Der Augenblick als wahrer Ort der Ruhe
Vielleicht erinnert sich mancher noch an die gar nicht einmal so fernen Zeiten, in denen Gedichte (und überhaupt jeder Text mit literarischem Anspruch) auf Mißstände hinweisen mußten und nur dann für tiefsinnig galten, wenn sich die Risse & Brüche der Gesellschaft in den Autoren bzw. Autorinnen widerspiegelte, als wäre ihnen selbst das Anrecht auf Glück nachgerade abgesprochen worden, als korrumpiere es ihre Redlichkeit irreparabel? Ich mußte mich während meiner Schulzeit und meines ganzes Studiums dieser arg beschränkten (und die Literatur einschränkenden) Haltung bis zum Erbrechen erwehren. Nun kann zwar die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Unglück mittels kathartischer Wirkung zu einem Zustand des Glücks führen, doch es gibt zweifellos andere — und weniger beschwerliche — Ursachen, warum Gedichte glücklich machen können.
Sprachliche Prägnanz, originelle Bilder, scharfe Beobachtungen, genaue Beschreibungen, spürsame Einblicke in menschliche Bedingungen und Konflikte usw. —: dies alles ließe sich als Beweis anführen, daß Gedichte die Leserin und den Leser beglücken können, ohne versponnen oder zerfleischend zu sein, und findet sich exemplarisch in Svenja Herrmanns neuem Band „Die Ankunft der Bäume“, der in der von Markus Bundi erfolgreich betreuten REIHE, dem großen Stützpfeiler der Schweizer Lyrik, erschienen ist. Hier überzeugt vor allem die Fähigkeit, den Lesenden mit nur wenigen Zeilen in einen Zustand zu versetzen, der sich irgendwo im wunderbar spannungsgeladenen Bereich zwischen meditativer Betrachtung und intellektueller Klarheit befindet. Ein paar Beispiele sollen im Folgenden diese suggestive Bildhaftigkeit der vergleichsweise kurzen Gedichte illustrieren.
Den Anfang nehmen die poetischen Erkundungen nicht selten bei einer Trouvaille, also dem, was (zufällig) gesehen oder gehört wird: „Über mir schweben Walskelette / an einem zierlichen Gerüst aus Eisen“, springt eines der Gedichte in eine nicht näher beschriebene Szene, hinter der man einen Museumsbesuch vermuten darf. Mit solchen sparsamen Strichen sind die meisten Szenen des Buchs entworfen, und das wenige Gesagte evoziert stets sehr viel mehr Ungesagtes. Die erlebte Gegenwart führt in die Vergangenheit des Betrachteten, manchmal auch weit in die des Betrachtenden hinein: „Ich sammle Staub / zu einer Nachricht / die mich hinzieht / zum Ursprung“, heißt es da einmal. Doch in beiden Gedichten ist das Vergängliche, das Relikt, das Zerfallsprodukt nicht negativ besetzt, sondern birgt das elementare Entstehen, das so charakteristisch ist für Svenja Herrmanns Gedichte, die selber wie aus leuchtenden Staubpartikeln zusammengesetzt zu sein scheinen.
Der Reduktion der sprachlichen Mittel entspricht eine Konzentration auf das wesentliche Moment: den anfänglichen Zustand der Bewegung, der in Stille und Ruhe endet. Das Verb ‚ziehen’ ist dabei recht prominent: „das Läuten der Glocken zieht / über das gewichtige Rauschen der Autobahn“, oder: „die Schwermut zieht über das Dach / und sinkt in alte Rosmarinbüsche“, oder: „Böen ziehen Flaschen ruckweise / wie an farblosen Fäden“. Die Bewegung in den Gedichten ist gleichsam diachron, sie deutet im Moment der Bewegung auf einen früheren Zustand und enthält einen Ausblick in die Zukunft. Wie in einer Gleichung mit Unbekannten wird eine dieser Variablen manchmal nicht erwähnt, in der Phantasie des Lesers aber mitgedacht, woraus die oben erwähnte Spannung entsteht.
Bei aller Konzentration und Dichte haftet Svenja Herrmanns Gedichten überhaupt nichts Ertüfteltes an, sie sind dem Bereich der alltäglichen Erfahrungswelt entnommen, sind Zufallsfunde und Zufallseindrücke. Die eingenommene Perspektive scheint ‚mittendrin’ und zugleich nüchtern registrierend, trotz einer unausgesprochenen Neigung hin zum (auf-)schreibenden Ich. „Im Gewimmel des Nachmittags / sind einzig die Beine der Menschen / auf ihrer Augenhöhe“, heißt es über eine Frau, die inmitten leerer Flaschen auf dem Gehsteig liegt. In das Mitleid mit der Kreatur mischt sich dezente Sozial- bzw. Zeitkritik, aber ohne den anklagenden Gestus, wie er noch vor ein paar Jahrzehnten unabdingbar war. Eher verbirgt sich darin eine Reflektion über das Beobachten einer Bewegung aus dem Stillstand heraus. Und Stillstand ruft Unbehagen hervor, jedenfalls dann, wenn ein Defizit an Natur besteht: „wenn ich mir erscheine / im digitalen Quadrat / wo stehe ich“, fragt die Autorin gleich zu Beginn des Buchs, und die Antwort lautet wohl: ja, mittendrin, aber letztlich außerhalb meines wahren Ichs.
Einmal mehr verdeutlichen die vielen Verben der Bewegung, wachsen, fliehen, zerstieben, jagen usw., daß in solcher Aktion das Leben, das Kreatürliche liegt, und eben nicht im digitalen Stillstand. Es geht „empor“, „hoch“, „hinauf“, was zwar auf eine traditionelle Bildlichkeit rekurriert, aber die Öffnung ins Weite bezweckt, wenn auch nur für Augenblicke, wie „vielleicht“ die Pappeln des titelgebenden Gedichts, die über die Dächer ragen und sich dabei „vor das Grau und die Wagen“ schieben. Zart und behutsam die Kontaktzonen von Welt und Ich vermessend, setzt Svenja Herrmann mit ihren Gedichten Markierungen, damit sich diese kostbaren Augenblicke wiederfinden und (lesend) erneut aufsuchen lassen: „Die Schatten löse ich heraus / Streifen für Streifen / hänge sie in den Hof / zum Bleichen“. Das ist ganz schlicht gesagt, das ist programmatisch kraftvoll.
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