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Kritik

Fragen über Fragen, münden die ins Überschlagen?

Die Akzente Ausgabe 01/2017, die nach Antworten sucht. Oder nach Fragen?
Hamburg

Wenn man über den Themenkomplex „Fragen“ ein Heft macht, begibt man sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf ein Fed, in dem das Innehalten wichtig ist, die Wiederholung und vielleicht sogar die Tautologie. Etwas hinschreiben und gleichzeitig danach fragen – dieses Zusammenfallen von Behauptung und Bezweifeln in einem Satz mit Fragezeichen, kann verschiedene Ausprägungen haben, vom reflektierten Rückzug bis zum provokanten Angriff. Fragwürdig ist manches, manches ist fraglich, eine Frage der Zeit oder eine Anfrage.

Nach einem Vorwort – in dem die Herausgeber Jo Lendle und Tilman Rammstedt ihr Plädoyer für die Frage so weit treiben, dass sie bald infrage stellen, ob Antworten überhaupt einen Sinn haben und nicht vielleicht eher Geschöpfe sind, die wir der Bequemlichkeit und der Einteilung verdanken und die nie wirklich etwas werden festmachen können, solange es weitere Fragen gibt (ist jede Frage gegen jede Antwort subversiv?) – beginnt das Heft mit einem Gedicht des im letzten Jahr verstorbenen schwedischen Schriftstellers Lars Gustafsson: „Selbstportrait in Sepia“ (übersetzt von Verena Reichel). Das Poem umkreist eine Ich-Frage, aber weist letztlich über diese hinaus.

Wusste ich damals
von diesen alten Büchern?

fragt sich das Ich. Eine Frage, die es selbst beantworten kann. Aber es folgt eine weitere Frage:

Nein. Bestimmt nicht.
Aber wer wusste es dann?

Eine Frage, die vom Ich ausgeht und dann dessen Räumlichkeiten verlässt. Das Ich kann sich nur vorstellen, dass etwas, das einst noch nicht Teil des Ichs war, schon vorhanden gewesen sein muss. Gewartet hat. Ergibt denn sonst die Bedeutung, die es jetzt hat, Sinn? Gustafssons Gedicht beantwortet die Frage nicht, sondern verweist auf unsere Sehnsucht, die wir immer hinter den Horizonten aufbewahren werden …

Lutz Seilers Garagentagebuch erinnert mich an jene unwirtlichen Endzeitszenarien (z.B. wie in Stephen Kings „Der dunkle Turm“ oder in diversen Kurzgeschichten jüngerer Autor*innen), die mich immer ein bisschen langweilen. Der Kosmos des Werkzeugschuppens und die schwer zu greifende Psyche des Protagonisten, sind nicht gerade dazu geeignet, diese Langeweile zu zerstreuen. Irgendwie wirkt dieser Auszug fehl am Platz, so beschwörend und fragil er auch daherkommt.

Wenn sie jemanden lieben: Haben sie Angst vor dem Tod?

Finn-Ole Heinrich und Dita Zipfel fühlen Max Frisch auf den Zahn. Kleine Collagen, zusammengesetzt aus Wort- und Satzschnipseln aus dem „Fragebogen“, haken ein, haken nach, setzten noch einen drauf. Sollen diese Bearbeitungen Frisch als Aufschneider darstellen? Sind sie Ergänzungen oder Korrekturen? Das Schöne an ihnen ist, dass sie ganz für sich stehen können. Ganz gleich, was sie im Sinn haben, ob nun Fragwürdiges in Bezug auf Frisch oder im Sinne der in dem Wort schlummernden, freundlicheren Bedeutung (einer Frage würdig) – sie unterhalten und regen zum Nachdenken an.

Versteh doch, fragen bedeutet anstarren was verschwunden ist. 

Vier großartige Gedichte von Judith Hennemann; voller starker Behauptungen, die nichts Greifbares entstehen lassen, aber mit ihrer agilen Komposition einem einfachen Fluchtpunktdasein entgehen und so die Dimension des Gedichts vergrößern, Räume andeuten, Tiefenstrukturen begehbar machen. Das alles bestimmend und schnell, als würden sie einen gleich überfahren. Und in jedem Satz liegt eine geschliffene Wucht.

Als nächstes darf man sich königlich amüsieren. Oder auch echauffieren. Denn Jan Peter Bremer kratzt kritisch-witzig am Mythos von Jan van Leiden, dem selbsternannten König der Wiedertäufer. Der lässt König Henry VIII wie einen zölibatären Mönch aussehen, denn er hatte 17 Frauen und alle zur selben Zeit. Auch wenn seine Herrschaft kurz war, hat er die Stadt Münster sehr geprägt und bis heute steht die Frage im Raum, welche Details über diese schillernde Gestalt und ihre Ausschweifungen denn nun wahr sind. Mit Glaubensfragen hat dieser Mythos allerdings wenig am Hut. Bremer webt aus dem Stoff eine Rede des Toten, eine illustre Farce.

Beispiele für Fragen, die wir uns meistens verkniffen, aber meistens dann halt doch nicht
„Woran denkst du?“, „Mit wem?“, „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Tilman Rammstedts Fragenkatalog ist das Kaleidoskop einer Beziehung, ihrer beiläufigen und ihrer entscheidenden Momente. Es ist ein Text, der sich perfekt für das Thema des Heftes eignet, aber nicht so wirkt, als sei er für den Anlass geschrieben worden. Er ist wunderbar rund, man kann ihn eigentlich nicht zu Ende lesen, dafür oft auf ihn zurückkommen, wenn man seine eigenen Beziehungserfahrungen wieder mal ertappen will.

das universum ist freude nur das
flackern deines blicks
bezweifelt
mich
[…]
ja bleib in der frage gleite nicht in die antworten über

Die Gedichte von Arild Vange (Andrea Dobrowolski) umschlingen ihre in Sehnsucht untergetauchten Themen wie unüberwindbare Schlingpflanzen, überwuchern sie mit Fragen und – in zweifacher Hinsicht: abgefahrenen – Bildern. Man kann lauter großartige lyrische Momente antreffen und auch wenn alle aufgemachten Pfade ins Dickicht führen, will man ihnen allen folgen. Ich bin nachhaltig beeindruckt, begeistert.

Raphael Urweiders Fragenorgie (hinter jedem Satz ein Fragezeichen; auch die sollten lieber sparsam fallen, gerade in einem Heft wie diesem) läuft sich schnell tot, auch wenn viele brisante Themen vertreten sind und interessante, ja vielleicht sogar erhellende Informationen an allen Ecken und Enden aufblitzen. Aber man ist zu schnell eingespielt und vorbereitet auf alles, was kommt, weil die Bewegung des Textes sehr schnell eingeordnet werden kann und jede neue We/indung wenig überraschend ist, selbst wenn sie Überraschendes birgt.

das Ding in uns, das
und vielleicht retten könnte vor dem Ding, das wir sind.

Die von Mathias Jeschke übersetzen Gedichte William Carpenters bringen eine schöne Ruhe in den Band. Zwingend und gleichsam rätselhaft ist der Titel über den Texten: „Wie den Fragen der Toten begegnen?“ Über diese Frage gehen die Texte dann auch sanft hinaus, sie münden nicht in diese Zusammenfassung. Es sind keine Verdichtungen, aber sie haben auch nicht wirklich etwas Ausschweifendes, auch wenn sie alle eine gewisse Länge erreichen. Es wirkt so, als würde jeder Text sich Zeit nehmen und etwas rekapitulieren, das nie ganz in den Fokus gerät, das in einem der Räume liegt, die an die Korridore, die von den Zeilen gezogen werden, angrenzen. Räume, in die der Text vielleicht sogar einen Blick wirft, kurz.

Wie ist das eigentlich mit Leonard Cohen? Oder mit dem eigenen Leben, das eben jene wunderbaren und schmerzlichen Antworten, die aus der Popmusik herausblühen, nicht wirklich adaptieren kann – da ist eine offene Stelle, eine Schlucht dazwischen, und doch existiert auch eine dichte Nähe. Eine Nähe zur Schlucht oder zur anderen Seite? Das muss unbeantwortet bleiben. Fest steht: Verena Rossbachers Text ist unterhaltsam, tut profan, versucht aber eigentlich einen Zipfel von dem zu erhaschen, was hinter der Wirklichkeit – auf die jede Newsmeldung, jedes Selbsthilfebuch, jede Niederlage Druck ausübt und sich einschreit – an Idealen, Antworten und Fragen noch zu finden ist. In dem Raum, in den zum Beispiel die wunderbare Stimme Leonard Cohens drang und dringt.

Teresa Präauer mixt in ihrem kurzen Text Küchengeräte und finnische Frageworte zu einem netten kleinen Shake zusammen, den man in einem Zug runterstürzen kann. Nachgeschmack: es ist nicht alles smooth, nur weil es darin um Smoothies geht; aber man lächelt ob der Süßigkeit.   

Weiß ich jetzt mehr über Shanghai, weil ich David Wagners „Shanghai?“ gelesen habe? Und wenn hier aus der Kulisse ein Thema gemacht werden soll – die, ohne Frage, interessant ist – wieso habe ich dann das Gefühl, eher einen Wikipedia-Mix-Up zu lesen, und nicht eine konkrete Reiseerfahrung? Aber mal die Fragen beiseite: Es ist natürlich eine interessante Art der Annäherung, mit der Wagner die kontroverse Stadt abzubilden versucht. Aber auch hier, ähnlich wie beim Urweider Text, ist mir der Ansatz zu gewollt, zu einseitig, zu pragmatisch und zu programmatisch.

Bist du gewillt oder
nicht? Eingereiht oder
eingeweiht? Verehrst du
das Rad und den Glanz?

Günter Kunerts Gedichte lenken die Blicke auf Oberflächen und Untiefen. Das gelingt ihnen zu gleichen Teilen und zur gleichen Zeit, denn für beides haben sie ein erstaunliches Gespür. Es ist schön, wie in diesen Gedichten ein fast schon verpöntes, aber gleichsam nicht zu leugnendes Augenmerk angelegt wird, das sich nicht scheut, Beobachtungen nicht zur zu fabrizieren und zu illustrieren, sondern sie auch zu verwenden. Für etwas, gegen etwas. Denn es sind noch längst nicht alle Fragen beantwortet und auch noch lange nicht alle Fragen offen!

Ryszard Krynickis (sein Text wurde übersetzt von Esther Kinsky) findet auf dem Grundstück seines neuen Hauses einen kreisrunden Stein mit jüdischer Inschrift, vielleicht aus einem alten Grabstein geschnitten. Wie weiter mit diesem Stein verfahren? Eine Frage, die viel mehr aufmacht und nicht einfach durch eine pragmatische Antwort aufgelöst werden kann. Wie bewahren, wie ehren, wie umgehen mit den Überresten des jüdischen Erbes, das überall in Mittel- und Osteuropa verschüttet und zerstört wurde? Gibt es überhaupt einen angemessenen Umgang? Oder ist nicht jedes Überbleibsel ein unumgängliches Mahnmal, eine Schwelle, die jede Form des Betretens zurückweist?

2016 gab das Kollektiv DELIBERATIVA das Heft „Fragen für alle“ heraus, ein Katalog mit 48 Seiten Fragen, unterschiedlichster Art. Zum Abschluss dieses Akzente-Heftes, werden uns ein paar Seiten voller Antworten präsentiert. Man hat als Lesende/r keine Ahnung, zu welchen Fragen sie gehören, aber gerade diese Ungewissheit verdeutlicht am Ende noch einmal, wie ambivalent das Verhältnis von Frage und Antwort ist.

Fazit: Ein großartiges Heft, mit sehr starken lyrischen Beiträgen, Abwechslung und jeder Menge Input. Hier und da gibt es einen Text, der seine Bewegung ein bisschen zu bequem im unmittelbaren Umfeld der Themenlage ansiedelt. Aber die guten und genialen Texte überwiegen und machen aus dieser schmalen Publikation ein sehr lesenswertes weites Feld, voller Fragestellungen und Antwortschüsse, die treffen oder nicht treffen; aber wer kann denn sagen, worauf eine Frage abzielt oder ein(e) AntWort?

Zuletzt noch: Wunderbar illustriert wird der Band durch die spielerischen, unverblümten und stimmigen Ein-Seiten-Comics von Ruth Herzberg, deren Figuren so wunderbar Fragen stellen wie:

„Dürfen wir aus der Unterschicht eigentlich auch arrogant sein?“
„Passiert mehr, oder passiert mehr beinahe nicht?
„Mit wem muss ich eigentlich schlafen, um mal wieder Sex zu haben?“

Der englische Schriftsteller Thomas De Quincey stellte einmal fest, dass es genauso wichtig sei ein Problem zu finden wie eine Lösung. Was macht die Frage: sucht sie eine Lösung oder skizziert sie ein Problem? Wohl eher Letzteres, aber sie ist, in sich, schon eine Bewegung und im Widerspruch dazu ein Punkt, an dem kurz alles stillsteht, weil Verläufe und Bahnen abgetastet und hinterfragt werden. Durch diesen Zwiespalt wirft der Mensch einen Blick auf die Welt und erkennt einiges und anderes erkennt er nicht und in beiden Kategorien, in Erkennen und Nichterkennen, tun sich Fragen auf. Das Wesentliche im Menschen hat die Form einer Frage, sagte Heidegger. Hatte er Recht?

Tilman Rammstedt (Hg.) · Jo Lendle (Hg.)
Akzente 1 / 2017 · Fragen
Hanser Verlage
2017 · 88 Seiten · 9,60 Euro
ISBN:
978-3-446-25562-3

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