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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Balkanische Parallelaktionen

Miroslav Krležas monumentaler Roman rund um den Ersten Weltkrieg erstmals in deutscher Übersetzung
Hamburg

Südosteuropa ist eine Region, die die Phantasie der Zeitgenossen beflügelt. Das war schon immer so. Unzählige Publikationen haben sich mit der Wahrnehmung des Balkans über die Jahrhunderte hinweg befasst. Die Beurteilungen variieren. Sie reichen, in Anlehnung an Edward Saids Orientalismus-Konzept, von einem Bild des Balkans als dem grundlegend andersartigen Teil Europas; bis hin zur Beschreibung der Region als der vergessenen Enklave des Kontinents. Allerdings vermag keine der beiden Lesarten zu überzeugen. Tatsächlich war das westliche Interesse an Südosteuropa spätestens seit dem 19. Jahrhundert beachtlich. Zumindest dann, wenn die Region von Kriegen heimgesucht wurde, was nicht gerade selten der Fall war. Die Bewertungen der Zeitgenossen variierten, abhängig von der weltanschaulichen Verortung. Was für die einen der heldenhafte Kampf kleiner Nationen gegen einen vermeintlich übermächtigen Okkupator, sei es in Gestalt der Osmanen oder der Habsburger, war für die anderen ein feindseliger Angriff auf die mühsam austarierte Ordnung Europas.

Womit eine zweite historische Eigenart der Region benannt ist: Südosteuropa war spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein Spielball der europäischen Mächte. Und ist von diesem Status, blickt man auf die russischen Versuche der Einflussnahme in Serbien, bis heute nicht vollständig losgekommen. Verwerfungen auf dem Balkan, davon waren die Menschen bereits Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges überzeugt, verfügten über das Potenzial, ganz Europa in Mitleidenschaft zu ziehen. Entsprechend sensibel reagierte man auf die zahlreichen Konflikte in der Region.

Und noch eine Besonderheit: Kriege in Südosteuropa unterschieden sich aufgrund ihrer Gewaltintensität grundlegend von denen im übrigen Europa. Erst der Erste Weltkrieg brachte hier eine Zäsur. Zugespitzt kann man sagen, dass Europa im Jahr 1914 das Modell eines Volkskrieges übernahm, das in den Jahren zuvor auf dem Balkan grausam erprobt worden war. Ursächlich für die besondere Gewaltintensität war die spezielle historische und politische Gemengelage in Südosteuropa. Diese war dadurch geprägt, dass sich Fragen der nationalen Zugehörigkeit permanent im Fluss befanden und die Grenzen der ersehnten Nation praktisch nie mit denen der vorhandenen Staatlichkeit in Einklang zu bringen waren.   

Dieses „Laboratorium“, das zahlreiche Komponenten des europäischen 20. Jahrhunderts vorwegnahm, ist der historische Rahmen von Miroslav Krležas monumentalem Roman „Die Fahnen“, der auf rund 3.000 Seiten und verteilt auf fünf Bände nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Die Übersetzung lieferten Silvija Hinzmann und Gero Fischer. Im Kroatischen Original ist der Text ab 1962 erschienen. Die Handlung des Romans ist zwischen 1912 und 1922 angesiedelt, vom Ersten Balkankrieg bis zum Ende des Griechisch-Türkischen Krieges, der den territorialen Zuschnitt der Region bis auf weiteres manifestierte.

Gleichwohl handelt es sich bei „Die Fahnen“ nicht um das Genre, das man üblicherweise als historischen Roman bezeichnen würde. Kenntnisse der besonderen geschichtlichen und politischen Gemengelage der Zeit sind daher, nicht anders als bei anderen großen Werken der Literatur, wie etwa dem von der Kritik gerne mit Krleža verglichenen Musil’schen „Mann ohne Eigenschaften“, für das Verständnis hilfreich – zumal der Autor selbst auf die Erläuterung des durchaus komplexen äußeren Rahmens weitgehend verzichtet. Dieser liefert vielmehr die Kulisse für die eigentliche Handlung, einen Generationenkonflikt, ausgetragen in der Familie Emericki.

Kamillo Emericki steht auf der Seite des Aufbruchs, der Moderne. Anders als heute hieß das, dass er den Nationalstaat wollte, eine kroatische Nation, mit klar definierten Staatsgrenzen, losgelöst aus den Fängen der morschen k.u.k Monarchie. Dafür setzt er sich ein, in unzähligen Debatten und als Publizist, mit spöttisch-scharfen Beiträgen gegen die verkrustet Obrigkeit und den Status Quo. Sogar den Adelstitel seiner Familie legt er ab, um auch augenscheinlich jede Verbindung zu den Herrschenden in Wien zu unterbinden.

Seinen größten Widersacher findet Kamillo aber nicht in Wien, sondern in der eigenen Familie. Sein Vater, ebenfalls Kamillo, ist nicht nur Anhänger der bestehenden Ordnung, sondern auch eine ihrer Stützen, nach dem Ersten Weltkrieg wird er sogar Minister in Serbien.  Der Senior verfolgt die politische Agitation seines Sohnes mit offenkundigem Widerwillen. Gleichwohl ist das Verhältnis dadurch nicht zerrüttet, wie man das vielleicht annehmen könnte. Stattdessen setzt sich der Vater immer wieder dafür ein, den Junior vor allzu großen Repressionen zu verschonen. Was freilich nicht dazu führt, dass jener seine Überzeugungen ablegt. Zahlreiche Dialoge zwischen den beiden, in denen die politischen und historischen Entwicklungen erörtert werden, geben davon ein eindrucksvolles Zeugnis. Überhaupt erinnert die Form des Buches mit seinen schier endlosen Monologen und Dialogen bisweilen an die aufeinanderprallenden Ideenwelten des „Zauberbergs“. Eingefangen ebenfalls in einem, hier familiären, Mikrokosmos, kurz vor Ausbruch bzw. während des Ersten Weltkrieges.

Doch auch das Ende des großen Krieges, mit dem das Habsburgerreich endgültig besiegelt und der Siegeszug des Nationalstaates unwiderruflich war, führte nicht dazu, dass Kamillo Junior seine fortschrittlichen Ideen in der Wirklichkeit angekommen sah. Weiterhin befand sich der Südosten im Schatten der übermächtigen westlichen Zivilisation. Und für Kamillo, mittlerweile dem Marxismus verpflichtet, geht der Kampf für eine vermeintlich gerechtere Ordnung in seiner Heimat weiter – ein Kampf, der nicht nur die Region, sondern weite Teile des Kontinents in den darauffolgenden Jahrzehnten maßgeblich prägen sollte.

Miroslav Krleža teilt das Schicksal zahlreicher Autoren, man denke an André Gide, die zu Lebzeiten vielbeachtet waren, danach aber weitgehend in Vergessenheit gerieten. (Anders als Gide wurde Krleža der Nobelpreis vorenthalten, wenngleich er dafür immer mal wieder im Gespräch war.) Dass sich daran mit der deutschen Ausgabe der „Fahnen“ etwas ändern wird, davon ist aufgrund von Länge und Komplexität des Werkes nicht auszugehen. Jedoch schließt die Veröffentlichung eine Lücke in der Reihe der großen europäischen Romanwerke des 20. Jahrhunderts, welche in deutscher Sprache zugänglich sind. Eine Lücke, von der die Leser ohne das Engagement des Wieser Verlages und der beiden Übersetzer womöglich nie etwas geahnt hätten.

Miroslav Krleža
Die Fahnen
Roman in 5 Bänden
Aus dem Kroatischen übersetzt von Gero Fischer und Silvija Hinzmann
Wieser Verlag
2016 · ca. 3000 Seiten, fünf Bände im Schuber · 75,00 Euro
ISBN:
978-3-99029-201-3

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