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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Starke Ausgabe, vor allem für Freunde von Verdichtung

Einblicke in die 146. Ausgabe der Lichtungen
Hamburg

Eröffnet wird die 146. Ausgabe mit einem stillen, schönen Gedicht des 2016 verstorbenen Dichters und Übersetzers Fabjan Hafner, ihm zum Dank und Gedenken gewidmet.

Der erste Text der Ausgabe sind die „Sprüche der Russen“ ein Aphorismus-, Gedicht- und Stimmenkonvolut, dessen Fokussierungen von sehr menschlichen Momenten und Tönen bis zu bedrohlichen und archaischen Bildern reichen. Im Untertitel heißt die Auswahl „Sprüche der Unordnung. Sprüche der Eifersucht. Sprüche der Ohnmacht“ und die darin angedeutete Zerrissenheit, das sich-Abstoßen, die Befremdung, sie sprechen aus diesen versammelten Schnipseln, die trotz ihrer Kürze meist eine sehr starke Eigendynamik entfalten.

Reinhard Lechners Gedichte ziehen manchmal fast zu viel heran, um ihre Bilderwelten aufzubauen. Die Eindringlichkeit, mit der sie voranschreiten – geradezu die Neigungen glättend, die sich entwickeln – treibt das Leseerlebnis gleichzeitig zusammen und auseinander, bricht es in Stücke. Aber gerade das erste Gedicht hält gelungen die Waage und weiß um den Punkt, an dem ein lyrisches Kreisen sich niederlassen kann.

Allerlei nette Einfälle, die ein unterhaltsames Erzählen gewährleisten, inmitten von Reisfeld und Raumstation, die an einem negativen Ort aus dem Boden gestampft wurden, während Brutus, seines Zeichens Westentaschenprotagonist, zusieht, schläft und denkt. Alexander Micheuz Text, eine „Naive melody“, hat in der Tat etwas von einem Abgesang, der von Anfang an als solcher angestimmt wird. Alles Aufhebens dazwischen ist ein wenig lächerlich, ein wenig tröstlich – und so wirkt der Text dann auch: komisch und versöhnlich.

Sie haben etwas Mutiges, etwas Ausgerissenes, die Gedichte von Jan Decker. Gleichzeitig versteigen sie sich. Der erste Absatz, die ersten Zeilen, sind oft sehr stark, wie der erste Blitz oder Donner eines Gewitters. Nur bei einem Gedicht „In Frankreich küssen sie auf der Hauptstraße“ hatte ich das Gefühl, dass das Gedicht eine runde Sache ist und sich nicht in einer sich einspielenden Zuspitzung verliert.

Detailreichtum: Güteklasse A, eine sehr sichere Erzählstimme, in der sich ein Familienalltag ausbreitet und die Geschichte um die Tochter „Valentina“ kreist. Sara Magdalena Schüllers Auszüge einer Erzählung haben Sinn für kleine Phänomene und eine Art den Lesenden direkt in ein Näheverhältnis zu den Figuren zu verstricken, was mir beides sehr imponiert hat!

Durchzogen von einer schimmernden Plastizität, einer greifbaren, von der Wirklichkeit beatmeten Stimmung, setzen Sandra Hubingers Verse ihre Schritte durch die Endlichkeiten einiger (Natur-)momente. Aufgetragen werde Wärme und Kühle; sanfte, schmale, aber dennoch deutliche Kontraste erzeugen Vertiefendes. Es ist eine ganz eigene Form der Klarheit die aus diesen Gedichten erwächst. Eine eindrucksvolle, sensible Kunst!

Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, verwandeln wir sie in Kunst,
wenigstens eine Predigt wollen wir denen hinterlassen,
die nach uns kommen.

Luljeta Lleshanakus Gedichte (übersetzt aus dem Albanischen von Andrea Grill) greifen hier und da zur großen Metapher oder besser gesagt: zur großen Metaphorik, tummeln sich ein bisschen in ihren Bilderwelten. Es ist in jedem Fall immer eine weite Sicht, die aufkommt, eine Perspektive mit langen Fluchtpunkten, die angelegt wird. Doch im Grunde bleibt die Sprache sehr bodenständig, griffig, hat sogar ein bisschen etwas von Kalkül. In jedem Fall gelingt ihr eine beschwörende Dringlichkeit, die das Leseerlebnis im Lesenden zurücklässt.

Im Prinzip tanze ich
lange und ausgiebig und
mit nichts bekleidet als
einem Stempel des
Absenders.

Es ist die Direktheit, fast schon eine gewisse Unnachgiebigkeit, die mich in den Gedichten von Ines Berwing beeindruckt, ja begeistert. Auch die Sicherheit im Formalen, das Abgerundete darin, überzeugt. Und immer wieder legt sich die lyrische Stimme nicht fest, sondern entwickelt sich auch innerhalb des Gedichts noch weiter, rüttelt an ihren eigenen Vektoren, knackt mit Bildern und Wendungen den Code, durch den sie verschlüsselt war. Rutscht in eine Dichte, die vorher noch verstreut lag. All dem noch beigemengt: eine leichte Virtuosität. Ergibt: großartige Lyrik.

Der Tod holt uns alle irgendwann ein – aber vorher kann uns auch das Leben einige Male einholen. In Rouven Hehlerts knapper, unaufgeregter Erzählung geschieht dies durch ein Foto, das der Protagonist, der mit einem Freund zusammen im Urlaub ist, in der Zeitung erblickt. Es zeigt das Gesicht einer ehemaligen Mitschülerin, die damals von der ganzen Klasse aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes schikaniert wurde. Sie hat es weitgebracht und wurde nun bei einem Überfall erschossen. Das wirft die beiden nicht wirklich aus der Bahn, ein Kuriosum, die Welt kann halt mal kurz zum Dorf werden. Doch den Protagonisten lässt es nicht ganz los. In non-aggressiver, naturalistischer Manier gelingt es dem Autor, die leichte Verstörung anzudeuten, die sich in ihm breitmacht. Sie spricht vom Leben und seinen Wegen: beide gewöhnlich und gleichsam ungewöhnlich, unspektakulär und doch mit tieferliegenden Causae verdrahtet, die manchmal, durch einen kurzen Reflex der Wirklichkeit, an die Oberfläche steigen. Die Darstellung eines solchen Momentes gelingt Hehlert hervorragend.

Profan ist das erste Wort, das mir zu Wolfgang Müller-Funks Gedichten einfällt, die einige Momente eines Indienaufenthalts einfangen. Ich habe per se nichts gegen Dokumentationslyrik. Aber sie hat mich bisher selten vom Hocker gerissen. Auch diesmal nicht.

Es braucht Literatur, die ein bisschen fassungslos macht, die sich in unwirklich scheinende Wirklichkeiten begibt. Und da ist man beim Text von Jonis Hartmann an der richtigen Adresse. Die kurze Geschichte über einen Jungen, dessen Mutter sich im Keller umbringt, dessen Gemütszustand aber unter diesem Verlust nicht wirklich leidet, ist konsequent dahinerzählt und dadurch auf unheimliche Weise nachvollziehbar, man fühlt sich ein bisschen mitentfremdet. Man will sie abschütteln, die Wirkung, die diese Geschichte auf einen hat – das heißt aber auch, dass sie sehr nah herangekommen ist und uns eine unangenehme Verdächtigung ins Ohr geflüstert hat. Feststeht: Jonis Hartmann ist ein sehr dichter, gut gebauter Text geglückt.

Ich finde, dass es sich so manches Gedicht von Manfred Chobot zu einfach macht. Ich schätze seine verspielten und investigativen Wortkohorten, aber irgendwie bleiben die Botschaften simpel, es wird zu wenig Dialektik aufgebaut. Was nicht die Raffinesse anzweifeln soll, die sich immer wieder in den Winkeln der Verse findet. Ob es um Facebook, Geflüchtete, oder auch Geschlechterverhältnisse im 21. Jahrhundert geht – vielleicht ist die Mehrzahl der Leser ja über die Einhelligkeit, mit der Chobot darüber referiert, einverstanden und ich will ihm auch nichts vorwerfen. Geschmacksache, könnte man sagen.

Schon der Romanauszug von J.M. Holland hat eine narrative Kraft, die nach wenigen Zeilen fesselt. Man merkt, dass sich der Autor nicht gerne mit unwesentlichen Dingen aufhält, aber ihm fallen noch genug wesentliche Dinge ein und er hat allem Anschein nach ein gutes Händchen für Dialoge und Figuren. Ein bisschen zu viel Dramatik bricht sich hier und da Bahn, aber das versalzt den Eindruck nicht.

sie mag die menschen nicht betrachten
das mädchen mit dem sternen-t-shirt glaubt nicht daran
dass es am tag blicke regnet

Nebensächlichkeiten, in den Fokus gerückt. Das Mitgeschleifte, bewusst Ignorierte, das wirr von den Gedanken absteht. Andreas Hutt gelingt in seinen Gedichten „stadt menschen“ die Darstellung der Befindlichkeiten hintern den Kragenweiten, den Gesichtern und Beziehungen. Es sind gelungene Miniaturen – nichts zum Verweilen gedacht, behaupte ich, man streift schnell hindurch und es ergeben sich kurze, dichte Innenansichten.

Wenngleich sie auch am Schluss etwas willkürlich kippt, ist Philipp Zechners Erzählung „Evlis in Ramallah“ dennoch eine anschauliche Geschichte aus dem Grenzgebiet zwischen Israel und Palästina, die in wenigen Szenen und mit wenig Personal einen Eindruck von einigen Lebenswirklichkeiten in dieser Weltregion vermitteln kann.

Ein gewisser Übermut, eine überspannende Worthandhabungsfreude, eine leuchtende romantische Ader, die von düsterem Gestein umgeben ist und die unterschiedlichsten Farben darauf wirft: Die Gedichte von Nils Neuhaus wollen unbeständig sein, ausreißen und hin und wieder gelingt es ihnen vortrefflich. Und auch die Einfachheit, die bei so vielen anderen Gedichten eher spröde wirkt – hier schillert sie, hier ist sie lebendig.

Reinhard Kleindl hat eine unterhaltsame Erzählung verfasst, die auf einem kleine Kniff basiert, den er dann gekonnt und ruhig durchzieht. Überraschungen bleiben allerdings aus.

Etwas zu frei rotierend, aber schöne Schräglagen zulassend, auch fähig zu tiefsten Verdichtungen: Die Lyrik von Verena Walzl lässt mich etwas verknotet und wenig gelöst zurück, aber ich bin ihre Zeilen öfter abgefahren als die der meisten anderen Gedichte in diesem Buch und stelle mit der Zeit zögernd fest, dass es Gedichte sind, in denen man ein wenig zur Ruhe kommen muss. Dann steigt noch einiges an die Oberfläche.

Eine sehr gelungene, unspektakuläre Erzählung hat Chiara Ducomble mit „Fuge“ verfasst. In sich abwechselnden Perspektiven wird eine Vater-Tochter-Beziehung geschildert: sie hat gerade ihre Zwischenprüfung an der Musik-Uni abgelegt, zu der er eigentlich kommen wollte, er ist aber gerade erst verspätet am Flughafen eingetroffen. Sie verpassen sich im Café, in dem sie eine Weile wartet und in dem er dann später ebenfalls kurz wartet – in Gedanken sind sie fast die ganze Zeit beim jeweils andern. Durch die unaufgeregte Erzählweise und die gelungene Strukturierungen des Textes, kann sich der Leser schnell in die Beziehung zwischen den beiden einfühlen.

Der Schwerpunkt liegt bei dieser 146. Ausgabe auf neuer Literatur aus Montenegro. Überrascht hat mich bei diesen Texten der teilweise sehr feierliche, erhabene, fast schon hochtrabende Ton. Ein großartiges Langgedicht namens „God bless America“ hat Aleksandar Bečanović verfasst, das eine wunderbare Postironie mit hinzugemischter Wehmut an den Tag legt. Auch gefallen hat mir der ruhige Ton in der Prosa von Ognjen Spahić in seinem Text „Den Kopf voller Freude“, in welchem er auch sehr gekonnt mit der inneren Perspektive arbeitet. Aus einem Gedicht von Pavle Goranović nehme ich folgende Zeilen mit:

Unsere Berührungen sind eingesperrt
zwischen zwei zerstreuten Leben,
in der Unruhe begonnener Träume.

Und aus Dragan Radulovićs Romanauzug den Satz:

Denn in diesen elf Hundejahren (die, wie man so sagt, zur Berechnung der Menschenjahre mit sieben multipliziert werden müssen) habe ich erst Folgendes gelernt: Die Wahrheit ist immer dort, wo auch das Opfer ist.

Es folgt eine, von Mitinitiator Robert Prosser vorgenommene, kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte und Idee der Plattform Babelsprech, die gleichzeitig eine Website und eine Veranstaltungsreihe und allgemein ein Netzwerk für die junge deutschsprachige Lyrik ist, aus der auch die Anthologie „Lyrik von Jetzt 3“ mit 84 beteiligten Autor*innen hervorging. Aus den Texten von acht Babelsprechautor*innen ist ein Netzwerkgedicht, eine Collage, entstanden, das ebenfalls abgedruckt ist. Obwohl ich die einzelnen Autor*innen Tim Holland, Sirka Elspass, Matthias Vieider, Elisabeth Steinkellner, Marko Dinic, Lydia Steinbacher, Afamia Al-Dayaa und Sascha Garzetti teilweise sehr schätze, finde ich das Mixgedicht nicht sehr überzeugend. Ich kann keinen Vorteil in dieser Form der Verschränkung erkennen, die teilweise recht planlos und nur lose verknüpft wirkt. Aber man sollte meine Meinung da nicht allzu hoch hängen, ich kann mit Collagenformen allgemein zumeist wenig anfangen.

Nach einem Bild-und-Gedicht-Teil mit Gesicht-Zeichnungen der Künstlerin Petra Sterry, die mir sehr gefallen haben (das Gedicht von Sonja Harter finde ich dagegen etwas lieblos), runden zwei Essays den Band ab: Severin Perrigs Essay zum „Phänomen des literarischen Terrorismus“ und eine Art Wortmeldung zu einem Werbeskandal von Boris Postnikov. Ersterer ist unterhaltsam und hier und da in seinen Ausführungen ein wenig redundant, während Postnikovs Text in seiner Kürze eine bestechende Analyse werbewirksamer Stereotypen ist.

Was ich schon in meiner Rezension zur vorangegangenen Ausgabe angemerkt hatte: die Prosatexte in den Lichtungen haben meist eine Bodenhaftung, etwas dem Leben Zugewandtes, das mir sehr zusagt. Diese Ausgabe ist aber vor allem wegen ihrer vielen, großartigen Lyrikbeiträge lesenswert. Insgesamt gilt wieder: Ich hab mich als Leser gut aufgehoben gefüllt, obgleich ich mit allerhand konfrontiert wurde.

Beteiligte Autor_innen der 146. Ausgabe Lichtungen nachstehend

Lichtungen 146/XXXVII. Jg.
Schwerpunkt: Neue Literatur aus Montenegro
Lichtungen
2016 · 10,00 Euro

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