Heilige Fregatte
Irgendwo zwischen Paradiesvogel und Schnapsdrossel wird sie beschrieben, Mazie Phillips, die von 1897 bis 1964 tatsächlich gelebt hat. Zur Zeit der großen Depression nach dem New Yorker Börsencrash hatte sie begonnen, Obdachlosen zu helfen, sie versorgte sie mit Decken, Zigaretten, Schnaps, rief den Krankenwagen, wenn sie fast erfroren waren. Die New Yorker Schriftstellerin Jami Attenberg, übersetzt von Barbara Christ, setzt ihr nun ein literarisches Denkmal mit dem Roman „Saint Mazie“.
In einer Rahmenhandlung wird Mazie von einem Verleger nahegelegt, ihr Leben aufzuschreiben. Zu dieser Zeit ist sie bekannter als der New Yorker Bürgermeister. Das Ergebnis enttäuscht den Verleger: „was sie mir letztendlich lieferte, war unbrauchbar“. Später hörte er von ihrem Tagebuch, das elektrisierte ihn, aber er bekam es nicht zu lesen. Das hatte ein Mann gefunden, der im O-Ton zu Wort kommt, wie etliche andere Personen auch, ein Hobbyhistoriker, ein Nachbar von Mazie, ihre Schwester Jeanie, der Sohn ihres Liebhabers und die Urenkelin eines Kinobesitzers, Geschäftspartner von Mazie. Die Interviews mit ihnen suggerieren Authentizität, wie auch das Tagebuch Mazies, das eigentliche Medium des Romans.
Ein faszinierender Griff der Schriftstellerin, dem gesamten Material des Romans einen Anschein von Dokumenten zu geben. Dies ist nicht neu, es sei nur an den preisgekrönten Roman Angela Steidels „Rosenstengel“ erinnert, der auch mit „fiktiven Dokumenten“ arbeitet und der sich ebenfalls um eine reale Person rankt. Tatsächlich liegt dem Roman ein Essay über Mazie zugrunde, wie Attenberg in ihrer Danksagung schreibt. Möglicherweise ist diese Materialaufbereitung ein Zugeständnis an die Vorliebe der Leserschaft für „wahre Geschichten“. Wer nicht genau hinschaut, hält alles für wahr. Das Tagebuch, die Aussagen der „Zeitzeugen“, die Fiktion sind, wie das Tagebuch selbst. Mazies Tagebuch beginnt mit ihrem zehnten Lebensjahr und endet 1939, da ist sie 42 Jahre alt und schon eine Berühmtheit. Es sind kleine Lesehäppchen von meist nur einer halben Seite, unterbrochen von den „Interviews“. So braucht es eine Weile, bis sich ein Lesefluss herstellt. Mazie lebt bei ihrer älteren Schwester Rosie, die mit dem Kinobesitzer Louis verheiratet ist. Die jüngere Schwester Janie geht bald aus dem elternlosen Haus – tanzen, in Varietees und schließlich als Stripperin. Mazie bleibt ihr Leben lang in der „Zelle“ eines Kinokartenverkaufs im Kino ihres Schwagers gefangen. Sie kommt nicht raus. Die Welt kommt zu ihr. Besonders in Gestalt des Captains, der in unregelmäßigen Abständen mit ihr ins Bett geht, zwischendurch schickt er von seinen Reisen Ansichtskarten, die sie in ihrer „Zelle“ an die Wand piekt. Jahrelang zieht sie nach dem Tod des Schwagers, der sich als Krimineller herausstellte, mit der Schwester, deren Geist gelitten hat, von Wohnung zu Wohnung, getrieben vom Verfolgungswahn der Schwester. Alkohol und schnelle Liebschaften sind die einzige Abwechslung zwischen Kino und dem tristen Leben mit der kranken Schwester. Und von Zeit zu Zeit der Captain, ihre einzige Liebe, dessen Kind sie verloren hat. Eine Zeit lang ist ihr die Nonne Te nahe, der zuliebe wird die jüdische Mazie katholisch und geht zur Beichte. Te rät ihr, vorher die Zähne zu putzen. Mazie antwortet auf die Missionierung der Freundin, indem sie ihr origineller Weise einen Stapel zerlesener True Romances schenkt. Mehr Humor gibt´s auf den 370 Seiten leider nicht. – Einige der Interviewpartner der unsichtbaren, ungenannten Interviewerin vervollständigen das Puzzle der Geschichte oder umgekehrt erfahren sie aus Mazies Tagebuch etwas über sich, wie der Nachbar George, mit dem Mazie ebenfalls eine Liebesbeziehung hatte. Über den Sohn des Captains erfahren wir und Mazie selbst, wie wichtig Mazie im Leben der Familie des Captains war. Etliche der anderen Personen liefern nur Zeitkolorit und den Anschein von Historizität, ohne dass dies zum Fortgang der Geschichte beiträgt. Letztendlich ist es ein Rührstück. Eine Frau, die selbst Schweres im Leben erfahren hat, die Eltern früh verloren, kaum Liebe bekommen, wendet sich den Armen, Hilflosen, Obdachlosen zu. Nimmt sie ernst, gibt ihnen mit einem Stück Seife ein Stück Würde. Bietet ihnen einen Schlafplatz für zwei Stunden in ihrem Kino, bis es mit dem Geschäftspartner Ärger gibt. – Ich bin selbst etwas hilflos über die Erkenntnis: warum sind Geschichten von „Guten“ am Ende langweilig? Warum sind Heiligenlegenden – wenn auch wie hier gut aufbereitet – nicht so spannend wie die anderen Geschichten, von bösen, gemeinen Schuften, vom anderen Ende sozusagen? Im Mittelalter waren die Märtyrergeschichten die eigentlichen Geschichten, die die Menschen berührten, der heilige Sebastian von des Feindes Pfeilen durchbohrt. Vielleicht sind wir verwöhnt und wollen Märtyrer sehen. Heilige reichen uns nicht. Da hilft es auch nicht wirklich, wenn die alte Mazie von den fiktiven „Zeitzeugen“ als Fregatte mit großen Brüsten, mit vom Blondieren kaputten Haaren, vom Alkohol zitternd beschrieben wird und – eher peinlich – immer noch sexuell anziehend. Zu offensichtlich soll der Heiligenschein ein paar Beulen bekommen.
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