne gefordert, „weil sie in ihrer Einfachheit Geld spart”, offensichtlich zugleich bedeutet, daß die da oben, gegen die es doch zu gehen schien, in der Kapitalakkumulation begünstigt sind und die Umverteilung, die nicht eben primär eine an die Flüchtlinge ist, sondern vielmehr die Gesellschaft am Leben erhält, leidet, dann könnte es sein, daß auch social bots nicht mehr die Resonanz des Unsinns gewährleisten…
(4)
Ist postfaktische Politik vor diesem Hintergrund postfaktisch zu nennen? – Nein, postfaktisch ist ein Euphemismus … oder ironisch, was zweifach problematisch erscheint: Vielleicht denen nicht verständlich, die, wenn etwa Strache postfaktisch ist, glauben, er sei damit ein Trendsetter; und aus dem Begriff spricht ferner das Ressentiment des Bildungsbürgers gegen jene, die anders als er Ressentiments hätten… Wer also das Postfaktische postfaktisch heißt, bedient es vielleicht schon.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben