und starrte auf das blöde Meer
Dieses Jahr ist im Doppelpack je eine Anthologie mit Gedichten und mit Prosa (Erzählungen) aus dem Ostseeraum bei Reinecke & Voss herausgekommen. Herausgegeben von Matthias Friedrich und Slata Kozakova und unterstützt von einer großen Zahl Übersetzer, bieten die beiden schlicht und unaufdringlich editierten Bände eine Übersicht zu hauptsächlich jüngeren AutorInnen der Länder rund um die Ostsee. Weniger AutorInnen aus Russland oder Polen finden den Weg in die Anthologie als vielmehr ein Gros aus den baltischen Staaten und Skandinavien inklusive Norwegen und Island.
In Weniger eine Leiche als vielmehr eine Figur ist augenscheinlich, dass nicht nur die Schreibansätze unterschiedlich sind, sondern auch der Ton des Schreibvortrags. Wobei hier nur die Übersetzerarbeit vorliegt natürlich. Einige AutorInnen wirken etwas bemüht und scheinen noch nicht ganz dort zu sein, wo sie nach ein, zwei Veröffentlichungen mehr sicher sein werden – doch auch sie kommen auf stellenweise sehr gelungene Ansätze, andere hingegen sind durchgängig souverän und nicht nur inhaltlich überraschend und unterhaltsam, sondern dazu auch formal experimentierfreudig.
Der Band ist in drei Kapitel geteilt, die heißen: Hier ruht ein Durchschnittsmensch, Eine große Einsamkeitsfabrik und So wächst in einem Spalier ein Rosenstock. Wie man vielleicht erwartet, herrscht jeweils eine bestimmte, eventuell kann man sagen länderspezifische, Stimmung bzw. Kolorit in den Erzählungen. So etwas wie Schnee, Nacht und Kälte kommen genauso vor, wie undurchsichtige Bürokratien, Grenzen, Angst und Existenzialismus. Es ist spannend, solcherart in die Geistes- und Erlebniswelt mit den jeweiligen spezifischen Erwartungen der ProtagonistInnen zu tauchen. Ein Reisen, ohne fortzumüssen.
Beeindruckend neben diesen hintereinander geschnittenen "Länderimpressionen" sind vor allem drei Erzählungen. Die erste stammt aus Island und ist vom dem jungen Einar Lövdal. Sie trägt den Kapiteltitel Hier ruht ein Durchschnittsmensch und handelt von einem absurd missglückten Abend in Reykjavik, der im Sinne einer rabenschwarzen Komödie baden geht in einem dünneisigen Ententeich. Spoileralarm! Hier das großartige Ende:
"Und nun lag er also auf dem Grund des Teiches von Reykjavik und blickte seinem letzten Atemzug nach, der in Form einer Luftblase über ihm aufstieg. Der letzte Tag, ähnlich unspektakulär wie die anderen 9000 zuvor. "Wahrscheinlich ist das meine größte Leistung, hier im Teich zu ersaufen", dachte er. "Der erste Einwohner von Reykjavik, der im Stadtteich ertrinkt" – war das nicht etwas Hervorragendes? Die Behörden der Stadt und seine besten Freunde würden ihm womöglich ein Denkmal errichten.
Hier ruht ein Durchschnittsmensch. Er war auf verschiedenen Gebieten gut, aber auf keinem hervorragend.
Ach, nein, da lag doch tatsächlich sein Smartphone neben ihm auf dem Grund, und – kaum zu glauben – es funktionierte sogar. Kurz bevor alles schwarz wurde, der Bildschirm seines Handys, der nächtliche Himmel, das Wasser, das ihn umschloss, sah Fridrik eine neue Nachricht grün auf dem Display aufleuchten. Anna hatte ihm endlich eine Antwort geschickt:
sorry hab eben erst sms gecheckt! bin im babar, dein freund atli is auch hier, willste nich vorbeikommen? :)"
Ebenfalls beeindruckend die litauische Geschichte Das Cello von Alvydas Slepikas, bei der wie bei einer klassischen short story alle Elemente minimalistisch und überschaubar miteinander spielen, bis eine trotzdem ungeahnte fantasievolle Auflösung Erleichterung verschafft. Im nächsten Kapitel sticht Karl Emil Rosenbaeks dänische Initiationsfabel Verbum heraus, die konsequent in einer Perecschen Du-Ansprache gehalten ist und ein wenig an eine dänische (Kurz-) Variante von Das Ende von Eddy erinnert.
Ebenfalls sehr gelungen ist die Erzählung Warschauer Meditationen der Ukrainerin Natalka Snjadanko über ukrainische BesucherInnen eines Warschauer Kurses in Transzendentaler Meditation, die geschickt mit Gender und Ausgrenzung, Bürokratie und Erotik spielt, dabei klug ihren eigenen Kosmos aufbaut und an keiner Stelle nachlässt. Das dritte Kapitel bringt die experimentellsten Erzählungen, allerdings auch die wenigsten Zünder unter ihnen. Insgesamt ist das Buch aber sehr zu empfehlen für alle, die sich einen aktuellen Überblick verschaffen wollen, was im Ostseeraum literarisch vor sich geht, am besten in Kombination mit dem Lyrik-Band. Einige Entdeckungen warten in jedem Fall und es ist nicht nur den hier hervorgehobenen AutorInnen zu wünschen, dass sie die (internationale) Aufmerksamkeit erlangen, die ihnen zusteht.
An der Ausgabe beteiligte Autor_innen: Jukka Ahola, Iris Backlund, Kristiina Ehin, Hanneleele Kaldmaa, Maria Kjos Fonn, Einar Lövdahl, Svein Jarvoll, Auður Jónsdóttir, Anna Maria Mäki, Karl Emil Rosenbæk, Agnese Rutkēviča, Alana Saul, Alvydas Šlepikas, Natalka Snjadanko, Pär Thörn, Kári Tulinius.
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