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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

immer langsamer und langsamer werdend bis zum Stillstand, bis zur Stille, mitten im Satz

Hamburg

Es war einmal und es war und war nicht ein Buch mit dem Titel „Die Auswandernden“, das anfing. Es fing an und als es erst einmal angefangen hatte, hörte es nicht mehr damit auf, anzufangen. Jede neue Seite darin, jeder Satz, jedes Wort: Ein Anfang.

„Die Auswandernden“  von Peter Waterhouse kann man nicht gelesen haben. Es ist ein Buch, das man unmöglich gelesen haben kann. Man kann es nur anfangen zu lesen. Immer weiter und immer wieder. Ich habe angefangen, dieses Buch zu lesen. Ich fange an, es zu lesen. Ich werde anfangen, es zu lesen. Ich möchte anfangen, es zu lesen. Immer weiter und immer wieder. Immer wieder neu. Es ist ein Buch ohne Ende, ohne Enden, aber ein Buch voller Anfänge.

Und vielleicht ist gerade die letzte Seite, der letzte Satz, das letzte Wort darin das alleranfänglichste: „gelegen.“ Es wirft mich, es katapultiert mich zurück an den Anfang. Den Anfang des Buches. Lesend gelange ich mittels des letzten Wortes „gelegen“ zurück an den Anfang, wo etwas nicht gelang, vor langer Zeit. Ich gelange unvermittelt zurück zu einer lange andauernden Betrachtung des Wortes „gelang“:

Gelang. Ich verstehe das Wort nicht. Obwohl Urban geblendet war, gelang es dem Täter nicht. Gelang, bedeutet es lange?

Peter Waterhouse gelang mit „Die Auswandernden“ ein sehr langes Buch, ein Buch von sehr langer Dauer, ein lange andauerndes Buch, das nachhallt. Es hallt schon in sich selbst nach und vorweg, in seinen eigenen Unterbrechungen und Wiederholungen. Es hallt in den Bildern von Nanne Meyer nach und vorweg. Und es hallt in mir nach, seiner Leserin, einer seiner Leserinnen, wie in jedem, der dieses Buch zu lesen anfängt, einem Anfangen ohne Enden. 

Stifters Erzählung erzählte und sie erzählte nicht.

Es war einmal und es war und war nicht ein Buch mit dem Titel „Die Auswandernden“, das anfing.

In einem Gedicht fing immer alles an und vielleicht war das letzte Wort das alleranfänglichste, nämlich der fortgeschrittene und tiefere Anfang.

Peter Waterhouse schreibt über das Leben, die Liebe, die Literatur, den Tod und die Schwellen des Übergangs, die Stellen an denen vom einen zum anderen übergesetzt bzw. übersetzt werden kann.

Der Blick wird von der Literatur ausgehend auf sehr aktuelle Geschehnisse gerichtet. Die Literatur ist zugleich Ausgangspunkt und Rückzugsort, sie ist eine Schwelle, die sowohl betreten, als auch übertreten werden kann. Das Eintauchen in Literatur wird dabei zu einer Möglichkeit, die Absurdität, welche vielen Entwicklungen und aktuellen Geschehnissen innewohnt, besser begreifen zu können.

„Die Auswandernden“ ist ein sehr persönliches Buch. Peter Waterhouse erfindet nichts, er findet. Er findet sehr vieles. Ohne zu suchen. Das Schreiben ist ihm tastendes Begreifen. Leben, schreiben und lesen sind für ihn nicht zu trennen, fließen ineinander über und sind daher auch in seinem Buch eins.  

Es wird nichts erfunden, aber erzählt. Im Erzählen, das kein erfindendes, sondern ein berichtendes Erzählen ist, wird die beinahe schon kafkaesk anmutende Absurdität unserer Gesellschaft als etwas längst nicht mehr Tragbares und Ertragbares greifbar:

In den Bahnhöfen wurden Personen verhaftet. Auf den Straßen wurden Männer und Frauen und Kinder nach ihren Ausweisen gefragt, zumeist diejenigen, die keine Ausweise hatten. Im Reisezug wurde die Frau, neben welcher ich saß, um ihren Ausweis ersucht und dann, nachdem sie den Ausweis den zwei Polizisten gezeigt hatte, noch und noch Papiere und Schriftstücke zu zeigen ersucht, nach jedem Papier und jeder Bescheinigung um ein weiteres und eine weitere, mit dem allerletzten Papier in der Hand fragte der Grenzpolizist die Frau, ob sie noch eines vorzeigen könne, eine Bestätigung, dass die vorhergehende Bestätigung eine rechtmäßige sei.

In „Die Auswandernden“ geht es um Sprache, um das Leben mit und in Sprache. Es geht um das Erlernen einer fremden Sprache, den neuen Blick auf die eigene Sprache durch die Fremdsprache und um die einem in der Betrachtung immer fremder werdende eigene Sprache:

Gab es Messer aus Papier? Aus Buchstaben: Abschiebung, Ausweisung, Abweisung, die bloße Ausweisung aus dem Bundesgebiet, die gänzliche Abweisung und die konsumierte Ausweisung und die Durchsetzbarkeit der Ausweisung, die Ausweisung auf Vorrat, die unverzügliche Ausweisung, die Duldung, die Gebietsbeschränkung und Durchbeförderung, die Überwachung der Ausreise, die Verpflichtung zur Ausreise, das Aufenthaltsverbot, die aufenthaltsbeendende Maßnahme, das Ersatzdokument, das Heimreisezertifikat?

Was ist das für eine Sprache? Es scheint eine Sprache zu sein, die man nicht verstehen kann, die man gar nicht verstehen möchte, auf die es keine Antworten gibt, der nur eine Sprache gewachsen ist, die Sprache der Literatur, eine eigene Sprache, die ganz unabhängig von allen Sprach- und Landesgrenzen ist:

Ich dachte, ich müsste Media etwas schenken, das half, das Land und den Staat und die Luft zu verwandeln in einen Himmelsraum und eine Märchenerzählung, das Land in ein Landesmärchen. Schon am Eingangstor ins Märchenland waren Media und das Kind nicht eingelassen und aufgenommen worden, sondern aufgegriffen, auch das damals kleine Kind aufgegriffen – das Wort aufgegriffen stand geschrieben in dem behördlichen Gesprächsprotokoll, am Anfang des Protokolls, das die Ankunft der beiden Reisenden bezeichnete als ein Aufgegriffenwerden an der Landesgrenze, an einer märchenhaft mitten durch die Landesmitte und mitten durch das Flughafengebiet und Flughafengebäude gezogenen Landesgrenze, zu beiden Seiten dasselbe Land und dazwischen also … und dazwischen also das Dazwischen, die Schwelle, ein Aufgegriffenwerden an der Landesgrenze, an welcher ein Zöllner oder zwei saßen und wachten in einem Pavillon aus Glas.

„Die Auswandernden“ ist ein Buch der vielen. Denn es enthält viele Bücher, da es über viele Bücher nachdenkt, sie in Zitaten mit einbezieht. Ein Zitat, ein Satz, ein einzelnes Wort wird herausgenommen, von allen Seiten aufmerksam betrachtet, untersucht, vielleicht auch übersetzt. In die Worte wird hineingehört und gelauscht, ihnen wird zugehört. Und dann wird auch noch hinter das jeweilige Wort geblickt, durch die dort entstandene Lücke. Peter Waterhouse schreibt weniger als Schreibender, denn als Lesender:

Ich hatte, immer langsamer und langsamer werdend bis zum Stillstand, bis zur Stille, This New Yet Unapproachable America gelesen, immer noch langsamer, bis zum Wort für Wort, bis zum Stehenbleiben des Wanderers mitten im Satz, lesend nicht auf dem Weg zum Ende des Buchs, sondern lesend bis zum Stillstehen und Nichtbegreifen, Stillstand als Flucht und Ausweg – das nächste Wort nicht begreifen, das nächste Wort fern, das nächste Wort wie der Mond, wie der Mond in 40.000 Kilometern Entfernung, schwach leuchtend oder die nächsten Buchstaben wie die Sterne und die Buchseite der Himmel, ein weißer Himmel mit schwarzen Silberlingen.

„Die Auswandernden“ ist ein Buch, aus dem man nichts lernen kann, aber alles verlernen. Ich habe „Die Auswandernden“ gelesen und ich habe sie nicht gelesen. Ich habe sie gelesen, um diese Rezension schreiben zu können. Und ich habe sie nicht gelesen, weil ich sie gelesen habe und im Lesen das Lesen selbst wieder verlernte um erneut lesen lernen zu können.

Im Lesen von Seite zu Seite, von Satz zu Satz, von Wort zu Wort habe ich das Lesen immer mehr verlernt, bis ich schließlich, auf Seite 251 angekommen, vom letzten Wort, dem allerletzten oder dem alleranfänglichsten Wort „gelegen“ zurückkatapultiert wurde an den Anfang. Nicht um erneut zu lesen, was ich bereits gelesen habe, sondern um erstmals nicht zu lesen, was da nicht geschrieben steht. Während ich den Anfang erneut lese, halte ich mich zunächst noch an dem Wort „gelang“ fest um es dann doch loszulassen, indem ich allmählich  anfange, nicht zu lesen. Und im Nichtlesen wird mir klar, dass ich auf Seite 19 gar nicht am Anfang angelangt bin, sondern nur an einem der vielen Anfänge des Buches. Ich blättere zwei Seiten vor und lese in der Zeichnung von Nanne Meyer die Worte:

aber bedeutete Ende
soviel wie Mitte?

Ja und nein. Ja, denn das Ende des Buches, die letzte Seite, das letzte Wort „gelegen“ ist gar nicht das Ende, sondern allerhöchstens die Mitte, da man an diesem Punkt angelangt das Lesen zur Genüge verlernt hat, um damit anfangen zu können, das Buch nicht zu lesen. Von Anfang an. Und nein, denn bedeutete Ende nicht zugleich Anfang? Wohnte nicht jedem Ende auch ein Anfang inne?

Ich blättere weiter vor, vor den Anfang und finde das erste Wort. Das erste Wort in „Die Auswandernden“ lautet: „niemand“. Wer sind die Auswandernden? Niemand? Jemand? Oder nicht vielmehr jedermann, everyone, Evrémonde, every monde, tout le monde, die ganze Welt, alle, wir alle?

Die Zeichnungen von Nanne Meyer antworten den Worten von Peter Waterhouse. Zugleich sind sie aber auch sehr eigenständig und unterbrechen ihn in seiner Rede. Es sind Unterbrechungen, die ganz im Sinne des Schreibenden sind.

Die Erzählung loslassen. Die Fortsetzung: eine Unterbrechung. Lücken entstehen.

Nanne Meyer macht in ihren Zeichnungen, was Peter Waterhouse mit Worten macht: auch ihr gelingt es, die Worte zu verlangen bzw. verlängern, den Raum und die Zeit um sie herum zu dehnen. Die Zeichnungen wiederholen teilweise Worte, die man bereits im Text gelesen hat, nehmen aber auch noch Ungelesenes vorweg. Auch Nanne Meyer liest immer langsamer und langsamer werdend, bis zum Wort für Wort, bis zum Stillstand, bis zur Stille. Auch sie findet ohne zu suchen. Sie findet in den Sätzen von Peter Waterhouse nicht nur Worte, sondern Gedichte, sehr kurze Gedichte, die so kurz sind, dass sie schon wieder zu lang für das Leben sind:

Und Media sagte, dass es keine kurzen Gedichte gebe, die kurzen würden lang und länger im wiederholten Lesen. […] Ein kurzes Gedicht sei ungefähr so lang wie das Leben. Deswegen gebe es sie und deswegen würden sie wahrscheinlich geschrieben. Ein kurzes Gedicht sei zu lang für das Leben.

Schließen möchte ich mit den Worten aus dem letzten Bild von Nanne Meyer, welches vielleicht gerade deswegen das alleranfänglichste sein könnte:

Die Erzählung und die
Auswanderung
fingen an und holten Atem

 

Erstveröffentlicht in: wespennest 172 · be-, ent-, ver- fremden · Andrea Roedig (Hg.) · Andrea Zederbauer (Hg.) · erschienen am 08.05.2017

Peter Waterhouse · Manfred Rothenberger (Hg.)
Die Auswandernden
Zeichnungen: Nanne Meyer. Gestaltung: Timo Reger
starfruit publications
2016 · 256 Seiten mit 58 doppelseitigen Farbabbildungen · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-922895-28-2

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