Spüren, was man nicht sehen kann
Der Mensch als Käfer, das kennen wir von Kafka, intendiert das Cover von „Tiere für Fortgeschrittene“. Eva Menasses Erzählungen lesen sich gut. Schnell ist man in modernen Paarbeziehungen, Patchworkfamilien und Familien mit dementen Elternteilen. Jetzt und Hier. Man schaut hinein, wie es Tom, einer Frau, die auf diesem Männernamen besteht, geht, wenn sie mit den Kindern ihres Mannes und dem gemeinsamen Kind einen Cluburlaub in die Türkei plant. Man schaut ihr über die Schulter, wie sie aus den Angeboten gerade dieses auswählt. Ein etwas altmodischer Lunapark im Angebot erinnert sie an ihre Kindheit und den Freund, der unlängst verstarb. Von dem sie sich entfernt hat und der durch seinen Tod ihr wieder näher rückt. Der Urlaub in der Türkei mit seinen austauschbaren Versatzstücken – das immer gleiche Büfett, die kleinen Attraktionen für die Kinder – wird zur Kulisse für die wenigen Momente, in denen sich Tom an den verstorbenen Jugendfreund erinnert. Das fragile Projekt Patchworkfamilie bekommt eine Gleichgewichtsstörung, als der gemeinsame kleine Sohn in einem Kinderstreit die Halbschwester abkanzelt, sie gehöre ja nicht zur Familie. Auch diese Störung kann Tom wieder richten. Wie sie auch die Kleidung der Kinder ihres Mannes wieder in Ordnung bringt, bevor sie zur Mutter zurückkehren, damit es keinen Anlass zum Streit gibt. Alles gut gelaufen. Eva Menasse gelingt mit der Figur der Tom das Bild einer im Leben stehenden Frau, die durchaus eine Beziehung zu den Kindern ihres Mannes hat und stolz auf diese Familie ist, dennoch kritische Blicke auf die Mitcluburlauber wirft oder sich von einem alten Herrn angezogen fühlt, der sie verwechselt hat. Die Figur dieser Erzählung ist mittendrin und steht durch den Tod des Jugendfreundes gleichzeitig neben sich. Die Tiermetapher für diese Erzählung gibt den Titel der Erzählung: Schmetterling, Biene, Krokodil. In einer Zeitungsmeldung wird von Schmetterlingen und Bienen erzählt, wie sie an Pfützen Nährstoffe finden. Und diese auch in Tränen von Krokodilen finden, auf denen sie sich niederlassen. Jeder Erzählung ist eine solche Agenturmeldung vorangesetzt, deren Quelle im Anhang angeben wird. Eva Menasse gibt mit diesen Tiernachrichten die Botschaft, was in den Schichten der Erzählungen zu finden sein könnte. Die Bruchkanten des Lebens, die Membran vielleicht zwischen außen und innen. Mich erinnern diese Erzählungen an die junge Gabriele Wohmann, wie in „Bucklicht Männlein“. Wie sie schaut Eva Menasse weiter in die Menschen, schaut ihnen bei ihrem Tun zu und legt wie nebenbei das Eigentliche frei, das Darunter. Ob die Tiermetaphern, die allesamt für sich sehr spannend sind, in den einzelnen Geschichten immer aufgehen, bin ich mir nicht sicher. Aber sie sind ein überraschender Ansatz. Man könnte die Geschichten auch ohne die vorangestellten Tiermetaphern lesen, aber Menasse gibt ihnen damit eine weitere Dimension, einen Denkansatz. In „Opossum“ schauen wir einem Mann, einem erfolgreichen Regisseur, bei einer nächtlichen Autofahrt zu. Eine Fahrt schließlich durch seine Beziehung zu Isolde. Aus der er seine Kraft nimmt, ohne die er nicht der wäre, der er jetzt ist. Seine Verunsicherung zeigt sich in der nächtlichen Fahrt über Serpentinen, auf denen er sich von einem ungeduldigen Fahrer verfolgt fühlt, einem „Arschloch“ aus dem Gasthof, in dem er kurze Rast machte, wo er sich unwillkommen und störend fühlte. Am Ende schaut er einem sterbenden Reh in die Augen und ist erstaunt, dass es seinem Blick standhält. Eva Menasse bietet keine Erklärungsmuster an, ausgenommen die Agenturmeldungen. Dadurch bleiben die Geschichten in der Schwebe, es gibt kein vordergründiges Waswolltesieunserzählen. Die Unsicherheit ihrer Protagonisten überträgt sich auf den Leser, es ist eher eine Ahnung des Bruchs zwischen sich und der Welt, wie ich sie so am besten auch bei Gabriele Wohmann finde.
Die Settings sind dabei immer ganz bekannt, eine Mutter, die sich beherzt für ein gemobbtes Kind mit arabischer Herkunft einsetzt bis sie nicht mehr weiß, was die anderen denken oder meinen. Der Mann, der seine demente Frau pflegt und ganz erstaunt zusieht, wie dem Enkel, der sein eigenes Leben nicht auf die Reihe kriegt, den Ton findet, die unbefangene Art mit der Demenz seiner Großmutter umzugehen. Einzig die Geschichte „Schafe“ fällt aus dem Erzählmuster. Manchen mag sie an T.C. Boyles „Die Terranauten“ erinnern, was aber nicht sein kann, da Boyles Buch etwa zeitgleich erschien. Eine Gruppe alternativer Intellektueller lebt in einer Zwangsgemeinschaft offensichtlich unter Kontrolle in einer Art Kolonie, in die sie sich freiwillig begeben haben, aus der sie aber nicht mehr herauskommen. Ausgerechnet der Ich-Erzähler, ein Psychologe, wird von einem Kind als Verräter entlarvt. Das Experiment geht unter neuer, scheinbar liberalerer Leitung weiter. „Schafe“ hat einen anderen Ansatz als die anderen Erzählungen. Spielen die anderen durchaus in unserem Alltag, ist diese Geschichte ein interessantes fiktives Experiment. Alle Geschichten lesen sich mit großem Gewinn und öffnen das Gefühl in die Regionen, in die man nicht schauen kann.
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