Ach so schön ist Prisma
Die neue Ausgabe der kostenlosen Literaturzeitschrift aus Göttingen also! Mit separaten Teilen für Lyrik und Prosa. Zuerst: die Lyrik.
Friss was immer dir geschieht
Sprich nicht wenn
Du küssen willst
Jonis Hartmann dreht direkt auf: „Metaphysik“ heißt das erste Gedicht; es enthält kleine Ratschläge und ist insgesamt ein kleiner Radschlag, ein schnelles Überschlagen der Existenz. Im zweiten Gedicht liegt die Bühne dann auf Kuba. Leicht kalauerartig kommt man sich hier vor, begleitet man doch „Hanna in Havanna“. Aber – wieso taucht hier plötzlich der römische Komödienverfasser Terenz auf? Soll das ein Witz sein? Vielleicht ist es kein Zufall, dass beide Gedichte mit einem leichten Antiklimax enden … Aber egal, ob eine nörgelnde Hanna unter Kubas Bannern, oder die Klärung der Kussfrage im Mittelpunkt stehen – bei Jonis Hartmann geht es immer leicht gegen den Strich gebürstet zu, amüsant und hintersinnig.
deinem vater ging es nicht gut
öfter konnten wir uns nicht sehen
ich habe geweint, ein bisschen
Präzise an der Grenze zwischen lapidar und emotional angesiedelt – Steffen Bach ist mit „wir hatten nicht lange“ ein wirklich großartiges Post-Liebesgedicht gelungen, eine nostalgische, aber in keiner Faser gefühlsduselige Bestandsaufnahme, in der sich ganz fein Sehnsucht und Bedeutung abzeichnen.
Seine new year‘s resolution dagegen, die darauf hinausläuft „as bonker as schlingensief“ zu sein, leuchtet mir wiederum als Gedicht nicht so sehr ein. Da finde ich seinen dritten Text, abgedruckt auf der Rückseite der Prisma, schöner: eine, wiederum lapidare, Schilderung des Bücherversetzens, die mit den Worten endet:
nur böll
will er nicht
Martin Piekar resümiert am Ende seines Poems „An die Phalanx des Widerstands Oder wer Freiheit beschwört hat sie doch nicht mehr alle“:
Wenndealso Freiheit willst
Willste Widerstand
Ich finde ja den Phalanx-Begriff schwierig, weil er in letzter Zeit oft von Bewegungen, die die Festung Europa propagieren, aufgegriffen wird (300 Spartaner verteidigen Europa und so ein Schwachsinn). Aber höchstwahrscheinlich geht es u.a. auch darum, dass diese Verhunzung aufgegriffen und weiter verhunzt, oder neu gedacht wird. Ansonsten beeindruckt mich der Ton des Aufrufs, den das Gedicht unverblümt vor sich herträgt – aber auch die Botschaft: Freiheit entsteht mit dem Widerstand, den man überwinden will, vor dem man sich zum Selbst erklärt.
Sie haben Hühnchen für den Kochtopf in ihren Händen
Nein, nein, ich kann’s mir schon vorstellen, das Hühnchen, verpackt in einem Plastikbeutel und ich trag es herum, tot und kalt. Aber warum ist das ein Gedicht? Bei André Pattens „Hühnchen“ spüre ich eine leichte Widerspenstigkeit in mir, vielleicht weil ich die Motivation hinter dem Text nachvollziehen kann, sogar das Erlebnis zu verstehen glaube, aber dennoch befinde: das ist ein bisschen einfach, zu einfach, auf diesem Ansatz ein Gedicht aufzubauen. Aber was heißt das schon: zu einfach. Heißt ja vielleicht auch: man hat den Nagel auf den Kopf getroffen, das tote Fleisch ans Licht gezerrt.
Und vielleicht ist das ja der Weg:
Nicht robust zu werden
nicht so stark und sicher zu werden
wie möglich (der menschliche Verstand spricht und
rettet sich in Routinen)
sondern durch Zufälle und Traumata zu wachsen
und das zu suchen
auch das
vielleicht sogar vor allem das.
Im ersten Gedicht von Johannes Witek geht mir die fast schon wichtigtuerische Referenz auf Seneca ziemlich auf die Nerven (Seneca = Stoa, ja, is klar); oder, anders gesagt: cool find ich das nicht. Das zweite Gedicht „Vom Nutzen der Lyrik am Straßenasphalt“ ist dafür ein starker, in verschiedene Bewegungsebenen unterteilter Text, der mich stellenweise unerwartet fesselt – und außerdem eine ganz nette Pointe hat.
And when God spoke to you it was only a buttdial.
Ein Gedicht, das schon so beginnt, wo soll das hinführen … Stephen Joseph Wack, der Autor, lebt in Athens, Georgia, und arbeitet als Schreibender und Kellner. Sein Langgedicht „Loneliness and Other Human Endurances (haha, etc.)“ beginnt seine Strophen ausnahmslos mit „And“. Und zieht die Lesenden in einen Strudel aus Resignation, Selbstbeschwichtigung, Verletzung und Zerwühltheit. Und ist irgendwie auch tröstlich, fast versöhnlich. Fast schön. Weil voller halbherzig-großartiger Metaphern.
And life is like handshake with a stranger that goes on far too long. […]
And maybe one day you’ll surrender over to your head.
And now: Prosa.
Ja. Postmodern oder so. Fucked up. Der Autor mit dem schwungvollen Namen CJ von Borrell lässt ein – unter der Last seiner Anwandlungen leicht ächzendes – Feuerwerk hochgehen, während er gleichsam eine Vater-, eine Liebes- und eine Slapstick-Geschichte anreißt, so nebenbei wegerzählt; aber statt wirklich Tiefe zu bringen, jongliert der Text lieber mit Gags, von denen manche ihm absichtlich runterfallen. Eine irrwitzig-spritzige Prosa, ohne Frage, aber nicht unbedingt eine, die über den Gag hinausgehend lesenswert ist; dafür ist dem Text seine Dynamik zu sehr Sinn und Zweck.
Bitte zur Effizienzsteigerung für Nachrichten in Sachen Terror das folgende Formular verwenden. Danke!
Mitunter könnte man ja fast zu der Überzeugung gelangen, dass zumindest Politiker*innen längst vorformulierte Statements verwenden, um auf Terroranschläge zu reagieren; aber das auch zu behaupten, wäre schon sehr zynisch. Trotzdem ist Christian Lange-Hausteins Presseartikel-Schablone – in die das Redaktionsmitglied einer Zeitung oder Zeitschrift nur noch die jeweiligen Rahmendaten eingeben müsste – noch einmal eine Spur zynischer. Da der Text nichts umfasst außer der Schablone (und den freundlichen Hinweis eines ungenannten Redakteurs dahingehend, sie doch bitte auch zu verwenden), wirkt er ein wenig wie eine bloße Geste, eine gut gearbeitete Spitze und könnte, bei aller Liebe zur Satire, durchaus noch eine zusätzliche Ebene vertragen.
Fragen sind verschwunden. Geist wird nicht gebraucht. Verschlungen und verdaut vom Kühlschrank finde ich mich fiebernd auf dem Boden der Tatsachen – Die Unschuld erscheint als schemenhafte Gestalt am Horizont des Küchentischs. Wer hat sie dort verloren?
Der Kühlschrank als Mikrokosmos, als Daseinsmetapher; Milch und Quark, Schimmel und Rattenblut, Gegenwartsbashing und Surrealitätssog – der Text von Christiane Quandt nascht überall ein bisschen, ist dabei weder Fisch noch Fleisch und trotz aller Virtuosität ein bisschen wirr, cool inszeniert als phantastisches Gemetzel und Überlebenskampf. Irgendwie glaubt man, es würde noch um mehr gehen, aber hey, vielleicht muss man akzeptieren, dass die Welt nur dann wundervoll ist, wenn das eigene Klima gerade nicht zusammenbricht.
„In welchem Semester bist du jetzt eigentlich?“, wird man gefragt, aber bevor man antworten kann, dass das kompliziert sei, weil Nebenfach gewechselt und Erasmus und so, hat die, die ihr Studium nicht nur in Regelzeit abgeschlossen sondern auch kürzlich promoviert hat, keine Lust mehr, den Gartenschlauch bloß stumpf nach unten zu halten. Sie reißt ihn hoch und zielt reihum auf die Beieinanderstehenden. Hörspielreifes Gekreische.
Ah, mal wieder eine Story über peinlich-gewöhnliche Familien, die aus besonderem Anlass zusammenkommen; diesmal zu Geburtstagstiefkühltorte bei Hitze auf weißen Plastikstühlen im Garten. Aber, mal im Ernst, dieser Topos funktioniert irgendwie immer und es kristallisieren sich da schnell mal nicht nur Klischees heraus, sondern Bedenklichkeiten, Geläufigkeiten und in wenigen Szenarien kann man so schnell die tragische Trägheit der Wirklichkeit nachweisen. Verena Kesslers Text gehört auf jeden Fall zu meinen Favoriten in diesem Heft.
Ist die Unendlichkeit nicht super? […] Du kannst zählen, bis du alles andere vergessen hast und hast nicht mal die Hälfte geschafft. Du kannst fast überall gewesen sein und warst immer noch so gut wie nirgendwo. Du kannst jemanden genau kennen und trotzdem nichts über ihn wissen. […] Das ist schon ziemlich cool.
Am Ende also noch mal Drama: ein Auszug aus Benjamin Maacks „Ikaria 6“, offenbar eine die Hirnwindungen sprengende Farce irgendwo zwischen 2001: Space Odyssee, Per Anhalter durch die Galaxis und Lautlos im Weltraum. Stilsicher, bei Ambivalenzen und Paradoxons versiert, ansonsten bleibt, solange man nur den Ausschnitt hat, ungewiss, wohin die Reise gehen wird. Aber schön schräg, auf jeden Fall, wie die fünf Astronaut*innen versuchen mit ihrer Umwelt und ihrer Vorstellung von Wirklichkeit wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, während ein sechstes Wesen namens Bostrum alles metaliebevoll kommentiert.
Was die Prosa angeht, habe ich das Gefühl, hat Prisma vielleicht ein bisschen zu sehr auf Drive und Fetzigkeit, auf den Special-Effect-Faktor, gesetzt – in Sachen Narrativ kommt man als Lesende/r nicht so ganz auf seine Kosten. Aber man wird gut unterhalten, keine Frage. Die Lyrik kann mit ein-zwei sehr positiven Überraschungen aufwarten. Prisma 5 – ein feines, kleines Heft; auf wenigen Seiten allerhand Literatur.
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