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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Zerfetzte Körper von Menschen, die schwarze Tinte löscht alles aus.

Hamid Sulaiman zeichnet in seiner graphic novel "Freedom Hospital" ein düsteres, realistisches Bild von Syrien.
Hamburg

"Es wird dunkel", sagt Abu Taysir. "Gut, dann können uns die Scharfschützen nicht sehen", sagt Yasmin. Sie studierte Pharmazie in Aleppo und Damaskus und ist kurz davor, in den USA zu promovieren. Jetzt aber arbeitet sie erst einmal in einem geheimen, illegalen Krankenhaus, dem "Freedom Hospital" in der Stadt Houria im Norden Syriens, in einer Gegend, die von den Rebellen kontrolliert wird. Wenn die Machthaber das herausfinden, werden sie sie töten, wie so viele Regimegegner.

Sophie, wie Yasmin in Damaskus geboren, kehrt in ihre Heimat zurück, die sie im Alter von acht Jahren verlassen hat. In Paris hat sie Politikwissenschaft studiert und wurde Journalistin. Um den Friedensprozess zu unterstützten, ist sie mit einer Kamera unterwegs, um einen Dokumentarfilm über den Widerstand zu drehen. Auch das muss heimlich geschehen, ausländischen Journalisten ist das Filmen und Berichten verboten.

Abu Taysir war elf Jahre im Gefängnis, er wurde als Muslimbruder verdächtigt - eigentlich war er Kommunist. Seine gesamte Familie ist 1982 bei Massakern ermordet worden. Er schloss sich der Freien Syrischen Armee an und wurde örtlicher Kommandant.

So viele Menschen, so viele einzelne Schicksale, so viel Zuversicht, so viel Aussichtslosigkeit. Und auch die ersten beiden Bilder zeigen die beiden Polen, zwischen denen die graphic novel "Freedom Hospital" von Hamid Sulaiman schwanken, die Hoffnung des Frühlings und der Hoffnungslosigkeit des Terrors: grüne Zweige, die leicht im Wind schaukeln, und die Inschrift: "März 2012. 40 000 Opfer seit Beginn der Revolution"…

Kern der Erzählung ist das "Freedom Hospital", in dem ein Dutzend Patienten miteinander leben und überleben: der Philosophiestudent Hawal, der auf eine Niere wartet, Salem, der sein Gedächtnis verloren hat - manche gratulieren ihm dazu. Für sie arbeiten neben Yasmin die Köchin Zahabiah, die vor ihrer konservativ-sunnitischen Familie geflohen ist, der Arzt Dr. Yazan, der den Muslimbrüdern nahesteht, der praktizierende Christ Dschamal, der von der Geheimpolizei gefoltert wurde. .... Sie alle erzählen sich Geschichten: von der Revolution, von mutigen Menschen, denen sie begegnet sind, wie Mary Colvin, einer amerikanischen Journalistin, die in Homs getötet wurde: "Ich bin ihr dort begegnet, Allah segne sie" sagt Abu Qatada zu Dr. Fawaz al-Fawaz, um dann aber nachzulegen: "Wäre sie Muslima gewesen, dann wäre sie nun im Paradies. Ich sah sie nie eine Kirche betreten. Vielleicht war sie Atheistin. Dann verdient sie es, in der Hölle zu schmoren." Al-Fawaz widerspricht: "Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du nicht den Schlüssel zum Paradies besitzt und auch nicht der erste bist, der glaubt, die göttliche Wahrheit zu kennen."

Man sieht: Selbst unter den Opfern herrscht Uneinigkeit, sogar sie, Alawiten und Salafisten, Muslimbrüder und Demokraten, streiten und bekämpfen sich, wenn auch nur mit Worten und Ideologien. Immerhin aber reden sie noch miteinander, hören sich zu, lassen sich erklären, denken nach, erzählen sich Witze und lachen miteinander. Sehr gekonnt zeigt Sulaiman neben den fast normalen Alltagsmomenten auch die Ängste der Patienten, ihre Träume, zeigt den Krieg und den IS-Terror. Und dass einer von ihnen zum Verräter wird.

Denn auch hier bricht das Leben auseinander, die Propaganda beginnt zu greifen. Manche Verhungernde lassen sich in Milizen locken, wo es genug zu essen gibt. Die Waffen aus aller Welt (im Buch tragen sie Etiketten mit den Ländern, aus denen sie kommen) walzen die Vielfalt nieder. Ständig wird auch das Krankenhaus selbst angegriffen, Patienten und Ärzte schweben immer in Lebensgefahr. "Wir werden weitermachen, selbst wenn sie das Krankenhaus hundertmal zerstören", sagt Yasmin. Am Ende kann kaum einer der Freunde überleben, selbst die Katze, die alle so lieben, wird getötet, um einem Kranken etwas zu Essen geben zu können.

Es ist eine düstere Erzählung, die auf eigenen Erlebnissen und Erfahrungen von Hamid Sulaiman beruhen, auf Erzählungen und Berichten von Syrern: Gewidmet ist der Band seinem Freund Hussam Khayat, der 2013 von der Geheimpolizei zu Tode gefoltert wurde. Düster erzählt Sulaiman seine brutale Geschichte, in strengem Schwarz-Weiß, ohne jegliche Grautöne. Mit tiefschwarzen Schatten, die sich in manchen Szenen so sehr verdüstern und ausbreiten, dass sie das ganze Bild ausfüllen. Als könnte er die Bombenszenen, die Folter nicht mehr ertragen. Nicht mehr zeichnen, nicht mehr zeigen: Wie Blut spritzt dann die Tinte über das ganze Blatt und löscht alles aus. Oder Sulaiman zeigt nur noch leere Textblasen im schwarzen Nichts. Oder vermischt zerbombte Trümmer in den düsteren Straßenschluchten mit zerfetzten Körpern von Menschen, bis sie ineinander verschmelzen. Drastisch in seinem intensiven Schwarz der Schatten nähert sich Sulaiman immer wieder dem Splatter-Genre an - anders kann man wohl den Krieg und den Terror auch nicht mehr ausdrücken. Er hat damit eine ganz eigenständige Ästhetik entwickelt, die er den westlichen Nachrichten, aber auch den Propagandabildern des IS oder des syrischen Staatsfernsehens entgegensetzt. Der Band endet  mit der Neueröffnung des Freedom Hospitals in einem Lager an der syrisch-türkischen Grenze: "drei Monate und 12 469 Opfer später".

Hamid Sulaiman, 1986 geboren, wuchs in einem Vorort von Damaskus auf. Er studierte Kunst und Architektur an der staatlichen Hochschule, nahm an Kundgebungen des Arabischen Frühlings teil, stellte mit anderen zusammen Fotos und Videos von Demonstrationen ins Internet, kam ins Gefängnis, floh über Jordanien und Ägypten nach Deutschland und schließlich nach Paris, wo er seit 2011 lebt. Für seine oft schockierenden Bilder hat er Luftaufnahmen, Youtube-Videos und Nachrichtenbilder benutzt, die Stadt Houria ist erfunden, vieles andere aber ist nur zu real. Im Nachwort erklärt er: "Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Situation aus meiner Sicht darzustellen, nicht um sie zu erklären. (...) Ich musste einfach all das hinausschreien, was mir seit Beginn der Revolution im Hals stecken geblieben war."

 

 

 

 

Hamid Sulaiman
Freedom Hospital
übersetzt von Kai Pfeiffer
Hanser Berlin
2017 · 288 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25508-1

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