Mein polyphones Schnattern ist das
2008 hat Mara-Daria Cojocaru mit dem Lyrikband „Näherungsweise“ debütiert und legt nun ihr zweites Buch „Anstelle einer Unterwerfung“ vor. Es enthält 9 Gedichtzyklen, die von zwei Gedichten gerahmt werden. Das Vorwortgedicht trägt den Titel „An die Nachgeborenen, /Anstelle einer Unterwerfung“ (Original in Großbuchstaben) und stellt mit den ersten Versen den Bezug zu Goethes Faust II (Der Tragödie zweiter Teil) her, in dem es heißt:
Herbei, herbei! Herein, herein!
Ihr schlotternden Lemuren,
Aus Bändern, Sehnen und Gebein
Geflickte Halbnaturen!
Mephistopheles ruft hier die Schattengeister Verstorbener herbei, als Faust im Sterben liegt. Cojocarus Eingangsgedicht spielt mit dem Begriff „Lemuren“, die Faust’sche Schattengeister sein könnten, hier jene bereits ausgestorbener Tiere. Gleichzeitig bezeichnet dieser Begriff vom Aussterben bedrohte Primaten aus der Gruppe der Feuchtnasenaffen, die auf dem Buchcover zu sehen sind und durch ihr nachtaktives Verhalten sowie ihre eindrucksvoll großen Augen durchaus Ähnlichkeiten mit Schattengeistern haben mögen. Während Goethes Lemuren allerdings leicht beantwortbare Fragen stellen, etwa „Wer hat das Haus so schlecht gebaut“, entzieht sich die auf den ersten Blick einfache Frage in Cojocarus Gedicht jeder simplen Antwort:
„Neulich die Lemurenfrage
Kritisch, einfach, weil vom Aussterben bedroht
Was ist los mit euch¹“
Als Fußnote lesen wir: „Und was heißt >Halbnaturen<“. Doch wer stellt diese Fragen? Ein Affe oder der Schattengeist eines ausgestorbenen Tiers, die sich gegen den Begriff Halbnatur wehren, dem Menschen? Oder ist es eine dritte Stimme, jene der Autorin, die diese Frage an die Lemuren stellt?
Cojocaru nimmt in diesen Gedichten ganz unterschiedliche Rollen ein, eignet sie sich an, erzählt und berichtet aus verschiedensten Blickwinkeln. Man kann hier durchaus vom „Anprobieren“ von Lebewesen sprechen, das Einnehmen animalischer Perspektiven, zu der sie die menschliche zählt, auf unsere Welt, Perspektiven allerdings, die stets menschliche sind und bleiben, auch wenn die Lyrikerin voll Empathie für eine Vielzahl von Tieren das Wort ergreift. Wir begegnen Hunden, Katzen, zahlreichen Vögeln, Fische, Elefanten, Pferden und Pinguinen, aber auch den kleineren und kleinsten wird Aufmerksamkeit zuteil, etwa der Panzerspitzmaus, Bienen, der Erzwespe, Schmetterlingen, einer Florfliege oder dem Regenwurm. Manche dieser Tiere sind bereits ausgestorben, einige vom Aussterben bedroht. „Wie schön war mit uns diese Welt“, der Titel des ersten Kapitels, weist durch die Wahl der Zeit bereits auf die Vergangenheit jener Schönheit hin und rückt das Vergehende hellwach in den Blick.
„Ich kann es nicht verstehen,
Ich spreche nur für mich“
lesen wir im Vorwortgedicht, das u.a. Unterwerfungsgesten und Liebeszuwendungen von Lebewesen litaneihaft aufzählt. So heißt es etwa „Ich dreh mich auf dem Rücken“, wenig später „Ich leg mich flacher auf den Rücken“, ein Verhalten, das auch in jener Steigerung nichts gegen Bedrohungen ausrichten wird. Es ist das „Ich“ der Lyrikerin, die nicht versteht, dies weder kann noch will. Sie reagiert auf ihre Weise und erhebt ihr Wort gegen Tragödien, die menschliche Schöpfungen nach sich ziehen. Sie spricht dabei für sich, gleichzeitig voll Empathie für all jene Lebewesen, denen sie ihre Stimme leiht: Wie erlebt ein Huhn die Massentierhaltung, wie ein Affe die Bedingungen in einer Versuchsanstalt, wie ein Fisch die Ölverschmutzung seines Lebensraums? Und wie verändern sich Ökosysteme durch menschliche Eingriffe, welche Auswirkungen haben Atomunfälle wie Fukushima und Tschernobyl auf Fauna und Flora der Umgebung? Auch historischen Katastrophen wendet sich Cojocaru zu, etwa dem Ausbruch des indonesischen Vulkans „Tambora“, der 1816 „Jahre ohne Sommer“ nach sich zog. In einem Gedicht in Sonettform mit dem poetischen Titel „Schneckenballett“ liegt irgendwo in Afrika ein Flugzeugwrack als „gestrandete Staatsqualle“, mit der Tier und Mensch umgehen lernen. Jüngere Entwicklungen finden ebenfalls Eingang ins Gedicht, zum Beispiel die Gentechnik oder Überlegungen, den Mars besiedeln zu wollen.
Auf Seite 43 des Buchs taucht erstmals eine bis zuletzt rätselhaft bleibende Figur auf, Herr Goselmanu, der wohl als Counterpart zur Lyrikerin zu begreifen ist. Er stellt eine seltsame Mischung aus Charles Darwin und einer Art Halbgott dar, über den im letzten Gedicht, dem Appendix, das Parlament der Eulen eine Verhandlung abhält.
Eines meiner Lieblingsgedichte heißt „Zwischenzeit“, das ich als Schlüsselgedicht lese und jene Zeit der Selbstermächtigung beschreibt, die vielleicht jedem dieser Gedichte vorausgegangen ist:
Es ist soweit; ich gleite von dem Farnblatt
Zwischen Wahn, Gedankenwedeln undWachen aus der Urzeit stehen bereit. Es ist das
Alte Halsband Angst, nicht Mensch nichtTier zu sein. Es ist das Privileg des braungefassten
Blicks, das mich vor allen in die Demut schickt„Es ist die Frage, die mir keiner stellt und doch
Die Antwort fordert, mich erhält. ...
Genaue jene wache Demut der Erkenntnis zwischen Lachen und Trauer ist es, die Cojocarus „Antwort“Gedichte atmen. Sie sind dabei niemals plump politisch oder agitatorisch, weder abgrundtief schwer noch von Romantizismen durchweht. Im Gegenteil: Cojocarus Stil ist nüchtern, sie greift Beschädigungen und Verluste auf, vermerkt sie akribisch, belegt mit Zitaten aus wissenschaftlichen Publikationen. Gleichzeitig hat die Lyrikerin große Lust am Spiel mit der Sprache. Es gibt Wortneuschöpfungen, originelle Beschreibungen
„Jede Kuh
Trägt ihre eigenen
Kontinentalplatten auf dem Fell“
herrliche Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen:
„Weiter durch die Landschaft grasen. Wo
Wir weilen, weinen, wir verwundert zweifeln ...“
Ein wesentliches Element ist Cojocarus Humor, mit dem sie die Schwere des Themas bricht. Dies gelingt nicht immer - es mag auch an meinem Humorverständnis liegen - am besten dann, wenn sie feine Ironie einsetzt, subtil, manchmal erst beim mehrmaligem Lesen bemerkbar. Auch Zeilen wie
„..., Krokuspokus, mir
Ist das alles Klunk und Plunder.“
kann ich durchaus etwas abgewinnen, doch manchmal geht mir der „Schabernack“ zu weit, driftet ab ins allzu Platte. Dies setzt sich fort in den Nachweisen am Schluss des Buches, die zwar manches, z.T. verulkt, auflisten, doch letztendlich viel zu wenig wichtige Informationen enthalten. Ich habe dies Buch erstmals im November gelesen, war nach der Lektüre verärgert und wenn ich mich nicht zur Rezension verpflichtet hätte, hätte ich es vermutlich nicht wieder zur Hand genommen. Das Buch ist durchsetzt mit fachsprachlichen Ausdrücken, die nicht im Glossar erläutert werden. Als Beispiel eine Zeile aus dem Gedicht „Bläuling“:
„Dai-ichi NPP”
Darunter ist zu lesen: Da wird nicht übertragen, ... Warum nicht? Ich habe, Rezensionsverpflichtung!, tagelang damit zugebracht, mich mühsam durch den Wust an mir unbekannten Ausdrücken zu quälen und sie mir zu übersetzen. NPP steht für Nuclear Power Plant, aha. Dai-ichi ist Fukushima, aha. SAF2 und SAF3 sind vermutlich Laborschimpansen, die Fußnote „Die Forscher um Herrn Goselmanu nennen sie, heimlich, Paola und Babette“ hilft mir nicht weiter, Google auch nicht. Und so weiter und so fort. Ich würde es begrüßen, den Lyrikband einer Philosophin, eines Biologen, einer Wirtschaftsfachfrau oder eines Juristen lesen zu können, ohne mich zuvor in deren Fachsprachen vertiefen zu müssen. Etwas großmütigere Hinweise im Glossar wären daher hilfreich gewesen, denn so spannend finde ich die Recherche nicht, schon gar nicht poetisch, sondern unnötig Zeit raubend! Hat man diese Hürden allerdings erst einmal übersprungen, bereitet die Lektüre dieses Buchs nicht nur Vergnügen, sondern wird mit jedem Durchgang interessanter und bereichernder, weil sich immer wieder Neues entdecken lässt.
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