Kolumne

Naht heißt neuerdings Nähe

Überlegungen anlässlich der sozialen Skulptur DAS KLEID, die nach Berlin jetzt auch in Bielefeld verwirklicht wurde.

Elisabeth Masés soziale Skulptur mit interkultureller Werkstatt, bei der acht aus Kriegsgebieten geflüchtete Frauen und acht Frauen aus Bielefeld an drei Wochenenden ein Kleid aus Maler-Leinwand mit einem roten Faden mit ihren Wünschen, Träumen und  Vorstellungen bestickt haben, ist eine Geschichte von Fäden knüpfen, Fäden ziehen, Netze spinnen und rote Fäden sticken.

Foto: Elisabeth Masé

Es geht darum, Fäden aufzunehmen und zusammen zu ziehen. Kunst offenbart sich hier als besondere Art von Kommunikation. Laut Louise Bourgeois ist die Nadel „[…] ein Arbeitsinstrument, ein therapeutisches Gerät, ein Mittel für die Heilung von Schuld und ein Werkzeug für das Handwerk.“1

Vom roten Faden zur Grenzziehung

Hat man die Chance einmal einer Werkstatt beiwohnen zu können, wird sehr schnell deutlich, wie umfassend diese Annahme von Louise Bourgeois in Elisabeth Masés Projekt umgesetzt wird. Aber da ist noch mehr. Sei es die Art, wie die Frauen, äußerlich vereinigt durch das rote Kleid, das sie während der Arbeit tragen, oder der stille Stolz, wenn sie in den fertig bestickten Kleidern fotografiert werden, es drängt sich eine zentrale Frage auf; die Frage nach den Grenzen.

Wo engen Grenzen ein und wann sind sie notwendig, um Räume (Rahmen und Ränder) zu schaffen, über die man hinausgehen kann, geschützte Räume, in denen sich überhaupt erst etwas entfalten kann? Und wo engen Grenzen einfach nur ein? Kann ein Netz Grenzen haben? Was passiert mit den Grenzen, wenn man Netze spinnt, zusammen arbeitet?

Es gibt diejenigen Grenzen, die trennen, in ich und die anderen, in richtig und falsch, gut und böse, innen und außen. Und die, wenn sie überwunden werden, nicht alles gleich machen, sondern den Blick öffnen für die Unterschiede, für die Vielfalt von kulturellen Ansichten, Lebensstrategien und Glaubensrichtungen. Nicht schlechter oder besser, nur anders.

Was ist eine Grenze? Ein Riss? Eine Mauer? Etwas, das abhält, schützt, bewahrt, oder etwas, das Entfaltung erst möglich macht? Der rote Faden, oder der weiße Stoff? Was ist der Gegenbegriff zur Grenze, das Pendant, das alles vollständig macht? Grenzenlosigkeit? Oder ein Raum voller Frauen, ein weißes Kleid und ein roter Faden?

Sieht man sich die tagespolitische Agenda an, ist überall die Rede davon, Grenzen dicht zu machen, immer mehr Menschen und Staaten besinnen sich auf den Nationalstaat, weg von der schönen europäischen Gemeinschaftsidee, angeblich zur Beruhigung der Bevölkerung, die sich vor der Freiheit anderer, vormals unterdrückter Menschen, zu fürchten scheint.

Wie halten wir das aus?

Was können wir tun, damit die Dämme nicht reißen?

Auf diese Fragen ist DAS KLEID eine richtungsweisende Antwort. Indem  hier ein geschützter Raum geschaffen wird, der ein einander kennen lernen ermöglicht, ein Raum, in dem aktiv, durch Handwerk die Möglichkeit hergestellt wird, dem Gegeneinander, den Grenzen, eine Gemeinschaft, etwas Gemeinsames, entgegen zu setzten.

Foto: Elisabeth Masé Hier werden Netze geknüpft, und andererseits Gewebe aufgelöst, scheinbar Feststehendes, Unabänderliches löst sich auf, wird gestaltet, verändert. Auf einmal ist es nicht Konkurrenz, die allerorts in den Medien suggerierte Notwendigkeit, einander auszustechen, sondern die Erfahrung, gemeinsam etwas schaffen zu können, was keine einzelne der Frauen hätte leisten können. Auch insofern setzt DAS KLEID ein bedeutsames Gegengewicht zum herrschenden Zeitgeist. Keine Frau sticht hier die andere aus, es geht vielmehr darum, gemeinsam zu gestalten. Das Ausholen des Fadens, das Durchstechen und Durchdringen, das Zusammenfügen, Hinzufügen und Verändern hat durchaus weitreichende symbolische Kraft. Dabei ist das Kleid als Urbild für den Schutz des Körpers aber auch für den Anfang der Differenzierung, sehr klug gewählt. Der rote Faden durchsticht den Stoff, aber auch unser Land, das kann schmerzhaft sein und zu Veränderungen führen, vor denen viele die Augen schließen möchten, es bietet aber ebenso die Möglichkeit etwas einmalig schönes zu schaffen. Verändern wird sich unser Land, auf welche Weise, das liegt nicht zuletzt an uns selbst.

DAS KLEID als breit angelegtes interdisziplinäres Projekt, neben der Werkstatt und dem entstehenden Kleid, gehören Ölgemälde als Quelle des ganzen Projektes dazu, sowie ein Film, der musikalisch begleitet wird. Jedes dieser Details ist interdisziplinär, offen, grenzüberschreitend. Schafft auf diese Art einen geschützten Raum, allerdings niemals um sich einzuschließen, zu verbergen und in Sicherheit zu bringen, sondern vielmehr um sich öffnen zu können, einander kennen zu lernen, um so den Horizont zu erweitern.

Das Faszinierende an diesem Projekt ist die Tatsache, wie es sich öffnet, füllen lässt und mit jeder Öffnung gewinnt; Farbe, Tiefe, Verständnis und Schönheit.

  • 1. Paul Herkendorf, zitiert nach Ulf Küster, Louise Bourgeois, Hatje Cantz, 3. Auflage, 2013

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