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Kritik

Schreiben als Suche nach dem Verlorenen

Hamburg

Die Literaturkritiker schauen oft herablassend auf Romanciers, die einen Gedichtband vorlegen, oder auf Lyriker, die einen Roman veröffentlichen. Die Leistung des Kritikers scheint dann nur noch darin zu bestehen, dem in die Irre gegangenen Fremdgänger nachweisen zu müssen, dass er besser >bei seinen Leisten< geblieben wäre. Bei Kurt Drawert verbietet sich bekanntermaßen diese Art von Kritik. Er stellt innerhalb der deutschen Literatur ein Phänomen dar, er ist Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Herausgeber in einem und hat auf allen Gebieten nicht nur Beachtliches geleistet, sondern geradezu Standards gesetzt.

Diese Sätze stehen in dem Artikel Sprache als Zivilisationsbefund. Zur Essayistik von Kurt Drawert, den Axel Helbig für den Kurt Drawert gewidmeten Band 213 von Text und Kritik geschrieben hat. Darin wird die von Helbig erwähnte Vielseitigkeit des Autors ausführlich besprochen und von namhaften Kritikern viele seiner zahlreichen Werke gewürdigt.

Michael Braun beginnt mit In Rufweite zum Schweigen. Eine Fußnote zu Drawerts Poetik. Bereits in dessen erstem Gedichtband Zweite Inventur aus dem Jahr 1987 werde dieses sich durch sein ganzes Werk ziehende Ungenügen an den Wörtern deutlich, dieses Grundgefühl, über keine taugliche Sprache zu verfügen, ins Verstummen getrieben und damit ausgeschlossen zu sein, ist die innere Tätowierung, die in Texten dieses Autors immer wieder sichtbar wird.

In diesen Zusammenhang stellt Michael Braun den essayistischen Roman Spiegelland. Ein deutscher Monolog und Kurt Drawerts Beschäftigung mit dem Kaspar-Hauser-Thema. Beides wird auch von anderen Autoren in diesem Band immer wieder als Zentralmotiv für Drawerts Poetologie angeführt. Geht es doch stets um die Schwierigkeit, bis hin zur Unmöglichkeit für das Sprechen die richtigen Worte zu finden. Weil, wie Michael Braun es formuliert, das Hineingeworfenwerden in die herrschende Sprachordnung, das Trauma sei, das der Schriftsteller zu bearbeiten habe.

Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) steht auch im Mittelpunkt des Essays von Michael Opitz, den er mit Selbst(erfindung) mit Vater und Land überschreibt. Aber auch die ausführliche Beschäftigung Stephen Brockmanns über Drawert und die untergegangene DDR bezieht seine Argumente größtenteils aus diesen Roman mit seinen Darstellungen der beschönigten Vergangenheit von Großvater und Vater, sowie der Sprache der DDR als Unterdrückungs- und Herrschaftsinstrument, worauf das Kind in Spiegelland mit Sprachverweigerung reagiert, so dass ein Arzt hinzugezogen werden muss. So heißt es in dem Roman:

Früher, ehe es in die Welt des Sprechens geraten war, muß es sich sicher gefühlt haben, es muß empfunden haben, daß nichts in den Körper einzudringen vermag und daß alle möglichen Strafen und Regeln an der Oberfläche haftengeblieben sind und das Innere nicht berührten. Die Worte aber drangen wie vergiftete Pfeile ins Fleisch, über sie hatte das Kind sich mitzuteilen und sein Inneres nach außen zu bringen, wo es den korrigierenden und beeinflussenden Blick des Vaters gab, der die Wirklichkeit des Kindes seiner Ordnung unterstellte. Diese Ordnung aber war etwas Fremdes und Äußeres gewesen, das die Sprache verdarb und sie mit einer Gewalt in Verbindung brachte, die in dieser Gesellschaft sein muß, soll der Arzt weiterhin gesagt haben.

Aber da man letztlich mit totaler Sprachverweigerung in der Gesellschaft nicht bestehen kann, führt Stephen Brockmann an, dass es auch für Drawert entscheidend sei, das eigene Ich gegenüber allen möglichen Anfeindungen zu stärken, vor allem – für Drawert und Lacan - auf dem Gebiet der Sprache selbst.

Die Wurzel aller Gesellschaftskritik kann also immer nur Sprachkritik sein, denn nichts ist politischer als die Sprache,

sagt Kurt Drawert in einem Interview, das den vorliegenden Band abschließt.

Und diese These spiegelt sich auch in den anderen Artikeln dieses Bandes wider. Sei es, dass Peter Geist über Kurt Drawerts neueste Veröffentlichung, das Langgedicht Der Körper meiner Zeit spricht, Fritz Raddatz über den Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte oder Thomas Irmer Drawerts Theaterstücke vorstellt.

Wie schon eingangs erwähnt, hat Kurt Drawert sich auch mit zahlreichen Essays einen Namen gemacht. Darüber berichtet sehr ausführlich Axel Helbig und auch er überschreibt seine Ausführungen mit Sprache als Zivilisationsbefund. Darin erwähnt er, dass der 1956 in Henningsdorf (Brandenburg) geborene Drawert das Glück hatte, in der späten DDR in der Sächsischen Landesbibliothek angestellt zu werden und somit die systembedinge Zensur der DDR-Behörden umgehen konnte. In dem Interview erzählt Kurt Drawert, dass er sich schon als Jugendlicher mit Philosophie und der Freud‘schen Psychoanalyse beschäftigt habe. Und so zeige, wie Axel Helbig notiert, bereits das Buch Rückseiten der Herrlichkeit (2001) die sich späterhin verstärkende Tendenz, die Philosophie (und auch die Erkenntnisse der Psychologie) des 19. und 20. Jahrhunderts als Ausgangspunkt für einen weitreichenden kulturphilosophischen Ansatz zu wählen. Helbig geht auf mehrere Bereiche ein, nämlich auf die Kritik der politischen Rhetorik, die Kritik der Kulturpolitik – Kritik der Eventkultur.

Wie Raum und Zeit bei Kurt Drawert durcheinandergeraten, beziehungsweise wie Reisen stets mehr sind als die Bewegung von Ort zu Ort, zeigt Christian Döring in dem schönen Essay Eine Reise mit Kurt Drawert -Fremdenführer in die Simultanität. In einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn sieht Döring den Schlüssel zu Drawerts Raumverständnis,

das er in der Folge an Sibirien entwickelt und fortführt. Die vollkommene Entgrenzung, die keinen Unterschied zwischen Zeit und Raum kennt und auch jede chronologische Gewissheit aufgibt, entspringt dem simultanen Blick, der in der Taiga auf ihren idealen Gegenstand trifft: »Denn durch Sibirien zu fahren heißt, überall gleichzeitig zu sein, weil alles nirgendwo ist.

Oder wie es bei Drawert an anderer Stelle heißt:

Ich bin in Leipzig und stehe in Istanbul, es ist Herbst 1989 und doch 2014 im Mai.

Gegenwart, Vergangenheit, Räume, Grenzen, Zeit, alles werde verschoben und neu verhandelt, schreibt Christian Döring.

Wo der Raum keine Orientierungspunkte mehr bereithält und der Blick des Reisenden wieder auf sich selbst zurückfällt, muss auch die Prosa dazu übergehen, ein eigenes Koordinatensystem zu entwickeln.

Döring hat seinen Essay Kurt Drawert zum 60. Geburtstag gewidmet und dieser runde Geburtstag war auch Anlass für den gesamten Band.

In Darmstadt hat Kurt Drawert eine Textwerkstatt gegründet und stellt monatlich auf einer Lesebühne im Literaturhaus Autoren aus ganz Deutschland vor. Praeceptor poesis nennt Peter Benz, der ehemalige Oberbürgermeister von Darmstadt, seinen Artikel, in dem er die Genese dieser Entwicklung beschreibt. Seine langjährige Erfahrung mit eigener und fremder Literatur hat Kurt Drawert 2012 in dem Buch Schreiben. Vom Leben der Texte zusammengefasst. Paul-Henri Campbell, selbst Teilnehmer der Textwerkstatt, geht darauf ein.

Neben Joachim Sartorius, Jan Koneffke, Kerstin Hensel und Jürgen Israel, die Kurt Drawert jeweils ihre Gedichte widmen, gibt es auch von diesem selbst ein langes Gedicht mit dem Titel Die Würde des Menschen ist. Besonders gut hat mir gefallen, dass der Autor nach den vielen klugen Ausführungen noch einmal zu Wort kommt. Denn es ist letztlich das Interview, durch das man der Literatur von Kurt Drawert nahekommt. Im Gespräch mit Martin Hielscher geht er ausführlich auf sein Schreiben, die Sprache, die Rolle der Literatur, seine Sozialisation, Lektüren, Reisen kurz, auf alles, das für sein Schreiben wichtig ist, ein.

So ist auch mein Schreiben, jedenfalls dort, wo es nicht diskursiv ist, ein immerwährendes Suchen nach dem Verlorenen, und sein Ziel ist die Bewegung an sich.

Von all den schönen Sätzen, die man in dem Interview findet, möchte ich abschließend nur noch einen zitieren:

Nach jedem Buch bin ich ein anderer.

 

Peter Geist (Hg.)
TEXT + KRITIK · Heft 213 · Kurt Drawert
TEXT + KRITIK
2017 · 106 Seiten · 24,00 Euro

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