Lachen, um nicht zu weinen
Mit seinen frischen Übersetzungen deutschsprachige Leser für die großen jiddischen Schriftsteller zu begeistern: das gelang Gernot Jonas im Fall von Scholem Alejchem jüngst mit dessen Erzählband Panik im Schtetl, der vor einem Jahr bei Marix erschien. Die neuen Kasrilewker Geschichten entführen den Leser wieder in die Welt der „Kasriels“. Das sind laut Alejchem - der eigentlich Schalom Rabinowitsch hieß - „elende Schlucker, Habenichtse, Rumtreiber, Bettler, Hungerleider“. Interessant macht die „Kasriliks“ vor allem die Tatsache, dass es zugleich herzensgute und unkonventionelle, meist auch sehr traditionsverhaftete oder gar abergläubische Menschen sind. Wie die „Madam“, die für Jom Kippur unbedingt „Ein weißes Kaporehuhn“ braucht, sonst hätte sie „das ganze Jahr Angst vorm Sterben.“
Durch Konfrontationen mit gojischen Autoritäten sind die Einwohner Kasrilewkes in allerhand Komplikationen und Scharmützel verwickelt. Aber auch das allgemeine Feiertagschaos sorgt für turbulente Szenen: Die 21 Geschichten aus dem Schtetl führen quer durchs jüdische Festjahr, allein sechs davon spielen an Pessach. Keine Erzählung, die nicht auf die eine oder andere Weise mit einem besonderen Anlass oder Festtag zu tun hat. Da versucht der eine verzweifelt, rechtzeitig zu Pessach zu Frau und Kindern nach Hause zu gelangen, während ein anderer den Rest seiner jüdischen Jahreskalender loswerden will. Ironie des Schicksals, dass sein wichtigster Abnehmer wohl ausgerechnet General Tolmatschow ist, ein berüchtigter Antisemit …
Alejchems Kurzprosa ist insofern eine Herausforderung, als die Alltagssprache der Kasrilewker von jüdischen Literaturzitaten und kulturspezifischen Ausdrücken nur so wimmelt. Glücklicherweise liefert der Übersetzer im Anhang ein Glossar und umfangreiche Anmerkungen, dank deren man quasi im Vorbeigehen nicht nur allerhand über jüdische Festtagsrituale lernt, sondern auch russische, hebräische und jiddische Wendungen. Das Kasrilewke der Jahrhundertwende ist nämlich eine polyglotte, wenn auch eine hermetisch geschlossene Welt, wo es noch Heiratsvermittler und Kutschen gibt, und wo Bagel noch Bejgel heißen.
Der als „jüdischer Mark Twain“ bekannte Schriftsteller, dessen Todestag sich 2016 zum 100. Mal jährte, schrieb zunächst auf Russisch und Hebräisch, später dann auch auf Jiddisch, der Umgangssprache der Juden im Ansiedlungsrayon des russischen Reichs. Dünkel kann man dem auch weltlich gebildeten Literaten trotz seiner gnadenlos realitätsnahen Porträts der Kasriels nicht unterstellen; davor bewahrte ihn schon seine tiefe Zuneigung zum einfachen Juden aus Kasrilewke, dem fiktionalisierten Schtetl seiner Kindheit. Das zeigt sich in Geschichten wie „Freude an den Kindern“, dem Monolog eines Mannes, der trotz Armut immerhin eine Wohnung sein eigen nennen kann. Da alle seine Söhne und Schwiegersöhne finanziell noch schlechter gestellt sind, leben sie samt kinderreicher Mischpoke bei ihm zu Hause. Wenn sich bei ihm am Feiertag alle versammeln, fühlt sich der Mann glücklicher „als der Allerreichste und Vornehmste von Kasrilewke“.
Es ist Alejchems unnachahmliche Mischung aus Sentimentalität und Witz, die auch zum Erfolg seines Romans „Tewje, der Milchmann“ beitrug - besser bekannt unter dem Titel der Musical-Adaption „Anatevka“ (Fiddler on the Roof). Dabei verwundert es, dass eher selten von der scharfen Beobachtungsgabe und der spitzen Feder des Autors die Rede ist. Gerade dank seines feinsinnigen Sarkasmus und seiner nicht immer subtilen Sozialkritik gewinnen Alejchems Geschichten deutlich an Tiefe - und auch an Unterhaltungswert. Schließlich ist der Ausgang einer Handlung – wie etwa in „Zwei Schalachmones“ - nicht selten vorhersehbar, sind die Geschichten pointenfrei.
Lachen, um nicht zu weinen: was so typisch für den jüdischen Witz ist, definiert auch Alejchems Prosa, unter deren humorvoll-heiterer Oberfläche nicht selten eine gewisse Tragik schlummert. In „Ein leichter Fasttag“ begegnen wir etwa dem bitterarmen Chajim Chajkin, für den ein Fasttag nach eigener Aussage ein Festtag ist, während er in Wirklichkeit seinen Kindern zuliebe aufs Essen verzichtet. „Ach, wenn nur der Mensch die Stufe erreichen könnte, wo er ganz ohne Essen auskommt! (…) Es tut ihm leid, sehr, sehr leid, dass Gott den Menschen so geschaffen hat, dass er nicht weit entfernt ist vom Rindvieh.“
Meisterhaft beherrscht Alejchem die Verschachtelung von Komik und Tragik, die auch immer irgendwo entlarvend ist. Dass die durchaus modernen Geschichten nicht schwer verdaulich sind, liegt an ihrem volkstümlichen Charakter, an ihrer Nähe zur mündlichen Tradition. Das spiegelt sich in der Erzähltechnik wider; die Geschichten wirken oft wie aufgeschnappt. Das ist für Alejchem aber kein eitles intellektuelles Herumexperimentieren mit literarischen Formen, eher wirkt es wie eine Notwendigkeit. Das gilt auch für die Erzählungen, in denen er sich als Autor und Ich-Erzähler selbst einschaltet. „Die Geschichte einer Mütze“ will er etwa so wiedergeben, wie er sie von einem Kasrilewker Kaufmann gehört hat, „kein einziges Wort habe ich hinzugefügt.“
Ist Scholem Alejchem zugleich innerhalb und außerhalb seiner Erzählungen, stehen seine Figuren oft mit einem Fuß im Schtetl und mit dem anderen in der Fremde. Dementsprechend spielen einige der besten Stories des Bandes gar nicht in Kasrilewke selbst, sondern dort, wo die Schtetl-Bewohner mit der Außenwelt in Berührung kommen. In „Nichts Neues bei uns!“ schreibt Jacob, ehemals Jankel, einem Freund einen Neujahrsgruß in die alte Heimat und erzählt vom sozialen Aufstieg seiner alrightnik-Kinder. Jiddisch und Englisch wild miteinander mischend, schwärmt er von der amerikanischen Lebensweise: „Amerika ist ein freies Land, jeder attendet sein business, wie er es für richtig hält.“ Die Antwort seines Freundes Jisro’el ist eine lakonische Auflistung der „sensations“, von denen man in Amerika hört: Arbeitslosigkeit, antisemitische Verfolgungen, Zwangsarbeit. Sein sarkastisches Fazit: „Eitel Sonnenschein herrscht bei uns.“ Alejchem mag seine letzten Lebensjahre in New York verbracht haben, doch er ließ es sich nicht nehmen, einigen Neuamerikanern ihre Ignoranz vorzuhalten. Chapeau vor so viel Chuzpe.
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