Fix Zone

Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik 2017

Redaktion: 

Der Lautdichter und virtuose Stimmperformer Valeri Scherstjanoi (geb. 1950 in Kasachstan, lebt seit 1981 in Berlin) hält die diesjährige Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik. Seine beiden Vorlesungen, am 14.6. und am 21.6., jeweils 19 Uhr an der Universität Wien, stellt er unter den Titel Zwei Generationen. Zwei Weltkriege. Eine Avantgarde. Poetologisch-autobiografische Skizzen.

Valeri Scherstjanoi über Herkunft und Programmatik seiner Dichtung:

Mit meiner Arbeit knüpfe ich an die Traditionen der Lautkunst, der avantgardistischen Lautdichtung vom Beginn des 20. Jahrhunderts an. Von großer Bedeutung ist für mich die weitere Entwicklung der Lautdichtung im Kontext der deutschen konkreten Poesie, der französischen und italienischen Poesia Sonora und des Lettrismus. Die von mir ausgearbeitete »ars scribendi/poesia sonora = Scribentismus, die scribentische Kunst« besteht aus verschiedenen Lautzeichen, sowohl auf dem Papier (scribentische Notationen) als auch im Zeitraum während der Performance (visuelle Lautmassen). Die »scribentische Lautpoesie« ist eine Dichtung, die das rationale Verstehen zugunsten der reinen Klänge ignoriert und auf emotionaler Ebene neue Kommunikationen zu schaffen sucht. – Zum Beispiel sind das »scr« in scribere und »Scherst« (Wortstamm meines Namen) lautmalerisch verwandt: scrubber, scrub, scrib, scribtum, scriptural, Geräusch, Geraschel, knirschen, oskrebsh, schelest, scherst (Wolle).

Zu seinen Poetikvorlesungen führt er aus:

Im Teil 1 geht es um meinen Weg zu Chlebnikow und seinen Mitstreitern (Majakowski, Kručenych, Kamenski), um mein Leben in der Sowjetunion bis zur Übersiedlung in die DDR, um die geografische Nähe (es war das Erzgebirge, Schneeberg, wo ich zuerst wohnte) zu Carlfriedrich Claus und um Ernst Jandl, wie ich ihn während seines Abends im tip-Theater des Palastes der Republik kennengelernt habe. Im Teil 2 werde ich über mein eigenes Werk (Lautdichtung, Scribentismen) sprechen. Während beider Vorlesungen werde ich selbstverständlich zahlreiche Lautgedichte vortragen und einige Bilder zeigen.

Die Poetik-Dozentur ist auch dieses Jahr in einer Lehrveranstaltung des Instituts für Germanistik unter der Leitung von Thomas Eder verankert, der auch die beiden Vorlesungen Scherstjanois an der Universität sowie ein öffentlich zugängliches Konversatorium in der Alten Schmiede am Freitag, 23.6., von 17 bis 19 Uhr, moderiert.
Von Scherstjanois Vorlesungen ausgehend und auf sie vorbereitend untersucht die Semestervorlesung die Theorie und Praxis der Lautdichtung. Lautgedichte und auditive Aspekte beim Lesen und Verstehen von Poesie gelten mitunter als randständige Bereiche der literaturwissenschaftlichen Forschung, die stattdessen auf den geschriebenen Text als die Grundlage der wissenschaftlichen Analyse von Gedichten konzentriert war. Die Vorlesung rückt die auditiven, oralen Momente an der Produktion und Rezeption von Dichtung ins Zentrum.

Valeri Scherstjanoi Foto: gezett Valeri Scherstjanoi, *1950 in Sagiz (Kasachische SSR), am Verbannungsort der Eltern. Seit 1968 Lesungen eigener Gedichte und Gedichte der russischen Futuristen. 1971–1976 Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Krasnodar, 1979 Übersiedlung in die DDR, lebt seit 1981 in Berlin. Lautdichter, Hörspielautor und Zeichner (Scribentist). 1983 erste Lautgedichte, 1988 Programm der scribentischen Lautdichtung formuliert. Seit 1989 Teilnahme an internationalen Festivals der Lautpoesie, an Symposien und Colloquien. 1994–98 künstlerischer Leiter des Internationalen Festivals der Lautpoesie bobeobi in Berlin. 2009/2010 Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 1977 zahllose Publikationen, etwa Künstlerbücher mit Hartmut Andryczuk, Michael Lentz u.a., Herausgeber von Tango mit Kühen. Anthologie der russischen Lautpoesie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1998); zuletzt: lauter scherben. Texte, Zeichnungen, Chronik (2008); Mein Futurismus (2011); Alexei Krutschonychs »Phonetik des Theaters« 1923 (2011).

Thomas Eder, *1968, Literaturwissenschafter und -vermittler. Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien, leitet die Abteilung Publikationswesen im österreichischen Bundeskanzleramt. Jüngste Publikationen: Brigitte Kronauer/Alexander Nitzberg/Ferdinand Schmatz: Dichtung für alle. Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik (hg. mit Kurt Neumann, 2013); Kosmöschen Steiger (Hg., 2015); Konrad Bayer. Texte – Bilder – Sounds (hg. mit Klaus Kastberger, 2015); Selbstbeobachtung. Oswald Wieners Denkpsychologie (hg. mit Thomas Raab, 2015).

Die Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik
wurde von der Alten Schmiede im Jahr 2010 gemeinsam mit dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und dem Institut für Germanistik der Universität Wien sowie der Gesellschaft zur Erforschung von Grundlagen der Literatur und mit Zustimmung der Dichterin Friederike Mayröcker im Namen des vor damals zehn Jahren verstorbenen Dichters begründet. Jedes Sommersemester wird eine für die deutschsprachige oder internationale Dichtung namhafte Persönlichkeit nach Wien eingeladen, um über jeweils als wichtig erachtete allgemeine oder spezielle literarische Themen und Fragestellungen zu sprechen.
Eine begleitende Lehrveranstaltung am Institut für Germanistik der Universität Wien nimmt auf das Werk des jeweils eingeladenen Autorengastes Bedacht und befasst sich mit Aspekten der Gegenwartsdichtung, mit Grundfragen der Poetik, mit Lyrikanalyse und Theorien der Dichtung, sprachsozialen Aspekten von Dichtung.

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