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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Furcht und Staunen

Hamburg

Hundeliebhabern wird ja nachgesagt, sie seien extrovertiert, unkompliziert und konventionell. Ray, der Protagonist in Sara Baumes Debütroman ist nichts von alledem. Der Sonderling, der alleine im schäbigen Haus seiner Eltern lebt, verkörpert das Klischee der „Katzenpersönlichkeit“, ist er doch zurückgezogen, eigenwillig und misstrauisch. Als Endfünfziger findet er sich „zu alt, um noch mal von vorn anzufangen, und zu jung, um aufzugeben.“  Einer Arbeit geht er nicht nach, seine Tage verbringt er lesend und rauchend. Den Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern auf ein absolutes Minimum beschränkend, betrachtet er vom Fenster aus das Treiben in der Bucht von Tawny, einem Ort im äußersten Norden Irlands.

Als sich Ray ein Jahr nach dem Tod seines Vaters einen Hund aus dem Tierheim holt, um der Rattenplage auf seinem Speicher ein Ende zu bereiten, ist auf Anhieb klar, dass er im Vierbeiner Einauge nicht etwa ein Nutztier, sondern einen Seelenverwandten gefunden hat. Den Hund und seinen Besitzer eint ihre Erfahrung mit Schikane, Traurigkeit und Einsamkeit. Von einem klassischen Besitzerverhältnis kann aber eigentlich nicht die Rede sein: „Ich habe dich unabsichtlich abgerichtet, aber auch du hast mich abgerichtet“, sagt Ray zu seinem neuen Freund einmal. In einem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die beiden allerdings: Ist Ray genügsam und lethargisch bis hin zur Handlungsunfähigkeit, erkundet Einauge neugierig und unverzagt seine Umgebung – und verhält sich dabei auch offen aggressiv. Als sich die Angriffe auf Menschen und andere Hunde häufen, sind die beiden gezwungen, ihren Lebensraum immer weiter einzugrenzen, bis eines Tages eine Polizistin vor der Tür steht. Ray bricht noch am nächsten Morgen mit dem Hund auf. Ihre Flucht führt quer über die grüne Insel, deren karge Landschaften nicht mehr viel mit anheimelnder Kerrygold-Idylle zu tun haben.

Seinen (Unterhaltungs-)Wert bezieht der poetische Roman nicht aus Handlungsreichtum oder aus einem großen Aufgebot an Figuren. Baumes Erstling enthält viel Alltagsbeschreibung, viele Wiederholungen. Wer sich darauf einlassen kann und will, wird mit einem ungewöhnlichen Leseerlebnis belohnt.  Es ist ein Buch, für das man sich Zeit nehmen muss, das einen herausfordert, genau hinzuschauen, sich eben jenen „kleinsten, stillsten Dingen“ zu widmen, die Ich-Erzähler Ray mit geradezu besessener Detailverliebtheit aufzählt und teils auch archiviert. Unkraut ist bei ihm nicht gleich Unkraut, sondern Ruprechtskraut und Wolfsmilch; auch Einauges Beute verlangt nach einer exakten Gattungsbestimmung. Gerade wegen der stark deskriptiven Stellen hat das Buch durchaus seine Längen. Unmöglich zu ignorieren ist allerdings die Spannung, die den Roman wie eine Unterströmung durchflutet. Wartet man darauf, dass „etwas“ passiert, läuft man Gefahr, das stetige, bedrohliche Rauschen dieser Unterströmung zu überhören.

Und dennoch bereitet auch die vage Andeutung von Unheil kaum auf das Ende vor, wenn die Autorin in einem dramaturgischen Geniestreich Vergangenheit und Gegenwart ihres Protagonisten kunstvoll zusammenführt. Wie Baume die Handlung – wenn auch in gemächlichem Tempo - vorantreibt und gleichzeitig Rays an Einauge adressierte Anekdoten als strukturierendes Element einwebt, ist so simpel wie genial. Je weiter ihn sein Weg vom Elternhaus fortführt, je näher kommt er seiner Vergangenheit und dem einzigen anderen Protagonisten in seinem Leben: seinem Vater. Bis jener „kritische Punkt“ erreicht ist, darf man sich an Baumes unverbrauchter, natürlich klingender Sprache erfreuen. Und an ihrem reichen Wortschatz sowie den philosophischen Bemerkungen Rays, dem erst sein Hund kindliches Staunen über Mensch und Natur beigebracht hat. Ein Beispiel: Irgendwo auf dem Weg durch das Inselinnere macht Ray Einauge auf eine tote Dohle aufmerksam -

„Wir sind eben an ihr vorbeigekommen, in dem vom Schwan verursachten Stau. Ihr Schnabel war zerbrochen, ihr Gehirn hervorgequollen. Warum hat niemand wegen der Dohle gehalten? Weil ein Schwan wie ein Brautkleid aussieht, darum. Während die Dohle wie ein Müllbeutel aussieht. Weil das die Maßstäbe sind, nach denen die Leute Leben beurteilen.“

Solche Beobachtungen zwingen einen förmlich zum Innehalten. Zugleich erklären sie in gewisser Weise Rays Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen, jene als schemenhafte Randerscheinungen skizzierten Figuren, die Rays und Einauges hermetisch abgeriegelte Welt zu bedrohen scheinen. Leider stattet auch Baume - eine kleine Spoilerwarnung an dieser Stelle - ihre Figur des Außenseiters mit psychopathologischen Auffälligkeiten aus. Das zementiert das Klischee des neurotischen oder gar psychotischen Einzelgängers. Selten wurden aber Außenseitertum und soziale Isolation so anrührend und aus solch komplexer Innensicht beschrieben.

Die Autorin, die sich selbst einmal in einem Interview als „alte Seele“ bezeichnete,  schreibt nicht nur mit erstaunlicher Reife, sondern auch unglaublich anschaulich. Zumindest letzteres sollte nicht verwundern, immerhin studierte die 1984 als Tochter einer Irin und eines Engländers zur Welt gekommene Baume neben Creative Writing auch Kunst und Design. Dass sie die bildende Kunst nie wirklich beiseitegelegt hat, erfährt man unter anderem auf https://sarabaume.wordpress.com/. Der Blog der bekennenden Internethasserin endete im Januar 2013 vorläufig mit den Worten: „Now with the time you might have spent reading the crap on my blog, you can go forth and plant bulbs instead.“ Nein, Baume ist noch immer keine Freundin des Internets - und ihre Liebe zur Natur und zum Handwerk merkt man auch ihrem Debütroman an. Im Übrigen macht die erfrischend unverblümt auftretende Schriftstellerin/Künstlerin auch kein Geheimnis daraus, dass ihr eigener einäugiger Hund für Einauge Modell stand. Mit Ray hat Baume wiederum eine Figur geschaffen, die als Vehikel ihrer eigenen Einsamkeitserfahrung und ihrer Liebe zum Vierbeiner dient. Es klingt absurd, aber die Beziehung ihres Protagonisten zu seinem Hund ist in ihrer Darstellung tiefschichtiger und komplexer als so manche zwischenmenschliche Beziehung im Gegenwartsroman.

Dieses Buch ist nichts weniger als erschütternd. Man lese es auf eigene Gefahr.

Sara Baume
Die kleinsten, stillsten Dinge
Übersetzt von: Dirk van Gunsteren
Rowohlt
2016 · 288 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-498-05811-1

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