Gehen wir irgendwohin, wo du schreien kannst
"Wir haben unsere Ärsche in den Dienst des Volkes gestellt, wie gesagt, von dieser Seite gibt es nichts zu bereuen, doch etwas fehlte uns immer und wird uns immer fehlen, nämlich: nicht im richtigen Moment angekommen und auf der Seite der Aktion gewesen zu sein. Wir hatten den Mut, unsere Körper aufs Spiel zu setzen. Sie den Armen von Männern anzubieten, von Männern, die niemand wollte, doch den Mut, ausgetüftelte Anschläge durchzuführen, hätten wir auf keinen Fall gehabt."
Aus Frankreich sind vor allem in letzter Zeit immer wieder Veröffentlichungen gekommen, die das Fiktionale der Literatur mit dem Politisch-Sozialen einer drückenden Realität verbinden. Es sei nur an Didier Eribon oder Edouard Louis erinnert. Im frankophilen Matthes & Seitz Verlag sind derart zuvor zum Beispiel Edouard Levé oder die US-Amerikanerin Chris Kraus zu nennen; beide mit stärksten Verbindungen zwischen Literatur und Realität gleichermaßen. Im Fall des Filmemachers und Schriftstellers Mathieu Riboulet und seines soeben erschienen Romans "Und dazwischen nichts" wird ein weiteres Kapitel dieser literarischen Position aufgemacht. Der Roman ist kein Roman. Er ist ein dreiteiliger Monolog eines Ich-Erzählers, der ähnliche Lebensdaten wie Riboulet aufweist und die späten 60er und 70er Jahre Revue passieren lässt. Und zwar unter zwei Aspekten: eine manische Geschichtsstunde in Sachen Linkspolitischem Aktivismus und eine manische Reproduktion homoerotischer Sexualität. Das verbindende Element ist der Hund. Auch auf dem Cover, nicht unplakativ, abgebildet, geht es Riboulet darum, die erwachende Sexualität und ihr Ausleben "wie ein Hund" in Verbindung zu bringen mit einem erwachenden politischen Aktivismus bis hin zum Terrorismus vor realen Ereignissen, in deren Zuge Menschen "wie ein Hund" abgeknallt und entsorgt werden. Riboulets Erzähler verwendet Techniken des nouveau roman wie etwa Wiederholungen ("wie ein Hund" fällt je Seite mindestens ein Mal), als auch scheinbar willkürliche Vor- und Rückblenden und anti-narrative Umkreisungen ein und desselben Ereignisses, Listen und Verflechtung von Textsorten wie Artikel und Episoden offizieller Berichterstattung, die kursiviert sich in den Lesefluss hineinschieben. Anders als ein Robbe-Grillet, eine Sarraute oder Butor fehlt Riboulet jedoch jegliche Disziplin und man weiß nicht, was der Grund sein könnte, "Und dazwischen nichts" zu schreiben (zu lesen) außer eine unfassliche Wut, Trauer, Leidenschaft angesichts einer völlig "vor die Hunde" gegangenen politischen Idee zu empfinden. Der Sozialismus und speziell die queeren Vertreter ihres organisierten Kampfes, zu denen sich der Erzähler rechnet, sind von Ohnesorgs Tod 1967 nicht nur wachgeschossen worden, sondern haben sich in Deutschland, Italien und Frankreich bis in die 80er Jahre hinein bekanntermaßen aufgerieben in einer Welle aus Gewalt und Gegengewalt bis in den Untergang. Riboulet zählt sie auf, die Ereignisse, die Gemeinheiten, die Morde und die Namen. Es geht nicht nur um Pasolini und Holger Meins. Es geht um Weggewischtes, Nichtaufgeklärtes und "Unbekanntes".
"[...] mitten im Rinnstein, wie tollwütige Hunde, deren Bisse man fürchtet, und ich habe schon einige von ihnen mit Namen genannt. Und ich erinnere auch an die Namen von Petra Schelm und Georg von Rauch, Thomas Weisbecker und Benno Ohnesorg, Pierre Overney und Gilles Tautin, Giuseppe Pinelli und Walter Alasia, ich werde endlich die Namen der siebzehn Opfer des großen Mailänder Balles vom Dezember 1969 nennen, die nichts andere taten, als die Halle zu durchqueren, und von denen der Neofaschist Vincenzo Vinciguerra achtundzwanzig Jahre später vor laufender Kamera sagen wird, sie seien der "Preis, der für den Notstand zu zahlen war", gewesen, ich schreibe sie hier ein, denn außerhalb der Bücher werden nie Kriegerdenkmale für die Toten des Friedens errichtet werden: Giovanni Arnoldi, 42 Jahre, Guilo China, 57 Jahre, Eugenio Corsini, 62 Jahre, Pietro Dendena, 45 Jahre, Carlo Gaiani, 37 jahre, Calogero Galaioto, 37 Jahre, Carlo Garavaglia, 71 Jahre, Paolo Gerli, 45 Jahre, Luigi Meloni, 57 Jahre, Vittorio Mocchi, 35 Jahre, Garolamo Papetti, 78 Jahre, Mario Pasi, 48 Jahre, Carlo Perego, 74 Jahre, Oreste Sangalli, 49 Jahre, Angelo Scaglia, 61 Jahre, Carlo Silva, 71 Jahre, Attilio Valè, 52 Jahre."
Der Erzähler, der von sich selbst schreibt: "Ich mache keine Geschichtsschreibung, ich mache auch keine Geschichten. Ich fühle mich der Zwischenzeit verpflichtet [...] um zu versuchen klarzusehen [...] wo ich heute stehe [...]" berichtet vom Erwachsenwerden, der sexuellen Initiation, den Liebschaften mit Massimo und Martin, ihrem Verlust und nennt das ganze "Refrains". So liest es sich tatsächlich. Ein brutales Stück Text mit einer leidenschaftlichen Botschaft, gewälzt, schmerzvoll wiederholt und in Trauer "ausgespien." Es ist radikal, was Riboulet tut. Klar und gut fassbar übersetzt von Karin Uttendörfer, nicht einfach zu lesen, und nicht immer lohnend im Sinne einer literarischen Gourmandise. Natürlich ist das so gewollt und es geht nicht um Pont-Neuf-Romanzen unter FHAR-Aktivisten. Es ist ein Stück Realität, serviert im Spiegel, aus der Feder eines Betroffenen, eines Zeugen, eines Gezeichneten. Harte Kost. Notwendig.
"[...] also ich bin vierzehn Jahre alt, ein etwas dreißigjähriger Arbeiter, muskulös und müde, zwingt meinen Blick dem seinen zu folgen, hin zu seinem Schritt und zur eindeutigen Wölbung seines einsamen und – wegen mir – aufgereckten Geschlechtsteils, mit der in den Augen verborgenen scheuen Hoffnung, ich würde ihn aus diesem Sekundärzustand, in den ich ihn versetzt hatte, wieder erlösen. Ich steige an derselben Haltestelle aus wie er, folge ihm, er lockt mich zu einem Pissoir in irgendeinem Untergeschoss, doch habe ich noch nicht die notwendige moralische Kraft, die paar Stufen hinter ihm hinunterzusteigen, mich in einem dunklen Winkel vor ihm hinzuknien und ihm einen zu blasen, was seinen Feierabend erleichtern würde, sie leben wie die Hunde, und ich kann nichts tun, weder die Fabriken einschlagen noch die Bosse abknallen, und anstatt seine Nutte zu werden, entflamme ich, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein, diesen schönen Mann, am Ende seiner Kräfte, das Gehirn betäubt von der Arbeitsnorm, die Muskeln von unnatürlichen Bewegungen verspannt, der Schwanz aufgerichtet vom Elend, Hunde ohne Frauen, ohne Liebe und ohne Ruhm, ich lass' ihn so stehen, ohne die Treppe runterzugehen, mit vierzehn sehe ich weiß ich spüre ich, aber ich kann noch nichts tun, es ist noch nicht so weit, doch lange wird es nicht mehr dauern, es ist fast so weit. Sexuelles Bewusstsein und politisches Bewusstsein sind ein und dasselbe, Schwulsein deklassiert dich in null Komma nichts."
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