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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Annäherungen

Hamburg

Der Begriff „Gasometer“ bezeichnet einerseits ein Messgerät, mit dem der Druck eines Gases und der Gasinhalt eines Gasbehälters gemessen werden können. Andererseits werden als Gasometer jene oberirdischen, meist zylinderförmigen Industriebauten bezeichnet, die früher Teil jedes Gaswerkes waren und als Niedrigdruckgasbehälter zur Speicherung von Gasen dienten, um u.a. das Gasangebot in den Leitungen dem über einen Tag wechselnden Gasverbrauch angleichen zu können. Der Begriff „gazomètre“ wurde erstmals vom französischen Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier verwendet, der bereits 1789 einen Behälter zur Speicherung von Gasen entwarf. William Clegg, ein Pionier der Gasbeleuchtung, entwickelte 1815 den ersten Gaszähler. Der erste Gasbehälter in Deutschland wurde 1841 in Köln gebaut, unzählige andere wurden alsbald in Europa errichtet. Durch die rasante technische Weiterentwicklung wurden Gasometer im Lauf des 20. Jahrhunderts schließlich obsolet und viele ab den 50er Jahren abgerissen. Mancherorts besann man sich und bewahrte die Gebäude als architektonische Zeugen einer untergegangenen Industrieepoche. Sie werden heute zum Teil für kulturelle Projekte genutzt, sind technisches Kulturdenkmal oder dienen als Ausstellungsräume. Andere wurden umgebaut und dienen Büro- und Wohnzwecken. Und einige jener Gasometer blieben zwar stehen, doch ungenutzt sind sie dem allmählichen Verfall preisgegeben.

Die italienische Autorin Sara Ventroni ist fasziniert von Gasometern, mehr noch von untergegangenen Industriestandorten, dem Verfall der Gebäude und deren Rückeroberung durch die Natur, aber auch von Auswirkungen ehemaliger Industrien und Industrieanlagen auf die Umgebung. Bereits 2006 hat sie ihr Buch „Nel Gasometro“ vorgelegt, das 2007 in Italien mit dem „Premio Napoli“ ausgezeichnet wurde und nun in der Übersetzung von Julia Dengg in deutscher Sprache erhältlich ist.

Das Buch „Im Gasometer“ beginnt mit Gedichten, doch Ventroni legt keinen Lyrikband vor, sondern eine Collage verschiedener Textsorten, die durch Skizzen und Fotografien ergänzt werden. Der Titel lässt vermuten, dass wir uns „im“ Gasometer befinden, uns innen umsehen und aus dieser Innenperspektive auch nach außen schauen werden. Doch schon die „sprechenden“ Überschriften der vier Unterteilungen des ersten Kapitels „Im Gasometer“ weisen darauf hin, dass viele der Texte mit Gasometern nicht viel zu tun haben, assoziative Weiterschreibungen, Abstraktionen sein könnten: „schwerkraft, verdünnungen“, „heizer, akrobaten, astronauten“, die weltfabrik“, „aus dem Codex des Großen Glases“. Im informativen Klappentext erfahre ich:

Entstanden ist ... eine anregende literarische Meditation, in der sich der Erfahrungsraum zu einem Denkraum weitet.

Ich muss mein diesbezügliches Scheitern bekennen und schreibe dies nicht dem Buch, sondern meinem quasi automatischen Abschaltimpuls zu, sobald ich Ausdrücke lese, die ich nicht verstehe und mit denen ich, da mag ich sie drehen und wenden wie ich will, nichts anfangen kann. So stolpere ich im Gedicht „COSMIC“ über die Formulierung „keramiksysteme mit inter/metallischer matrix“. Ich begreife nicht, wovon hier die Rede ist. Und etwas später heißt es über „die waffengalaxie“:

... es gibt
die mit elektromagnetischem impuls
die blendlaser, quetsch
geschoße
die akustischen reize, nichtletalen minen
superklebstoffe, schaum, ultrarutsch
systeme, diverse chemikalien
die betäuben oder lähmen

Aufzählungen wie diese lassen sich im Buch etliche finden. Doch hier machen sie zu viele Fragen auf, auf die ich keine Antworten finde. Und die Fragen allein sind mir zuwenig. Was sind Ultrarutschsysteme? Welcher Schaum ist Teil einer Waffen“galaxie“ und wie funktioniert er? Muss ich googeln? Ein Handbuch der Waffentechnik zu Rate ziehen? Möglich, dass es sich hierbei um dichterische Abstraktionsbewegungen handelt, doch ich kann ihnen nicht folgen, es öffnen sich keinerlei Assoziationsräume, die mir die Verse für ein eigenes Nachsinnen oder Empfinden fruchtbar machen. Es mag durchaus mein persönliches Manko sein, doch diese und ihr ähnelnde Zeilen regen mich nur zur Feststellung an, dass ich sie weder anregend finde, noch dass sie mir ermöglichen, darüber zu meditieren. Es gibt für mich keinen Erfahrungsraum, der sich, im Sinn des Klappentextes, zu einem Denkraum weiten könnte. Wohl kann ich Schnipsel fassen, freue mich an einigen dichten Textstellen und bin erstaunt über wenige, recht platte Formulierungen. Ich lese vom Verfall von Gebäuden und menschlichen Körpern oder dem Zerfall der Sprache, kann ansatzweise auch Teile des poetischen Konzepts Sara Ventronis nachvollziehen, etwa wenn es heißt:

anno dazumal und jetzt, ein vergleich
der funktionsweisen

Ich registriere, dass ich bei der Lektüre kleinlich werde, stoße mich an Unplausibilitäten, die wie Stolpersteine im Weg liegen. Kann man ein Ventil „auswringen“? Warum in Gedichten mit konsequenter Kleinschreibung das Wort „Gasometer“ mal mit großem, dann wieder mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben wird, erhellt sich nicht. Sehr sparsam setzt die Autorin Satzzeichen ein, manchmal wundere ich mich über die Setzung. „Fragmentarisch“ wirkt dies, ja, ist vielleicht Absicht und Teil jener Annäherung, die im Klappentext behauptet wird:

Vielgestaltig in der Form ... vermessen Ventronis Texte die thematischen Möglichkeiten jenes ausgedienten zylindrischen Industriebaus, dessen Offenheit letztlich nur fragmentarisch beizukommen ist.

Manchmal jedoch finde ich Schnipsel, die meiner Lektüre eine andere Denkrichtung ermöglichen, etwa wenn es zu Beginn des Kapitels „aus dem Codex des Großen Glases“ heißt:

von der „perfektionierung der materie durch entfernen der seele aus den körpern“...

Nutzlose Gasometer als entseelte Körper zu betrachten, erscheint durchaus konsequent. Auch der Prosatext „Das Dollarloch“, eine Geschichte über aufgelassene Schwefelgruben in der Nähe Roms, von denen nur Industrieruinen blieben, erzählt vom Fehlen der ursprünglichen Seele. Statt eines regen, anstrengenden Lebens rund um die Schwefelgewinnung und -verarbeitung blieben „Mausoleen aus Alteisen, die nun ohne Kult sind“, doch der illegalen Lagerung von Atommüll dienen.

Im philosophischen Text „Die Prämissen – Conte philosophique – 1996-2006“ spürt die Autorin ebenfalls Entseelungen nach. Ausgehend von den rasanten Veränderungen Berlins seit dem Jahr 1999 wird ein weiter, konziser Bogen zur Kabbala gezogen, ein Bogen, der u.a. Walter Benjamin und Paul Klee, Hermann Melvilles „Moby Dick“ und Marcel Duchamps Werk „Großes Glas“ zusammenspannt, aber auch Ventronis langjährige Beschäftigung mit Gasometern. Dies ist für mich der interessanteste Beitrag und lädt in der Tat zum Weiterdenken ein.

Leider befinden sich im Buch auch ein mit Bleistift gestricheltes und viel zu klein gedrucktes „Storyboard für ein Video über den Gasometer“ sowie „Skizzen für eine Inszenierung mit Akrobatik“, die ich nicht ausreichend zu entziffern, schon gar nicht zu entschlüsseln und nur wie ein Bilderbuch durchzublättern vermag, weil ich des Italienischen nicht ausreichend mächtig bin, um die nicht übersetzten Anmerkungen ergründen zu können. Die eingestreuten Fotos verlassener Industrielandschaften überzeugen mich weder als Bebilderung noch als Kunstwerke. Sie bleiben zweidimensional, ohne Tiefe, sind unscharf und schlecht belichtet. Dies mag allerdings auch an der Druckqualität und dem verwendeten Papier liegen.

Und so kehre ich ein wenig ratlos zum Anfang des Buchs und zum Gedicht „Im Gasometer“ zurück, in dem es heißt:

...der Gasometer, der zeit unterstellt
ist nicht vers und nicht sinn und nicht raum

Doch was ist er, frage ich mich. Bei Ventroni fand ich hierfür keine Antwort.

 

 

Sara Ventroni
Im Gasometer
Aus dem Italienischen von Julia Dengg
Edition Korrespondenzen
2016 · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-902951-13-7

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