Das Lachen im Meer der Reproduzierbarkeit
Auch wenn der Titel des Romans von Rosemarie Poiarkov „Aussichten sind überschätzt“ mit dem Sehsinn spielt, geht es ums Hören. Und nicht um das Musikhören, das wenigstens als Nebengeräusch viele Romane begleitet, sondern um die Geräusche, die das Leben macht. Nicht um den Lärm der Straße, der Bahnhöfe, der Kaufhäuser, auch nicht um den Krach der Vögel am frühen Frühlingsmorgen, den viele nicht angenehm finden. Es sind die von den meisten unbemerkten Geräusche, die es unaufdringlich dennoch gibt. Die man suchen muss, wie das, was ein gefrorenes Gewässer von sich gibt oder das Wasser darunter. Natürlich ist so ein Typ schon ein wenig verschroben, wenn er sich auf die Suche macht nach dem, was kurz nach der Stille kommt. Der Stille, die es eigentlich gar nicht gibt. Auch das Blut erzeugt im Ohr ein Geräusch. Doch der Weg zwischen Geräusch kurz nach der Stille und dem Tinnitus ist lang, eine Geräuschverkettung von Meditation bis zur psychischen Deformation. Eine Nebenfigur des Romans ist der heimliche Held. Emil, der Freund der Erzählerin Luise arbeitet in einem Audioarchiv und liefert mit seiner Hörleidenschaft seiner Freundin Stoff. Kein Böllsches „Gesammeltes Schweigen“, dieser Protest gegen das intellektuelle Gelaber, nein, eine besondere Wahrnehmung der Welt. So ist es kein Zufall, dass Luise, die als Lehrerin für Ausländer arbeitet, Deutsch als Fremdsprache vermittelt, sozusagen den fremden Ohren versucht das Verstehen beizubringen, von einer Reise zu einer Tagung in Mexiko einen Fund vom Flohmarkt mitbringt. Eine über 100 Jahre alte Tonwalze. Ein zehn Zentimeter hoher Zylinder aus Wachs in einer antiken Pappdose, auf der geschrieben steht: „Es spricht das Luberl. Praterstraße 64, Wien 3. April 1903“. Zwei Motive sind es, die Luise zwingen, das Stück zu kaufen. Die Tatsache, dass sie in ebendieser Straße in Wien wohnt und, dass ihr Freund Emil auf seltsame Geräusche steht. So bringt sie die Wachswalze beim Rückflug durch viele Kontrollen, doch die Befürchtung, dass sie ihr als „Bombe“ abgenommen werden würde, erweist sich als grundlos. Sie selbst assoziierte beim ersten Anblick der Wachswalze eine Bombe. Und im übertragenen Sinn sind die vor 100 Jahren in die Walze geschriebenen Worte des „Luberl“ eine Bombe. Die nicht zündet. Alle Versuche mit modernster Technik die Aufnahme verständlich zu machen, führen zu nichts. Mal versteht Luise ein Wort und noch eins, aber sie ergeben keinen Sinn. Das einzig verständliche ist das Lachen Luberls, nachdem sie gesprochen hat. Als würde sie jemand kitzeln. Mit ihrer Freundin Julia versucht Luise den Sinn von Luberls Worten zu verstehen, sie betasten die Dose, riechen an dem Wachs und überlegten, dass die Wachswalze gut brennen würde. Verletzlichkeit einer unentschüsselten Botschaft. Beim Hören auf die Geräusche der zugefrorenen Alten Donau presste Emil sein Ohr solange auf das Eis, bis es eine Muschel hineingeschmolzen hatte, eine Ohrmuschel. Da holte er sich einen „Geräuschverkühlung“ und hörte eine Weile nichts, keine besonderen Geräusche. Erst in Spanien „taute“ sein Ohr wieder auf und er begann gemeinsam mit einem Freund die Fische in einem Aquarium zu „verstehen“. Die ihm eine Liebesgeschichte erzählen, eine Art Spiegelung der Liebe von Luises altem Freund Milan zu einem serbischen Mädchen. Sie verstanden sich kaum, da er kein Serbisch sprach und sie nur über ein paar Brocken Englisch verfügte. Bis zu der Fischgeschichte am Schluss des Buches blieb dieser Erzählzweig unmotiviert. Wie auch einige andere bis zum Schluss fast zusammenhangslos bleiben. Das Motiv der Luberl-Walze verschwindet in diesen anderen Erzählzweigen, taucht dann plötzlich wieder auf, schließlich ist die Walze ganz weg. Ihr Inhalt ist aber längst digital gespeichert und durch verschiedene Programme geschickt, zwecks Entschlüsselung. Auch im großen Pool Youtube eingestellt: ein wunderbares Bild, die über 100 Jahre alte Stimme in der Kakaphonie des 21. Jahrhunderts. Doch einzig entschlüsselbar bleibt das Lachen der längst toten Frau. Luise nimmt das Audio wieder aus dem Netz, die kostbare Wachswalze findet sich im Kinderzimmer von Luises Freundin. Luise und Emil beschließen, dass sie ein schönes Spielzeug für das Kind der Freundin sei.
Rosemarie Poiarkov stellt in ihrem Romandebüt „Aussichten sind überschätzt“ den Beginn der Audiotechnik den heutigen Möglichkeiten gegenüber ohne dies gegeneinander auszuspielen. Es bleibt eine zarte Hoffnung, dass die kleinen Geräusche doch hin und wieder wahrgenommen werden als Geräusch des Lebens, als kleines Fischlein „Original“ im Meer der Reproduzierbarkeit. Es gibt sprachlich überraschende Stellen, die wenigen Kapitelüberschriften driften teils in Dada ab: „Die Welt ist blau wie eine Orange“, heißt etwa das erste Kapitel. „Die Alte Donau ist kein Fluss“ ist das zweite Kapitel, in dem Emil sich die „Geräuschverkühlung“ holt. Es gibt kein Ausspielen von alter Technik und neuer, sonst wäre die Wachswalze mit Luberls Lachen im Kinderzimmer nicht so gut aufgehoben, wie die beiden meinen. Es geht eher darum, dass es sie gibt, die kleinen Geräusche, die unser Leben, die die Welt macht.
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