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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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Kritik

Mopsa Sternheim und Gottfried Benn

Hamburg

Mopsa Sternheim ist zwölf Jahre alt, als sie Gottfried Benn zum ersten Mal sieht. Er ist 20 Jahre älter als sie, Arzt und Dichter. Ihre Eltern, die Autorin Thea Sternheim und der Bühnenautor Carl Sternheim, laden Benn in ihr prunkvolles Heim, Schloss Hulpe in Belgien, ein. Mopsas Mutter ist begeistert von Benns Gedichten, sein Gedichtband „Morgue“, mit Gedichten aus dem Leichenschauhaus, treffen anscheinend nicht nur den Nerv der Zeit, sondern auch den Geschmack von Thea Sternheim.

Für Mopsa soll der Besuch Benns weitreichende Folgen haben: Sie verliebt sich in den Mann, obgleich er äußerlich nicht schön und alles andere als ein treuer und zuverlässiger Liebhaber ist. Mopsa soll von diesem Mann in ihrem kurzen Leben nur schwer loskommen (sie stirbt 1954, neun Jahre nachdem sie aus dem KZ Ravensbrück befreit wird, an Krebs).

Lea Singer spürt in ihrem Roman „Die Poesie der Hörigkeit“ dem bewegten und tragischen Leben Mopsa Sternheims nach. Die Autorin kann für ihre Arbeit auf eine solide Quellenlage zurückgreifen: Sowohl Mopsas Briefe und Tagebuchaufzeichnungen als auch Thea Sternheims Tagebücher und ihr Briefwechsel mit Gottfried Benn liegen in der Edition von Thomas Ehrsam und Regula Wyss beim Wallstein Verlag vor. Die zahlreichen Auszüge aus den Briefen und Notizen der beiden Frauen, die Singer in ihren Roman hinein collagiert, vermitteln Authentizität und Glaubhaftigkeit. Die Lebendigkeit des Buchs ist jedoch nicht allein der Einbindung der Quellentexte zu verdanken, sondern vor allem auch Lea Singers Fähigkeit, sich der Person Mopsa Sternheims anzunähern und ihre Sichtweisen einzunehmen.

„Die Poesie der Hörigkeit“ ist durchgängig in der Perspektive Mopsas geschrieben. Beginnend mit den Beobachtungen und Reflexionen einer Zwölfjährigen (die ihren Altersgenossinnen in vieler Hinsicht weit voraus ist) findet Lea Singer immer wieder den authentischen Sound ihrer Protagonistin Mopsa. Singers Figur der Mopsa ist in ihrem Denken und Handeln der historischen Mopsa (eigentlich Dorothea) Sternheim, wie sie uns in ihren eigenen Texten und den Beschreibungen der Mutter entgegentritt, sehr nah. Die vielen Brief- und Tagebuchauszüge sind – gemeinsam mit Gottfried Benns Gedichten – so homogen in den Romantext eingewoben, dass ein organisches Ganzes entsteht.

Das Leben Mopsas steht von Beginn an nicht unter besten Vorzeichen. Obwohl leibliche Tochter Carl Sternheims wächst sie zunächst beim ersten Mann der Mutter auf und darf erst mit sieben zu ihrem „richtigen“ Vater ziehen. Dieser „richtige Vater“ belästigt und bedrängt das Mädchen sexuell. „Setzte sich Mopsa auf seinen Schoß, küsste er sie nie auf die Wange, nur auf den Mund“, zog sie sich aus, „stand er plötzlich im Zimmer“.

Die Ehe der Eltern ist instabil, immer wieder betrügt Sternheim die Mutter, das Familienleben ist alles andere als harmonisch, oft gerät der Haussegen in Schieflage. Thea Sternheim verspricht ihren Kindern ein „großes, tiefes Aufatmen“ anlässlich eines Umzugs an den Bodensee. „Dort wartet auf uns das Glück.“ Mopsa traut den Ankündigungen nicht: „Abseits von Lärm und Hektik, hatte der Vater gesagt. Was Mopsa nicht verstand. Er zog doch mit.“

Der Beziehung Thea Sternheims zu ihrer Tochter fehlt zeitlebens die Wärme. Zwischen beiden kommt es immer wieder zu Rivalitäten in Bezug auf Gottfried Benn. „Vor keinem der Geschwüre bei Benn ekelte es Thea. Die Gefühle ihrer Tochter mied sie wie Erbrochenes.“

Bereits der Hauslehrer der Familie führt Mopsa und ihren jüngeren Bruder an Alkohol und Drogen heran. „Macht das Dunkel hell und die Kälte warm“, bewirbt er die Flüssigkeit, die er den Kindern verabreicht und „Milch des Paradieses“ nennt. Zwei Gläser, danach war Mopsas Bruder Klaus „auf die Kissen gekippt und regte sich nicht mehr.“ Durch den Hauslehrer lernt die Zwölfjährige Gottfried Benns Gedichte kennen. „Morgue“, die Berichte aus dem Leichenschauhaus.

Mopsas Hingabe an Benn dauert lange. 1932, Benn ist Mitglied der Preußischen Akademie, gelingt es ihr endlich ihn in seiner bürgerlichen Existenz zu erkennen. Findet ihn spießig, größenwahnsinnig und lächerlich. „Das Lachen brach aus und riss das Idol vom Sockel. Scheppernd zersprang es, als wäre es innen hohl gewesen.“

In ihrem Mopsa -Roman bemüht sich Lea Singer erst gar nicht um eine objektive Darstellung des Menschen Gottfried Benn. Man erlebt ihn aus der Brille Mopsas und Theas als egozentrischen und rücksichtslosen Mann im Umgang mit Mopsa und seinen anderen Frauen; als Opportunisten, wenn es um seine politische Position während des Nationalsozialismus geht.

Weder Mopsa noch ihrem Bruder gelingt es, ein eigenständiges und glückliches Leben zu führen. Künstlerische Projekte misslingen, die Drogensucht greift immer mehr Raum im Leben der Geschwister. Als sie aus Nazi-Deutschland ins Exil müssen, ist den „Sternheim-Kindern“ der letzte Halt genommen.

Singers Roman ist auch ein Panorama der Künstlerszene der 1920er Jahre. Enge Freunde Mopsas sind die „Dichterkinder“ Erika und Klaus Mann und Pamela Wedekind, mit denen Mopsa 1925 gemeinsam ein Theaterprojekt realisiert. Pamela, Klaus Manns Verlobte, heiratet später den 28 Jahre älteren Carl Sternheim, den Vater Mopsas.

Weder in ihren eigenen Aufzeichnungen noch in Lea Singers Roman wird Mopsa jemals larmoyant. Anstelle von Selbstmitleid erlebt man die brillante Intelligenz und den selbstkritischen Humor Mopsas, der auch in schlimmsten Zeiten nie völlig versiegt. „Nicht einmal Leid hält bei mir lang.“, schreibt Mopsa in ihr Tagebuch. „Das weiß ich von Anfang an.“

Lea Singer
Die Poesie der Hörigkeit
Hoffmann & Campe
2017 · 224 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-455-40625-2

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