Hinweise auf die Wort-Wirklichkeit und das Versprechen der Sprache
Das ist schon mal ein trefflicher Titel: Vorbehaltfläche. Der Begriff steht in keinem Wörterbuch. Er ist ein Fundstück, mit ihm wird in der Leipziger Straßenbahn die für Kinderwagen und Rollstühle freizuhaltende Fläche bezeichnet. Als poetisches Signalwort verwendet, erweitert sich natürlich seine Dimension: Das Gedicht als Vorbehaltfläche hält den Raum frei für Einwände, Vermutungen, Vorhaltungen und Nachfragen.
Wolfram Malte Fues, geboren 1944, lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität Basel; die Spannweite seiner zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen reicht von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Mit seinem nunmehr dritten Gedichtband – nach Verletzte Systeme (1994) und Fremdkörpersprachen (2001) – empfiehlt sich der Autor als Vertreter einer lyrischen Forschungsarbeit, die mit ihren (Spiel)Feldstudien Wort und Welt in Ablauf und Zuspiel erkundet. Erinnert sei an Autoren wie Franz Josef Czernin mit seiner poetischen Ursprungslehre elemente, sonette und Ferdinand Schmatz mit seinen Bibel-Paraphrasen das grosse babel,n, an Oswald Egger, der die Herde der Rede auf die Sprachweide treibt, und Ulf Stolterfoht mit seinen Fachsprachen-Exerzitien. Fues stellt sich ihnen mit eigenwilligen Texten zur Seite, kenntnisreich wie spielerisch nutzt er die Verfahren moderner und postmoderner Poetik.
Dem Wort wird zielgerichtete Tätigkeit zugeschrieben: »Wenn der Mond mit dem Wort / das ihn wechselt, / die Farbe / wechselt ... « (S. 13) Es handelt sich um handelnde Wörter »der dichterischen Übersteigung oder Unterwanderung«.1 Immer wieder werden wir darauf hingewiesen, daß wir uns in einer Wort-Wirklichkeit bewegen. »Die Herbsttage zwischen den Wörtern / sind kürzer und kälter geworden. / unter den Grundsätzen wächst / Taumellolch, Bilsenkraut, Nessel / Selbstlaute schleifen sich silbig / an Streusalz und Scharlach.« (S. 109)
Ein Kriterium für die Bewertung von Literatur ist, wie sie sich auf die Sprache – genauer: die Sprachen – ihrer Zeit einläßt. Eben dies tut Fues’ Lyrik in hohem Maße und mit stupendem Wortreichtum. Alltagssprache und Wissenschaftssprache durchdringen sich; Abstrakta und Konkreta begegnen sich auf den Passagen zwischen Ding- und Wortwelt; historische und mythologische Verweise fehlen nicht. Die Sprache und die Vorgänge moderner Informatik werden genutzt; die Bildsprache des Gedichts ist häufig auch eine Bildschirmsprache. Nicht länger heißt es: »Wie sich Bild an Bildchen reiht... « (Trakl), sondern: »Wie sich die Welle / an Welle reiht«. (S. 22) Das Gedicht »Zeitversuch II« schließt: »... Das Rennboot / reckt sich, als ritt’ es auf geradezu / ebenem Kiel durch den Spiegel / aus dem Stoff, aus dem Schwebe / gemacht wird, ein Meer / aus Speichern und Schöpfern, kein / Durchkommen möglich.« (S.16)
Der Alltag liefert auch diesen Gedichten das Material, aber natürlich kann ein gutes Gedicht kein »Alltagsgedicht« sein, insofern jener eben durch gewohnte Abläufe und klischierte Wahrnehmungen charakterisiert ist. Die festen Verknüpfungen aber von Bildern und Begriffen werden aufgelöst in einer Dichtung, die den »Alltag aus (!) dem Griff kriegen will«2; der Alltag verschwindet in komplexen Wirkungen, in der Wirklichkeit als anhaltender und vorhaltender Schöpfungsgeschichte. Gedichte sind Versuchsabläufe und Protokollstrecken, die jeweils den Ablauf der Welt(en) zeigen und bezeugen. Ihr Gegenstand sind gleichsam »die Faltungen der Materie und die Falten in der Seele«, wobei gilt: »Das Vielfältige ist nicht nur dasjenige, was viele Teile hat, sondern was auf viele Weisen gefaltet ist.«3
Das Gedicht komprimiert die Informationen auf dem Speicherplatz einer Seite, indem das Redundante an Schilderungen und Beschreibungen, die Verknüpfungen zwischen Assoziationen, Bildern und Begriffen ausgespart werden. Es ist ein Chip mit hoher Informationsdichte. In gewisser Weise muß der Leser diesen Vorgang rückgängig machen, er muß, ausgehend von den diskreten Anmutungen von Laut und Sinn, vermutend herauslösen und sondern, was sich in den Falten des Gedichts verbirgt. Das Bild der Falte ist freilich mehr räumlich bestimmt, das Gedicht aber ist ein Prozeß, der Prozesse bündelt; insofern wäre von Plissieren und Entfalten zu sprechen, auch das befriedigt nicht angesichts der Strudel und Wirbel in den Texten, die mehr durch Gedankensprünge als durch Gedankengänge, mehr durch Bildsprünge als durch Bildfolgen charakterisiert sind.
Das macht die Lektüre nicht eben leicht. Das »Durchkommen« gestaltet sich bei den einzelnen Texten unterschiedlich schwierig, manchmal seufzte der Rezensent: »Kein Durchkommen möglich.« Fues’ Gedicht will nicht forschen Fußes durcheilt werden, sondern eher umsichtig, um sich sehend, durchforscht. Dies vorausgesetzt, ist das Verständnis abhängig von der gemeinsamen Schnittmenge von Inbild und Inbegriff, die es jeweils zwischen Autor und Leser gibt. Der bulgarische Lyriker Atanas Daltschew brachte dies auf die Formel: »Jeder Stil ist ein Kompromiß zwischen individuellen und allgemeingültigen Ausdrucksformen. Ist er nur durch die ersteren geprägt, läuft er Gefahr, unzugänglich zu bleiben. Beschränkt er sich nur auf die zweiten, ist er bereits Schablone, nicht mehr Stil.«4
Eine spielerische Leichtigkeit zeichnet die folgende Passage aus, sie kommt leichtfuesig daher, der Leser wird ermutigt, gleitendem Sinn zu folgen, wiewohl er weiß und immer wieder erfährt, daß der gleitende zugleich der nicht einzuholende, der entgleitende Sinn ist. »Hanna, Peter / Ursula, Fritz / Kontext, Kontest, zu Kopf mit dem Rest / das er Außen mit Außen verränd’re / bis hinter die Augenwinkel. / A : B = C : D / mainstreet, stream / of self-consciousness / gleitend, steigend, springend und doch / Steinbänke, alle Variablen / trotz bleibendem Algorithmus / doppelt codiert generiert.« (S. 42) Solch assoziativ-reihende Struktur gibt dem Leser größere Freiheit als die Quasi-Aussage über einen Sachverhalt, den er auszulegen angehalten ist: »Auch Wasserspiegel stellen sich um / angesichts zunehmend niederer Zweifel / an den Heimwehfibern im Filigran / der Planetenbrücke.« (15) Gegensätzliche Lesevorgänge prägen die Lektüre: einerseits das allmähliche, oft mühsame Verfertigen von Sinn und Bedeutung, das Abgleichen der Begriffsbilder mit den eigenen Vorstellungen wie Nachstellungen, das ständige Revidieren von Fest-Stellungen; andererseits das unmittelbare Einleuchten von Zusammenhängen – das Verstehen vor dem Verstehen –, eine Überwältigung, wie sie der Lyrik eigen sein kann und beispielsweise das Schlußbild des Gedichts Der Kirschbaum nachhallen läßt: »Koordinate: Der neue Mensch / eine Laubsäge-Arbeit / in äxtlich gellender Luft, den Notruf / des fallenden Kirschbaums bis mitten ins Herz / seines Handys verlängernd.« (S. 25)
Die (Alltags)Sprache ist eine Sprache der Wiederholung, auf die der Dichter zurückgreifen muß und der er zu entkommen, der er mit seiner Widersprache zu entgegnen sucht. »Oh dass ich tausend Fingerkuppen hätte / für tausend mal tausend Begriffe / unbekannte Synapsen / für Lücken im Hochleistungsnetz / frei von Wiederholung / wie sie die Schaumsplitter lieben.« (S. 85) Das Versprechen der Sprache – Worte sind flirrendeWink-Elemente – geht nicht ohne Sich-Versprechen ab, Wiederholung zieht nach sich Abweichung und Differenz; Fues nutzt die wohl aus der surrealistischen écriture autiomatique stammende Poetik des Hör- resp. Schreibfehlers. Die daraus sich ergebenden Verschiebungen und Verrückungen sind dem Lesevergnügen dienlich, wie überhaupt neben der tieferen Bedeutung Humor und Ironie ihren wichtigen Part spielen. Einige Beispiele: »Ich und dein Leib / pixelt der Tod / sind ein Fleisch / wir lieben und stücken einander / zu helleren und dunkleren Tagen.« (S. 77) Statt: ... wir lieben und stützen einander in helleren und dunkleren Tagen. Von den »nächstliebenden« (statt: nächstliegenden) Zahlen ist die Rede (S. 47), von »Hanfschellen« statt:Handschellen (S. 80). – »Jedes Fenster zum See / zeugt an der fehlernden Stelle / immer neu überbotenen Argwohn / aus Zeichen und Zeile«. (S. 111) – »In der Baumschule werden / keine Zweigfel gelehrt ...« In das Sprechen des Gedichts aber wird das Fehler- und Zweifelhafte einbezogen, wobei sich zeigt, daß eben dort das »Falsche«, das Entregelte am richtigen Platz ist: Vorbehaltfläche Gedicht.
Die Stunde des Gedichts ist die Geisterstunde, sein Spiel ein Schattenspiel, bei dem es im Wortzauber von Anklang und Gleichklang gleichwohl stilistisch mit rechten Dingen zugeht: »Am Buffet // stehen die Toten an / im weißen Dinner-Jackett / mit Teller und Glas / hungrig / nach Wie statt Wohin / durstig / nach all den Adverbien, auf die / sie anstoßen werden. Während / ich warte, dass jemand / mit dem Knöchel ans Glas schlägt / weiß ich, wartend, die Worte / fürs Warten nicht mehr. Weiß / überholt mich mein Schatten, als wäre / er während, während / er Teller und Glas / mit den Worten abtastet, die das Warten nicht findet.« (S. 22)
Die Texte muten oft hermetisch und kryptisch an; sie bedürfen ihrer immensen Verdichtung wegen der Ausfaltung und Auslegung. Aber hier kommt auch ein ontologisches Moment zur Geltung; erst die gänzlich entfaltete, also tote Welt wäre geheimnislos. Fues’ Es – was ist dies für ein Es, was ist es für ein Geschehen, das im Vorübergehen sein Geheimnis bewahrt? »Es, insofern es bei allem / Verständnis zu spät /und als Grund kommt, geht / vorüber. Was / übrig bleibt, ist / wie ich sagen will, mehr / als Versprechen, es – pscht.« (S. 33) Oder ist es am Ende doch nur ein Pronomen?
Anmerkungen:
1 Ferdinand Schmatz, Nachbemerkung, S. 116.
2 Ebd., S. 117.
3 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 1995, S. 11.
4 Atanas Daltschew: Fragmente, Leipzig 1980, S. 61f.
Fixpoetry 2009
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben