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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Aus einer anderen Zeit gefallen

Friedhelm Kemps Essays durchforsten die Weltliteratur
Hamburg

Friedhelm Kemp war offensichtlich ein Mann, der in einem heute kaum noch vorstell-, geschweige denn realisierbaren Sinn mit, in und für Literatur gelebt hat. Gleichsam wie Botschaften aus einer anderen, einer Zeit der paradiesischen Gelehrsamkeit und weitgespannten Bildung kommen seine Essays auf uns, als eine Aufforderung, das genußvolle Wagnis der Lektüre einzugehen, aber auch als mahnendes Dokument dessen, was vor nicht allzu langen Jahren in den deutschsprachigen Zeitungen, in denen viele von Kemps Texten zuerst veröffentlicht wurden, für ein intellektuell herausforderndes Niveau möglich war und, andererseits, als eine ernüchternde Bilanz seiner auf halbem Wege an kulturell-politischen Veränderungen gescheiterten ambitionierten Herausgeberprojekte.

Die beiden Bände der „Geselligen Einsamkeit“, die nach vorsichtiger Einschätzung des Herausgebers Joachim Kalka nur ungefähr ein Viertel seines Werks umfassen, decken ein erstaunliches literarisches Territorium ab. Prokop von Templin, ein Barockprediger, dessen Gedicht von Brentano für „Des Knaben Wunderhorn“ bearbeitet wurden, Rudolf Kassner, Theodor Däubler, Rudolf Borchardt, Peter Gan, Gertrud Kolmar, Konrad Weiß sind einige der deutschsprachigen Landmarken, ebenso wie manche heute Vielen nicht mehr ganz so vertraute Namen: Ewald von Kleist — „kein großer, aber ein höchst liebenswürdiger und ein echter Dichter“ — , Johann Heinrich Füssli, Otto zur Linde, Regina Ullmann und Arno Nadel. Und natürlich fehlen die französischen Autoren nicht, die Kemp zum Teil auch selbst übersetzt hat, u.a. Yves Bonnefoy, Philippe Jaccottet, Saint-John Perse, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und René Char. Es fällt schwer, angesichts der vielen Namen nicht in bibliomane Verzückung zu geraten. Bekanntes neu ins Bewußtsein zu rufen und zu Unrecht vergessenen Namen eine posthume Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, scheint Kemps vornehmliches Anliegen zu sein, stets mit der Verve des Enthusiasten, mit forciertem Urteil, aber ohne die schulmeisterliche Arroganz eines ihm darin durchaus verwandten Arno Schmidt.

Diese Essays stellen natürlich schon allein ihrer profunden Kennerschaft wegen ein pures Lesevergnügen dar, doch erfreuen sie darüber hinaus immer wieder durch eingestreute Betrachtungen allgemeinerer Natur. So findet sich etwa in dem Essay über den Nutzen der Bibliothek und die daran geknüpfte Verwendung des Zitats bei Michel de Montaigne, Robert Burton und Peter Gan die folgende Reflektion eingeschaltet:

Klugheit, rechte Meinung, Erbauung und Nutzen — ein Autor, der uns dem näherbringt, verdient gelesen zu werden und deshalb in unserer Bibliothek Aufstellung zu finden. Ein Autor soll uns fördern (warum eigentlich nicht? warum sind wir so erpicht darauf, unverbesserlich zu bleiben?); die Bücher sind stumme Ratgeber, und als solche werden sie exzerpiert, werden ihre Kernsprüche von Generation zu Generation weitergegeben; ja, indem diese in den Wortgebrauch eingehen, werden sie sprichwörtliche Redewendungen und hören damit auf, strictu sensu Zitate zu sein.

Ob als Herausgeber von Anthologien oder thematischen Buchreihen, ob als Rezensent oder Übersetzer, immer ging es Friedhelm Kemp in erster Linie um Vergegenwärtigung der Literatur, auch und gerade der älteren und ältesten; denn die Literatur hält, wie es im „Plädoyer für das Lesen“ heißt, dem Lesenden „die Gipfelmomente des Überblicks, des Überschwebens“ bereit, für die allerdings die, von Kemp mit heftigem Unverständnis und Kopfschütteln diagnostizierte, sozusagen selbstverschuldete Geistesträgheit überwunden werden muß. Nicht die Literatur habe sich nach dem Leser und seinem Bedürfnis zu richten, sondern  der Leser nach der Literatur. Spöttisch mahnt Kemp:

Noch nie vielleicht war es ihm [= dem Leser] so leicht gemacht, in den Besitz dieses Buches zu gelangen, und so schwierig zugleich, den Zugang dazu zu finden. Man sät Verdacht, streut Verleumdungen gegen die Literatur, die Dichtung aus (das „Hohe“, „das Edle“, „das Schöne“ — nichts als Lüge und Heuchelei!), im Namen einer kritischen Aufklärung macht man das erfahrungslose Bewußtsein eitel und fordert es auf, sich als Instanz zu gebärden: „Verlange von jedem Kunstwerk, daß es verständlich sei, und zwar für Dich und für Leute, die womöglich noch weniger davon verstehen als Du.“ (Verständlich für Dich, der Du wenig verstehst, und für solche, die noch weniger als wenig ... warum nicht gleich für solche, die gar nichts davon verstehen?)

Kemp wendet sich, wo es ihm nötig scheint, beharrlich gegen festgefahrene germanistische Theorien und Instanzen; scheut sich nicht, dezidierte Meinungen zu vertreten, selbst wenn sie nicht immer à la mode sind; und fährt manche Spitze auf, die zunächst einen vorwiegend polemischen Eindruck macht, bei genauer Betrachtung aber mehr und mehr an Objektivität gewinnt, so die Behauptung, daß die deutsche Leserschaft von heute (soweit sie Gedichte zur Kenntnis nimmt) insbesondere auf Importartikel französischer und anglo-amerikanischer Provenienz eingeschworen ist und von Erzeugnissen des eigenen Bodens nur für international anerkannte Spitzenmarken mit kosmopolitischer Blume, wie etwa Rilke oder Gottfried Benn, einen Geschmack besitzt.

Dieser Befund scheint irgendwann in den letzten zwei, drei Jahrzehnten verfaßt, erschien aber tatsächlich bereits 1952 in einer Zeitschrift. Auch wenn man sich Kemps Urteilen vielleicht nicht in jedem Fall uneingeschränkt anschließen mag, sind sie doch stets erhellend und geistweitend, so daß sie jenen Respekt einflößen, den eine aufrechte Haltung gegen den Strom verdienen sollte. Kluge Deskriptionen verzwickter Zusammenhänge, ein Füllhorn hübscher Einzelheiten, Hinweise auf Entlegenes und Verborgens halten die allermeisten Essays bereit, und wo nicht bereits geschehen, können Kemps Empfehlungen helfen, die Lücken der eigenen Bibliothek zu schließen oder diese gar erst nach seinen Schwerpunkten aufzubauen. Man wird dabei kaum einmal fehlgehen, selbst wenn man berücksichtigt, daß auch Kemp nur einen Teil dessen beackern konnte, was den enzyklopädischen Geist vergnügt, und manche Bereiche Anderen, vielleicht Berufeneren überläßt, überlassen mußte und wollte, die amerikanische oder skandinavische Literatur beispielsweise, die Antike, das dokumentierende Schrifttum. Eines steht jedenfalls fest: Kemps gesammelte Essays können mal Leitfaden sein, mal Auffrischung — unverzichtbar darin allemal.

Oder noch einmal, in Friedhelm Kemps eigenen Worten:

Literatur wird also für jeden ein eigener Bereich sein, für jeden führt ein anderer Weg zu ihr. Auf Ratschläge zu hören, Wegweisern zu folgen, wird sich anfangs als tunlich erweisen; auf eigene Faust wandert nur, wer ein Gelände kennt. Nur soll man sich nicht durch Waldgespenster schrecken lassen: Der große Goethe hinterm Busch ist kein Menschenfresser, nur weil er ein vielfach gestuftes hohes Deutsch schreibt.

Friedhelm Kemp · Joachim Kalka (Hg.)
Gesellige Einsamkeit | Ausgewählte Essays zur Literatur
Hg. und mit einem Nachwort von Joachim Kalka
Wallstein Verlag
2017 · 864 Seiten · 39,90 Euro
ISBN:
978-3-8353-1693-5

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